Ukraine Krieg: einfache Antworten sind falsche Antworten

Die Wahrheitsbesitzer

Es ist mal wieder die Zeit derer, die ganz genau wissen, was wahr und was richtig ist und zwar schon immer  und für alle Zukunft. Sie bedienen unsere Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Eindeutigkeit ist – so sagt man wohl heute – unterkomplex. Die Realität, besser gesagt: die Realitäten sind mehrdeutig. Und diese Mehrdeutigkeit muss jemand aushalten, um für sich das Prädikat „realistisch“ zu verdienen.

Man kann es natürlich auch so machen (und ich habe den Eindruck, das sind nicht wenige), wie es jenes Hegel-Zitat nahelegt, das allem Anschein nach noch nicht mal von ihm stammt (auch, es ist schon ein Graus!) „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“

„Das hätten wir euch gleich sagen können!“

Zum einen denke ich da an die Klugscheißer (mir fällt kein zutreffenderer Begriff ein), die jetzt rückblickend wissen: die Russen waren schon immer so, unsere PolitikerInnen waren blauäugig, sie haben Putin geradezu eingeladen usw..

Ja, sicher: vermutlich wurden Warnsignale übersehen, möglicherweise war „man“ im Westen zu gutmütig, zu gutgläubig. Das ist im Grunde ein alltägliches Problem, das wir in der einen oder anderen Form alle kennen. Zum Beispiel: ein Nachbar randaliert öfter in seiner Wohnung, dann pinkelt er noch in Ihren Garten und Sie haben den Verdacht, die kleine Beule an Ihrem Auto geht auch auf sein Konto. Sie haben die Wahl von „da mach ich jetzt mal nichts, der beruhigt sich auch wieder, ging ja jahrelang passabel“ bis „Da muss sofort ein Riegel vorgeschoben werden: Polizei einschalten, mit Rechtsanwalt drohen…“

Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie die Gabe der Prophetie besitzen und unfehlbar wissen, was dazu tun ist. Egal wie Sie sich entscheiden: im Nachhinein gibt es immer welche, die Ihnen sagen „genauso war es richtig, alles andere wäre ein Fehler gewesen“ oder „das war total verkehrt, das hättest du dir doch gleich denken können“. Dummerweise: anders als im Film kann man dieselbe Szene nicht zweimal drehen. Und deshalb kosten solche Aussagen nichts, weil wir niemals wissen werden, welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn wir anders entschieden hätten.

Jetzt mal Butter bei die Fisch: War die Entspannungspolitik ein Fehler?

Heribert Prantl möge mir verzeihen, wenn ich aus seiner Kolumne vom 23. April   „Was wäre, wenn…?“ ein bisschen ausführlicher zitiere und damit gerade an den Grenzen des Urheberrechts vorbeischramme:

„Was wäre gewesen, wenn der SPD-Kanzler Willy Brandt und seine sozialliberale Regierung am 27. April 1972 gestürzt worden wären? Wenn also der damals von Rainer Barzel geführten CDU/CSU bei der Abstimmung über ihr konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt und seine neue Ostpolitik nicht überraschend zwei Stimmen gefehlt hätten? […]Dann wären womöglich die von Brandt unterzeichneten Ostverträge, dann wären der Moskauer und der Warschauer Vertrag vor 50 Jahren bei der Schlussabstimmung im Bundestag gescheitert. Dann hätte es die Passierscheinabkommen, die Verkehrsverträge, die Transitvereinbarungen, dann hätte es den Grundlagenvertrag von 1973 mit der DDR nicht gegeben oder jedenfalls nicht so schnell, nicht die 75 Treffen zwischen dem DDR-Diplomaten Michael Kohl und dem BRD-Diplomaten Egon Bahr, bei denen deutsch-deutsche Erleichterungen, nämlich Besuchs- und Reisemöglichkeiten vereinbart und so erste kleine Löcher in den Eisernen Vorhang gebohrt wurden. Die deutsche Zweistaatlichkeit wäre nicht de facto und die Oder-Neiße-Grenze nicht de jure anerkannt worden. Feindbilder wären nicht abgebaut, die Politik der vorsichtigen Versöhnung und des Wandels durch Annäherung wäre beendet oder jedenfalls gestoppt worden.[…] Ist es das, was sich heutige Gegner einer Entspannungspolitik im Rückblick wünschen? Wäre es besser gewesen, die Annäherung durch Abschreckung zu ersetzen? Wäre es besser gewesen, auf den Gewaltverzicht zu verzichten? […] War es falsch, dass der erste große internationale Schritt der Regierung Brandt die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages war? Hätte man stattdessen Franz Josef Strauß folgen sollen, der die nukleare Abrüstung und den Verzicht auf die Atombombe schärfstens kritisierte und von „einem neuen Versailles, und zwar einem von kosmischen Ausmaßen“ sprach? Ist heute, angesichts des Angriffskrieges von Putin gegen die Ukraine, Aufrüstung als solche schon wieder ein Konzept?

In der FAZ stellt Patrick Welter am 18.4.22 etwas verwundert fest:

„Das Argument ist in aller Munde. Unsere Käufe von russischem Erdgas und russischer Kohle finanzieren den Krieg von Wladimir Putin in der Ukraine. Binnen weniger Kriegswochen ist das eine schnelle Wende in der deutschen Diskussion. Einst galt der Handel mit Russland als Vorbote des Friedens, jetzt soll er Gehilfe des Krieges (gewesen) sein.“

Und er beharrt darauf, es sei keine „liberale Mär“: „Wer miteinander handelt, schießt nicht aufeinander“. Gut, es ist keine „liberale Mär“, aber es ist auch keineswegs die absolute ein für alle Mal unumstößliche Wahrheit.  Vielmehr: wir können Gründe und Belege finden, der diesen Satz plausibel macht. Aber auch hier gilt: über eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit dieses Satzes kommen wir nicht hinaus. Und umgekehrt gibt es sicher Belege dafür dass sich dieser Satz auch schon als falsch erwiesen hat.

Heinz von Foerster prägte den Satz: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. (Es ist sogar der Titel eines lesenswerten Buches von 2006: Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker)

 

Was soll „der Westen“ tun: Ein wenig rationale Entscheidungshilfe  bei aufgewühlte Emotionalität

Etwas Ordnung in das (verständliche) emotionale Durcheinander, wenn es um den Ukraine-Krieg geht, bringt meiner Meinung nach der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, der zunächst mal drei Ziele „des Westens“ in der derzeitigen Situation auflistet.

  1. Einen offenen Krieg mit Russland verhindern, der den dritten Weltkrieg bedeuten könnte

  2. Der Ukraine helfen, sich zu verteidigen und als Staat zu behaupten

  3. Russland einen Preis für sein Verhalten vor Augen führen

Er macht klar, dass aus seiner Sicht diese drei Ziele nicht gleichrangig nebeneinanderstehen, dass priorisiert werden muss.  Und da ist wohl die Entscheidung, dass wir dem ersten Ziel, der Vermeidung des Krieges mit Russland, den höchsten Wert einräumen.“ Man könne das „schmutzige Realpolitik“ nennen – aber was wäre die Alternative?

Es ist nicht verwunderlich, dass die „Bild“-Zeitung unter der Schlagzeile „Über diese deutschen Experten freut sich Putin“ dagegen schäumt und sich in die Brust wirft: „Bild entlarvt die falschen Freunde der Ukraine!“ (zitiert nach Deutschlandfunk)

Lassen wir mal dahingestellt welches die richtigen Freunde der Ukraine sind, es muss aber schon die Frage gestellt werden, was aus Sicht der Ukraine wünschenswert erscheint. Und da scheint mir durchaus plausibel, was Kurt Kister in seinem Kommentar   „Gefühle am Anschlag“ schreibt (Dabei bezieht er sich auf den Aufsatz von HabermasKrieg und Empörung vom“ 28.4.22, in dem dieser die „zaudernde“ Politik von Scholz  unterstützt)

Im Interesse der Ukraine liegt es, wenn der Westen durch möglichst umfangreiche Waffenlieferungen einem Kriegseintritt näher rückt. Dies nämlich würde die militärische Schlagkraft der Ukraine so weit erhöhen, dass aus vielen kleineren Siegen auf den Schlachtfeldern ein größerer Sieg, also mindestens ein Rückzug der Invasionsarmee, werden könnte.“  Das ist nicht ehrenrührig, es ist sehr verständlich, aber es ist unser gutes Recht (vielleicht sogar mehr als das) das wir uns nicht instrumentalisieren lassen. Unsere Empörung über Putins Aggression, unser Mitgefühl mit den UkrainerInnen und der Wunsch ihnen zu helfen, ist das eine. Aber weder ist sicher, dass das momentan aus ukrainischer Sicht Wünschenswerte auch langfristig im wohlverstandenen Interesse der Ukraine ist und es ist erst recht nicht sicher, ob unsere berechtigten Interessen dieselben sind. Ich unterdrücke hier die Frage nach den Interessen der USA so klar und eindeutig scheint mir nicht, dass dort nur uneigennützige Gutmenschen Politik machen. Auch das will bedacht sein.

Vom Ende her denken: „Nach dem vorletzten Schritt folgt der letzte“

„Vom Ende her denken“ ist in dieser hochemotionalen Situation schwierig. Aber es bleibt notwendig.

Kister schreibt. „Nach dem vorletzten Schritt folgt, das nur nochmal zur Erinnerung, der letzte“   Man kann sicher darüber debattieren, wie die verschiedenen Stufen einer Kriegsbeteiligung aussehen, ob sie bereits jetzt vorliegt oder erst, wenn eine russische Rakete in einem Depot mit amerikanischen Geschützen an der polnisch-ukrainischen Grenze einschlägt. Eines allerdings ist sicher: Nach dem vorletzten Schritt gibt es nur noch einen letzten Schritt. Der besteht entweder im Einlenken Russlands und einem vollständigen Rückzug (solange Putin an der Macht ist, ist das nicht so wahrscheinlich). Oder im dritten Weltkrieg.“

Die meisten von uns werden erleben, wie es ausgegangen ist.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen