Draußen wird es allmählich dunkel. Der Baum steht gerade und ist geschmückt. Er sieht dieses Jahr nicht ganz so üppig aus wie in anderen Jahren als die Zweige von der einen Wand bis zur anderen reichten und wir ihn kaum in die Wohnung gebracht hatten. Die Schuld des Baumes ist es nicht: Er war ursprünglich viel breiter – aber auch höher. Im Gegensatz zu all den Vorjahren hatten wir „Kinder“ uns im November, als wir ihn in der Schonung ausgesucht hatten, ganz offensichtlich vermessen. Oder der Baum ist während der letzten anderthalb Monate noch einmal um neunzig Zentimeter gewachsen. Auch das ist möglich. Jedenfalls mussten wir ihn kurzfristig um die untersten beiden Kränze erleichtern. Was für ein Jammer! Aber er sieht immer noch recht stattlich aus. Die Krippe hat dieses Jahr neues Moos bekommen, frisch gepflückt am Heiligen Abend, weil keiner sich mehr daran erinnert hatte, dass das bisherige Moos nach Jahren zuverlässiger Dekoarbeit letzten Winter entsorgt worden war. In der Küche scheppert es gerade, es werden letzten Handgriffe angelegt, der Tisch wird gedeckt, letzte Geschenke werden verpackt. Gleich jedoch wird es ruhiger und besinnlicher: Zeit zurückzublicken.
Als meine Mutter den nachfolgenden Bericht geschrieben hatte sie höchstens eine wage Ahnung; als er am 9. Dezember 2021 in der Mittelbadischen Presse veröffentlicht wurde, stand die Diagnose ALS schon im Raum. Die Gewissheit folgte wenige Tage danach: Viele Weihnachten würden meiner Mutter nicht mehr bleiben. Dass ihr fünfunsiebzigstes auch gleichzeitig ihr letztes sein würde, hätten wir aber sicher nicht erwartet.
Zeit also um zurückzublicken – und meiner Mutter noch einmal das Wort zu erteilen…
Mein fünfundsiebzigstes Weihnachtsfest
Ich werde wieder die Krippe vom Speicher holen. Es ist die Krippe meiner Kindheit. Ein paar Figuren, ein paar Schafe gingen im Lauf der Zeit kaputt; das Dach des Stalls wurde vor ein paar Jahren mit neuem Stroh gedeckt.
Damals… kleine Erinnerungen. Die Weihnachtspäckchen in die „Ostzone“ waren längst zur Post gebracht. Sie enthielten Kaffee, Margarine, Zigarren, Nylonstrümpfe und auch die Süßigkeiten, auf die ich in der Adventszeit verzichtet hatte. Am Nachmittag des Heiligabends der Gang auf den Friedhof. Mochte ich nicht, aber ich war brav, wer weiß, sonst kommt das Christkind nicht. Danach gab es Kartoffelsalat mit Würstchen. Jedes Jahr.
Das Glöckchen
Das Wohnzimmer war abgeschlossen. Geheimnisvollerweise durften die Eltern dem Christkind behilflich sein. Keine Ahnung, wann sich dieses Rätsel für mich löste. Die Oma las vor, um meine Aufregung ein bisschen zu dämpfen. Schließlich: Das Glöckchen! Das Christkind war weg, der Christbaum strahlte, selbstverständlich mit echten Kerzen. Das habe ich bis zum heutigen Tag beibehalten. „Früher war mehr Lametta“ heißt es bei Loriot. Wohl wahr! Gibt es heute überhaupt noch Lametta?
Vor dem Geschenkeauspacken (auch damals das Wichtigste!) kamen die Pflichtrituale: Das Weihnachtsgedicht, die Weihnachtslieder, zunächst von meiner Mutter auf dem Klavier begleitet (das einzige Mal im ganzen Jahr, dass sie Klavier spielte), später war ich dazu verdonnert, mit ihr vierhändig zu spielen (weil nämlich ein Mädchen, das Klavier spielen kann, höhere Heiratschancen hat. Echt.) Dann endlich…
Keine Sorge, ich fange jetzt nicht mit der Nummer an, die bei Herrschaften meines Alters so beliebt ist: „Wir damals waren noch über ein einziges Geschenk glücklich. Wir konnten uns noch wirklich freuen, anders als die Kinder heute.“ Gerade so, als sei es unser moralisches Verdienst, dass damals das Geld knapp war.
Spielzeit begrenzt…
Bei mir sammelte sich mit den Jahren eine Puppenküche, ein Puppenschlaf- und ein Puppenwohnzimmer an. Marke Eigenbau von irgendwelchen Onkels. Damit durfte ich bis Dreikönig spielen. Dann kamen sie wieder weg. Vom Eltern-Standpunkt praktisch: Jedes Jahr neue Weihnachtsfreude ohne Mehrkosten.
Als ich ein paar Jahre älter war, gingen wir alle in die Mitternachtsmette. Leute, Ihr macht Euch keine Vorstellungen, wie man damals gefroren hat! Die Kirche war selbstverständlich ungeheizt. Innentemperatur gleich Außentemperatur. Die Schuhe waren aus dünnem Leder und garantiert nicht dicht. Weiß heute noch jemand, was Frostbeulen sind? Die Gemeinde bibberte bis zum erlösenden „Ite, missa est“ vor sich hin – und das konnte dauern, denn damals galt für Predigten die Devise „viel bringt viel“. Immerhin: damit war die Pflicht zum Gottesdienstbesuch am ersten Weihnachtsfeiertag erledigt und ich genoss es, bis zum frühen Morgen in den neuen Büchern zu schmökern und zu wissen: ich darf schlafen, so lange ich will.
Es ist nicht wahr, dass früher an Weihnachten immer Schnee lag. Oder doch? Direkt an den Feiertagen durfte man allerdings noch nicht zum Ski- oder Schlittenfahren raus. Das gehörte sich nicht. Man hatte vielmehr diversen Tanten zu zeigen, was man alles geschenkt bekommen hatte und tröstete sich mit Brötle. Aber nach den Feiertagen gab es kein Halten mehr. Und zwar stieg man in ganz normalen Winterschuhen (wie gesagt: garantiert nicht dicht) auf die Skier und schnallte irgendwie die Skibindung fest. Anorak, Pumphose und Rock drüber (ein Mädchen geht nicht in Hosen). Wenn man unten angekommen war, kletterte man wieder hoch. Skianzug? Skilift? Was ist das?
Irgendwann später klärte ich meine Mutter auf, dass Jesus garantiert nicht am 25.12. auf die Welt gekommen sei, Weihnachten hätte man erst Jahrhunderte später auf den Tag der Wintersonnenwende gelegt, an dem schon die Römer den „Sol invictus“ gefeiert hätten… Meine Mutter schüttelte den Kopf ob solch neumodischer Ansichten.
Fünfundsiebzig Weihnachten in Frieden
Ich hänge meinen Gedanken nach. Ganz bestimmt sage ich nicht, dass es früher besser war. Manches vielleicht, anderes war schlechter. Ich hänge meinen Gedanken nach und bleibe an einem hängen:
„…Und Friede den Menschen auf Erden…“ Ich habe 75 Weihnachten im Frieden gelebt. Was für ein Geschenk! Wie sehr wünsche ich meinen Kindern, meinem Enkel und überhaupt allen, dass sie das auch erleben!