Ukrainekrieg: Der gute Partisan und der böse Soldat. Der gute Soldat und der böse Partisan

Diese Woche bekam ich eine Karte zugeschickt. Sie stammt von der Tucholsky-Gesellschaft. Sicher erinnern Sie sich an die jahrelange gerichtliche Auseinandersetzung zu Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder“.

Auf der Rückseite las ich: „… Vor Jahren erworben in Rheinsberg. Heute wäre sie vielleicht verboten. Irgendwie passt sie in die Geschichts-Klitterungs-Mélange, die uns derzeit serviert wird...“

 

Ich lese den Spiegel-Artikel vom 16. Juli: „Darum muss Wladimir Putin die ukrainischen Partisanen fürchten“. Ich lese ihn mit „klammheimliche Freude“. Ich vergesse für einen Moment, dass Wladimir Putin die Partisanen weit weniger zu fürchten hat, als die einfachen Soldaten, die im besetzten Gebiet Wache schieben. Was kann ihm schon passieren? Vielleicht muss er auf seine strategischen Ziele verzichten. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Lebensabend in einer seiner wunderhübschen Residenzen verbringen kann und nicht dem Internationen. Strafgerichtshof in Den Haag zugeführt wird, ist deutlich größer, als dass russische Besatzungssoldaten ohne Schaden an Körper und Seele in ihre Heimat zurückkehren werden.

Solche Reduzierungen auf die eine Person „Putin“ lassen einen die Realität vergessen. Vielleicht ist das – manchmal wenigstens – auch so beabsichtigt. Aber dies ist kein mittelalterlicher Zweikampf zwischen Putin und Selensky.

 

Lassen wir uns zu johlenden Fans in der Rechtskurve des Stadions machen?

Über einen Partisan wird in dem Spiegel-Artikel berichtet:

„Mit einer kleinen Gruppe von Freunden und 10.000 Dollar aus eigener Tasche legte er los. Zunächst sammelte die Einheit Informationen über den Feind. ‚Wir haben den russischen Soldaten Bier und Zigaretten gebracht, uns für ihren Schutz bedankt, sie dabei ausgekundschaftet‘, sagt er. Die ersten Waffen bekamen sie ausgerechnet von den Besatzern ausgehändigt, für ihre vermeintliche Loyalität. Weitere Waffen kauften sie von korrupten Separatisten. Die Gruppe attackierte Militärlager und einzelne Soldaten, die gerade in der Kneipe oder der Sauna waren. Sie sprengte Schienen in die Luft, Sendemasten, Stromleitungen und mehrmals eine durch das Gebiet verlaufende Gas-Pipeline.

Ein anderer erzählt:» ‚Meinen größten Erfolg hatte ich im März‘, erzählt Max in einem Telefonat per Zoom. Damals habe er eine russische Militärkolonne mit Lastwagen, Truppentransportern, Tanklastern und Raketenwerfern, über 40 Fahrzeugen, entdeckt und die Informationen an ‚E-Enemy‘ weitergegeben: ‚Ich lag versteckt im Gras und sah, wie Granaten auf die Fahrzeuge fielen. Erst war ich voller Euphorie, dann bekam ich Angst.‘«

 Das Gefühl, das sich beim Lesen einstellt (ja, auch bei mir!), erinnert an das lustvolle Rauskicken einer Spielfigur bei „Mensch, ärger dich nicht“.

Im Forum ist die Stimmungslage eindeutig: „Der Feind“ verliert sein menschliches Antlitz. Er wird zum Monster, zur Ratte, zur Bestie…

Da heißt es zum Beispiel: „Sehr gut, wenn die Aggressoren durch eine zweite Front hinter der Front schachmatt gesetzt werden. Ich hoffe, es ist jetzt freundlich genug formuliert.“ Der Beitrag erhält 48 Zustimmungen und keine negative Bewertung.  „Mögen sie alle erfolgreich sein und mögen alle russischen Besatzer ihre Wut zu spüren bekommen.“ (49 mal Zustimmung, einmal Ablehnung). 

