Meine Mutter – einige Facetten

In gewisser Weise hatte es schon Tradition: Bereits bei der Abschiedsfeier für unseren Vater am 30.5.2013 hatte ich die Eingangsworte gesprochen und meine Schwester die Schlussrede gehalten. So hielten wir es auch dieses Mal und diese Rollenverteilung ist sicher nicht die schlechteste: Ich sorgte mit meiner etwas pastoralen Art (ob mir mein Vater hier wohl etwas mitgegeben hat?) für eine nachdenkliche Einstimmung; meine Schwester mir ihrer persönlich-emotionalen und doch sehr humorvollen Weise für einen zuversichtlichen Ausklang. Auch wenn wir es vorgehabt hatten: Wir haben uns bezüglich der Inhalte unserer Ansprachen nicht abgesprochen. Ich wollte es zwar, schon alleine um meiner Schwester unangenehme Momente während der Feier zu ersparen, wenn sie feststellen würde, dass ich Teile ihres Inhalts bereits vorwegnähme. Doch die Zeit reichte einfach nicht. Wir hatten beide den ganzen Herbst über so viel tun gehabt; meine Rede wurde erst zwei Tage vor der Feier fertig (wenngleich ich sie schon im August begonnen hatte). Meiner Schwester ging es sicherlich ähnlich. Aber das kleine Kunststück gelang: Unsere Beiträge berührten sich, ergänzten sich, aber überschnitten sich nicht. Geschwisterliche Intuition möglicherweise. Vielleicht liegt es aber auch an der Tatsache, dass es über unsere Mutter so viel zu berichten gibt, dass eine Doppelung zwar möglich, aber doch sehr unwahrscheinlich ist.

Bevor meine Schwester das Podium betrat, musizierten dort Thomas Strauß, Anne Schmidt-Heinrich, Melanie Klett und Michael Klett gemeinsam: Den wunderschönen zweiten Satz aus dem Doppelkonzert von Johann Sebastian Bach. Lange waren wir zu fünft auf der Suche nach einem passenden Stück gewesen, bis Michael plötzlich diese geniale Idee kam. Vielen Dank – für die Idee und für die berührende Darbietung.

Hannah Neumann: Meine Mutter – einige Facetten

Bevor meine Mutter starb, meinte sie, sie wünsche sich auch von mir ein paar Worte bei ihrer Gedenkfeier. Dabei hatte sie zwei Anliegen:
1. Sie wollte, dass es nicht traurig sei – ich solle etwas Lustiges erzählen.
2. War es ihr wichtig, auf ihre Haarfarbe einzugehen: „Auf jeden Fall möchte ich“, sagte sie, „dass gesagt wird, dass ich meine Haare nie gefärbt habe! Das ist alles Natur.“

Das kann ich bezeugen und diesem Wunsch, das öffentlich klarzustellen, komme ich gerne nach – ich kann versichern, dass sie ihre Haare nie gefärbt hat.
Das mit dem „lustig“ hingegen ist so eine Sache. Das liegt aber nicht daran, dass es nichts Lustiges zu erzählen gäbe – sondern es liegt vielmehr am Setting – ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber für eine lustige Rede sind Sie vielleicht nicht das geeignetste Publikum. Wenn ich Sie wenigstens einmal zum Lächeln bringe, dann finde ich, soll sich meine Mutter zufriedengeben.

Als ich überlegte, was mir denn wichtig ist, über meine Mutter zu sagen, fielen mir natürlich vor allem die letzten Wochen ein. Während ich, recht schwanger, mich durch die Tage schleppte und außer kochen und essen wenig Brauchbares auf die Reihe bekam, arbeitete meine Mutter diszipliniert eine lange To-do-Liste ab: Sie kündigte Abos, regelte die Praxisübergabe, überarbeitete das Testament – was mich und meinen Bruder stets veranlasste, ihr zu zeigen, wer das liebere Kind sei – und vor allem beantwortete sie bis zum Schluss fast jeden Brief und jede E-Mail. Sie war, wie ich fand, sehr diszipliniert.
Als ich mich nun hinsetzte, um an dieser Rede zu schreiben, kam mir diese Disziplin als erstes in den Sinn. Und natürlich fragte ich mich, wozu sie gut war. Denn – das wurde mir klar – diese Disziplin diente in den seltensten Fällen dazu, dass sich meine Mutter einen eigenen Vorteil verschaffte. Es ging ihr weder darum, beruflich erfolgreicher zu sein oder mehr Geld zu besitzen (jeder der sie kannte, weiß, wie großzügig sie war), sondern es war die Disziplin ein guter Mensch zu sein.

Das fing schon morgens an, wenn sie fast bis zum Schluss – immer mühsamer – die Treppe hinabstieg, um die Vögel zu füttern. Sie behauptete zwar stets, die Bewegung täte ihr gut, aber es war ihr vor allem wichtig, dass die Vögel versorgt waren. Etwas im Widerspruch dazu steht, dass sie dann die Treppe hochging und die Katze fütterte – wenn dies nicht schon Gerda erledigt hatte. Entschuldigend kann man anmerken, dass jeder der die Katze kennt, weiß: Der Vogel, der von ihr gefangen wird, muss bereits tot sein.

Diszipliniert war sie auch bei der Arbeit: Bis einen Monat vor ihrem Tod führte sie ihre Praxis fort. Es ist offensichtlich, dass sie das nicht des Geldes wegen tat, ihr war klar, dass sie die Auszahlung wohl nicht mehr erleben würde, sondern, weil es ihr ein Anliegen war, die Menschen, die zu ihr kamen, noch möglichst lange zu begleiten. Sie tat es gerne. Die Nöte und Sorgen ihrer Patient*innen waren ihr, trotz ihres eigenen nahen Todes, stets wichtig. Sie sprach nie über ihre Patientinnen, aber ich hatte an keinem Tag das Gefühl, dass sie deren Probleme weniger ernst nahm. Im Gegenteil: Sie wollte vielmehr so lange wie möglich und so gut wie möglich für sie da sein.
Ich möchte hier nicht von ihrem letzten Tag sprechen, aber auch hier zeichnete sie sich durch besondere Disziplin aus – nicht um besonders „gut“ zu sterben, sondern um es uns, ihren Kindern und Schwiegerkindern und ihrem Enkel so leicht wie möglich zu machen.

Aber auch in anderen Bereichen war sie diszipliniert. So aß sie gewissenhaft jedes Stück Schokolade, dass sich ihr in den Weg legte. Auch vermied sie gewissenhaft jegliche Art von Hausarbeit – bis aufs Kochen. Ich kenne niemanden außer meiner Mutter, der wirklich nicht in der Lage ist, einen Knopf anzunähen.

Neben der Disziplin war sicherlich Treue eine große Stärke von ihr. Jede*r, der sich einmal ihre Zuneigung gesichert hatte, konnte sich auf sie verlassen. Das gleiche galt allerdings auch andersherum. Personen, die bei ihr in Ungnade fielen, hatten es nicht leicht.
Ich möchte hier ein kurzes Erlebnis erzählen, dass ich mit meiner Mutter hatte, das einige ihrer Eigenschaften für mich gut charakterisiert: Kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers war ich mit ihr in Straßbourg in einem großen Einkaufszentrum – Les Halles. Nachdem wir zuerst Lebensmittel gekauft hatten – unter anderem Fisch – und diese im Auto in der Tiefgarage verstaut hatten, gingen wir noch durch andere Geschäfte, als plötzlich überall die Alarmanlagen losgingen und die Gitter der Geschäfte runterfuhren. Es roch nach Rauch und die Menschen strömten, recht verstört, zu den Ausgängen. Es war die Zeit, in der man sich der realen Möglichkeit terroristischer Anschläge im Westen bewusst wurde und dementsprechend eine Grundnervosität vorherrschte. Ich werde nie vergessen, wie sich meine Mutter einen Weg durch die Menschen bahnte, zügig, aber nicht kopflos, und wie ich, damals schon erwachsen, hinter ihr herlief. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, eine Löwin vor mir zu haben, die ihr Junges aus der Gefahrenzone bringt. Ich wusste, egal was in diesem Einkaufzentrum gerade vor sich ging, sie bringt uns hier raus. Ich wusste auch, dass ich mich weniger fürchten musste, als eine Person, die sich uns in den Weg stellen sollte. Meine Mutter war in der privilegierten Lage mit Blicken töten zu können. Als wir aus dem Gebäude kamen, war draußen alles voller Polizei und Militärwägen. Wir wussten immer noch nicht was los war. Meine Mutter, die die ganze Zeit kein Wort sagte, führte uns in eine ruhige Nebenstraße. Dort schienen wir außer Gefahr zu sein. Ich war immer noch unruhig, aber vor allem froh, aus dem Einkaufszentrum zu sein. Ich sah, dass meine Mutter auch besorgt war. Aber, wie ich merkte, wegen anderer Dinge als ich. Das Erste, was meine Mutter sagte, war: „Verdammt, das Auto ist noch drin!“. Ich erwiderte, dass das ja zur Not versichert wäre. Worauf sie mir ihre eigentliche Sorge mitteilte: „Ja, das Auto schon … aber der Fisch nicht!“
Dieses Erlebnis zeigt ihren bewundernswerten Pragmatismus. Aber auch ihren Mut. Einmal bekam ich mit, wie meine Mutter meinte: Mut ist Angst und ein Schritt. Ich denke, dass sie in der Einkaufshalle sicher auch zumindest ein klein wenig Angst hatte. Aber sie sorgte dafür, dass wir unbeschadet rauskamen. In ihrem Leben gab es sicherlich viele Situationen die Angst machten. Aber wenn sie von einer Sache überzeugt war, dann haderte sie nicht, sondern tat, was ihrer Meinung nach zu tun war – nicht angstfrei, aber mutig.