„Schachmatt“, „erfolgreich“, „Wut“ – es lohnt, einen Augenblick innezuhalten und sich klarzumachen: was heißt das konkret?

Der Äußerung „Hoffe, dass die Partisanen Aktionen keine Angriffe auf Zivilisten auslösen. Aber ich denke, dieses Risiko wird halt eingegangen“ dagegen wird mit lediglich 2 positiven Antworten und 14 Downloads bewertet. Obwohl ja nicht von „Feinden“ die Rede ist, sondern von „Zivilisten“ (die ja aller Wahrscheinlichkeit nach UkrainerInnen sind). Aber auf solche Kleinigkeiten darf man Zeiten wie diesen keine Rücksicht nehmen.
Irgendwer fragte listig, warum man die palästinensischen Attentäter in Israel nicht Partisanen nenne…
Tja, warum wohl?

 

Die lange Geschichte: Wo gehobelt wird, da fliegen Späne

Dem „Hau-drauf“- Impuls kann man sich so schwer entziehen.

Mir fällt dazu eine Geschichte aus dem 13. Jahrhundert ein. Der Papst ruft zum Kreuzzug gegen abtrünnige Christen auf, nämlich die Katharer in Südfrankreich. In einer Stadt werden 20.000 Menschen umgebracht – ob sie Ketzer oder Rechtgläubige sind, macht keinen Unterschied. Die Anweisung aus Rom ist „Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen!“

Differenzierungen machen die Sache nur unnötig kompliziert! Wenn man sich an Quisquilien aufhält, bleibt man auf der Strecke… Auch dieser Satz ist nicht ganz falsch!

 

Mensch oder Feind – Mensch und Feind

Ich denke an Stunden in der Therapie, wo ich oft Patientinnen beizubringen suchte, dass ihr Mitgefühl mit dem Täter (sei es der missbrauchende Onkel, der gewalttätige Vater, die bösartige Mutter, die ja alle auch ihre eigene, meist sehr leidvolle Geschichte haben) fehl am Platz sei.
Das ist nämlich das Erstaunliche: den Tätern/Täterinnen, die einem persönlich etwas angetan haben, wird häufig vom Opfer Verständnis entgegengebracht, ja sie werden – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – entschuldigt. Grund: das Opfer weiß oder ahnt um deren eigene, oft leidvolle Geschichte. Dieses Wissen erschwert es, den Täter nur als Feind zu sehen. Er bleibt Mensch.
Mich macht es oft sehr zornig, weil die Parteinahme der Opfer für sich selbst dabei manchmal zu kurz kommt. Und die ist lebensnotwendig!

Ich argumentiere dann so: „Es ist etwas anderes, wenn ich in meinem Therapeutensessel einen Täter mir gegenüber sitzen habe. Dann kann, dann muss ich um Verständnis bemüht sein, auch Mitgefühl haben. Aber wenn ich zum Beispiel einem Vergewaltiger gegenüberstehe, dann hilft nur der entschlossene Griff zum Küchenmesser – und zustechen.“

Ich glaube, so zu denken ist nicht verkehrt. Das Recht zur Selbstverteidigung ist auch das Recht, den anderen im Extremfall darauf zu reduzieren, dass er „Feind“ ist.

Aber wenn es sich nicht um einen Angreifer, einen Feind handelt, sondern um „die Russen“? Vielleicht, nein sicher ist unter den russischen Soldaten einer, der in seiner Freizeit komponiert, Gedichte schreibt, zu Hause Erste-Hilfe-Kurse gibt… und jetzt fallen die Granaten auf sein Fahrzeug…

Es ist fast unmöglich, in diesen Zeiten beidem gerecht zu werden: der kämpferischen Solidarität mit denen, die sich ihr Recht behaupten wollen, und gleichzeitig die Erinnerung zu behalten: mein Feind ist nicht weniger Mensch als ich.

… Es ist fast unmöglich – aber was ist die Alternative zum „Trotzdem! Wir müssen es versuchen – immer wieder!“?

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