Die Situation in Straßburg verdeutlicht aber auch ihre Liebe und Wertschätzung Essen gegenüber. Diese äußerte sich auch, wenn ich und mein Bruder zu Hause in Bottenau waren: Die Frage nach dem Essen war von zentraler Bedeutung. Wenn ich heimkam, hatte sie immer Käse aus Straßbourg, Kuchen und vieles mehr besorgt – und wenn sie uns in Köln besuchte, musste ich für die nächsten Wochen nicht einkaufen gehen – vielmehr hatte ich Probleme, das, was sie alles angeschleppt hatte, unterzubringen. Als ich noch in Bern arbeitete, brachte sie oft für das ganze Institut Erdbeeren oder Kirschen mit – was bei den Kolleg*innen zu der Vermutung führte, sie hätte einen Bauernhof. Stets war sie um das leibliche Wohl ihrer Mitmenschen besorgt.

Aber auch um das seelische.

Meine Mutter meinte immer wieder, dass wir nicht traurig sein sollen, wenn sie gestorben ist. Und so sehr wir auch versuchen, den Wünschen meiner Mutter nachzukommen – hier muss ich passen und ich denke, vielen von Ihnen geht es ähnlich. Beim Tod meines Vaters meinte ich schon, dass auch wenn der Tod absehbar ist, man von der Trauer überwältigt wird. Auf sie kann man sich nicht wirklich vorbereiten. Und immer hat man das Gefühl, dass man doch nicht alles, was es zu sagen gab, gesagt hat.

Aber man kann lernen damit umzugehen – und das trauernde Gedenken in etwas Positives verwandeln. Ein wenig möchten wir das heute auch versuchen: Wie ich anfangs erwähnte, waren Vögel meiner Mutter sehr wichtig – und auch das Essen. Darum haben wir draußen kleine Tüten mit Vogelfutter bereitgestellt. Wir würden uns freuen, wenn Sie ein oder zwei Tütchen mitnehmen – und wenn sie mögen, wäre es schön, wenn sie irgendwann dieses Futter an Vögel verfüttern und dabei an unsere Mutter denken. Meine Mutter hätte sich sehr darüber gefreut. Und da wir schon beim Thema Essen sind: Wir würden uns sehr freuen, Sie im Anschluss noch bei uns zuhause zu Kaffee und Kuchen begrüßen zu dürfen.

Nun möchte ich mich noch bei Ihnen für Ihr Kommen und auch für Ihre Anteilnahme bedanken. Jedes freundliche Wort, jede Geste ist von uns dankbar aufgenommen worden und hat uns sehr geholfen. Uns hat es sehr berührt zu sehen, wie sehr unsere Mutter geschätzt wurde.

Sie hat auf jeden Fall das Leben sehr geschätzt – ihr eigenes und das der anderen. In diesem Sinne möchten wir nun auch diese Gedenkfeier mit ein wenig fröhlichere Musik, die meine Mutter mochte, beenden.

Dankeschön.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen