Schulschließungen: ‚Tschuldigung, war ja nur so eine Idee…

Aktuelle Stimmen zu Schulschließungen

In der Ärztezeitung (nur mit login einsehbar) wurde gestern gemeldet:

Leopoldina: Schulen offen halten, Bewegung fördern

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina spricht sich in einer am Montag veröffentlichten Stellungnahme für den Präsenzbetrieb in Schulen und für unterstützende Bildungsangebote aus. Manche Vorschläge fallen theorielastig aus. Für nahezu alle Kita-Kinder und Schulkinder sei der Präsenzbetrieb „die effektivste Art des Lernens“, heißt es in der Stellungnahme „Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie: psychosoziale und edukative Herausforderungen und Chancen… Die Leopoldina-Autoren verweisen für die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen auf jüngste Befragungen im Rahmen der COPSY-Studie (Corona und Psyche) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Der Vergleich der Befragung im Mai/Juni 2020 mit einer Nachbefragung zum Jahreswechsel 2020/2021 weise auf eine Zunahme wahrgenommener Belastungen hin, etwa in Form vermehrter depressiver Symptome.“

Die Leopoldina hat sich in den vergangenen Monaten nicht hervorgetan mit Vorschlägen für einen… nun sagen wir mal …. moderaten Umgang mit Corona-Maßnahmen.

Am selben Tag titelte der Spiegel

Neue Bildungsstudie Distanzunterricht gerade mal so effektiv wie Sommerferien“

„Ein denkbar schlechtes Zeugnis stellt eine neue Studie dem Distanzunterricht während der Coronakrise aus. Forscher der Frankfurter Goethe-Universität hatten sich dafür Daten aus aller Welt angesehen – mit ernüchterndem Ergebnis: Sie fanden in den Studien, die sich überwiegend auf den Distanzunterricht im Jahr 2020 beziehen, kaum Hinweise auf Lerneffekte durch den Distanzunterricht.»Die durchschnittliche Kompetenzentwicklung während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 ist als Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbußen zu bezeichnen«, erklärte Andreas Frey, an der Goethe-Universität Professor für Pädagogische Psychologie und einer der Autoren der Studie. Der Erfolg des Distanzunterrichts »liegt damit im Bereich der Effekte von Sommerferien«…“.

Das würde ich jetzt nicht ganz so stehenlassen wollen, denn es ist auch ein Schlag ins Gesicht jener engagierten Eltern und jener engagagierten Lehrer und Lehrerinnen (es gab weiß Gott gerade unter den bezahlten „ErzieherInnen“ genug mit unterirdischem Engagement). Aber das Fazit der Studie ist bedenkenswert. Vor allem auch in Hinblick auf die Zunahme der Schere zwischen arm und reich, sozial gut gestellten und nicht gut gestellten Elternhäusern:

„…Dabei zeigte sich: Besonders große Kompetenzeinbußen waren bei Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch schwachen Elternhäusern und bei jüngeren Schülerinnen und Schülern zu beobachten. »Hiermit sind die bisherigen Vermutungen durch empirische Evidenz belegt: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich während der ersten coronabedingten Schulschließungen noch weiter geöffnet«, sagte Frey.“

 

Blick zurück im Zorn – Wie kam es zu den Schulschließungen? 

Jetzt will ich erinnern – und ich tue es mit Zorn:

„Der Drosten-Schwenk und seine Folgen“

Genau heute vor einem Jahr, am 22.6.20 berichtete ich entsetzt  über einen Spiegel-BerichtDer Drosten-Schwenk und seine Folgen“ , wie es angeblich zu den Schulschließungen kam, die zuvor kaum jemand gewollt hätte:

Ich zitiere aus meiner damaligen Kolumne:

Bis zum 11.3.20 war der Chefvirologe Drosten eher gegen Schulschließungen „das bringt nicht so viel“. Dann hätte er am selben Tag einen dreizehn Jahre alten Artikel gelesen: „Es handelt sich um eine Auswertung von Daten über die Spanische Grippe von 1918 bis 1919 in 43 amerikanischen Städten, erschienen im ‚Journal of the American Medical Association‘.“

Und jetzt halten Sie sich fest: Von Stund an war Herr Prof. Dr. Drosten anderer Meinung. Ein einziger Artikel! (angeblich, so behauptet der Spiegel, schränke ich ein…)…. Und jetzt nimmt der Chefvirologe Drosten einen (!) Artikel über die verheerende Spanische Grippe 1918/19 (by the way: sie traf auf ein durch Krieg zerstörtes, hungerndes Europa… vor 101 Jahren, wie es in den USA war, weiß ich nicht, ich gebe es zu) zum Anlass, einen Meinungsschwenk zu vollziehen. So stelle ich mir seriöse Wissenschaft vor!

 Aber was dann kommt, erscheint mir noch schlimmer (immer unter der Voraussetzung, der SPIEGEL hat sich das nicht aus den Fingern gesaugt). Tags darauf (also am 12.3.) passierte Folgendes in der Runde von Kanzleramt/MinisterpräsidentInnnen: „Dort trug Drosten seine neue Erkenntnis vor, mit der Empfehlung, schnell zu handeln. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) fragte: ‚Herr Drosten, Sie haben gestern noch gegen Schulschließungen argumentiert.‘ Drosten bejahte und erläuterte, was ihm die Kollegin aus den USA zugesandt hatte.

‚Ich war baff‘, sagt einer der Ministerpräsidenten heute, ‚der Hauptakteur gegen Schulschließungen war plötzlich anderer Meinung.‘ Die Argumentation all derer, die Bedenken hatten gegen einen Shutdown der Schulen, sei plötzlich hinfällig gewesen.“

 Und jetzt passierte (immer noch: vorausgesetzt der SPIEGEL fantasiert sich nicht etwas zusammen) etwas, was einfach unglaublich ist.

Es sei im Kreis derer, die uns regieren „eine Dynamik entstanden, so berichten Teilnehmer, die nicht mehr aufzuhalten gewesen sei. ‚Plötzlich mussten sich nicht mehr diejenigen rechtfertigen, die schließen wollten, sondern die, die dagegen waren‘, so schildert es ein Teilnehmer.“

Ja sind wir denn hier im Hühnerstall? Sind wir hier unter lauter Duckmäusern? Unter Opportunisten, die vor irgendeiner dahergelaufenen „Dynamik“ kuschen.

 

Am 25. Oktober schrieb ich nochmals ausführlich zu dieser Frage: Drostens Bekehrung am 11.3.20: 

Schulschließungen. Deren Begründung, die Folgen und drohende Zukunftaussichten.

Ich fürchte, wir waren/wir sind nicht allzu weit weg von der Satire von Sascha Lobo vom 14.10.20 im Spiegel „Hurra, die neuen Corona-Maßnahmen sind da“.

In seinem Podcast erwähnt Christian Drosten in einem Nebensatz eine mittlerweile zurückgezogene Unterstufen-Hausarbeit (Bio LK) von 1987. Darin stelle Lisa (13) die laut Drosten durchaus plausible These auf, dass Türklinken und Wasserhähne zu den wichtigsten Virenübertragungsorten zählen. Das Kanzleramt verbietet noch in der Nacht Wasserhähne, Türklinken und durch einen Übermittlungsfehler zunächst auch Hausarbeiten.“

Aber ich zitierte im Oktober 2020 nicht nur Satire, sondern auch seriöse Artikel. Zum Beispiel den des Bildungshistorikers Sahlfeld :

„Als Bildungshistoriker war ich diesen Frühling entsetzt, mit welcher Leichtfertigkeit in fast allen Ländern der Welt (mit der löblichen Ausnahme Schwedens) [Hervorhebung U.N.] zur flächendeckenden Schliessung der Schulen gegriffen wurde, einer Massnahme, die in der Schulgeschichte der letzten 200 Jahre (!) noch nie Anwendung gefunden hatte. Die UNESCO hat das Phänomen in seiner Enormität über eine Web-Anwendung eindrücklich dokumentiert (link).

….Immer wieder wird bei der Diskussion über Covid-19 und die nicht pharmazeutischen Eindämmungsmassnahmen die Spanische Grippe bemüht. In der Tat ist diese Thematik, besonders in den Vereinigten Staaten, hervorragend studiert (www.influenzaarchive.org)…..

  Angst als Motor politischen Handelns

.….Warum also sind 2020 weltweit ganze Bildungssysteme praktisch über Nacht verriegelt worden? …..Eine politikwissenschaftliche Studie aus Schweden und der Schweiz (Sebhatu et al, 2020) zur Corona-Politik der OECD-Staaten ergab Erstaunliches: Die Lockdown-Entscheide korrelierten am besten mit politisch-kommunikativen Faktoren und zeigten keine Korrelation mit epidemiologischen Daten, Auslastung des Gesundheitssystems oder politischer Stabilität. Der wichtigste politisch-kommunikative Faktor, insbesondere in gut funktionierenden Demokratien, war der bereits in den Nachbarstaaten getroffene Entscheid. [Hervorhebung U.N.] Anders ausgedrückt: Während 1918 (und auch 1957) die Heterogenität lokaler Situationen zu unterschiedlichen lokalen Strategien führte, setzte sich 2020 eine Art “Corona-Mainstream” durch. Es wurde in extrem unterschiedlichen Kontexten Massnahmen ergriffen, die vom Zeitpunkt und der Art der Durchführung auffallend ähnlich waren. Aus Angst vor selbständiger Entscheidungsfindung (und Verantwortung) übten sich die meisten Regierungen  in der Nachahmung. Diese Dynamik hat auch bei den Schulschliessungen eine  Rolle gespielt.“

Die Infektionszahlen steigen rasant – müssen bald auch wieder Schulen schließen? Eine Umfrage unter Kinderärzten kommt jedenfalls zu einer klaren Empfehlung.

Kitas und Schulen zuzusperren dürfe nur das letzte Mittel bei der Pandemiebekämpfung sein, lautet eine Lehre der Corona-Krise. Keine Weisheit, die sich gleich jedem aufdrängte, schon gar nicht der im März vom Virus überrumpelten Politik. Es ist vielmehr die bittere Einsicht in die Folgen wochen- und monatelanger Schließungen…. Dass die harten Maßnahmen in der ersten Welle Kindern mehr schadeten, als sie der ganzen Gesellschaft nützten, hat man erst sukzessive gelernt.

Jetzt rollt die zweite Welle, und eine Umfrage unter Kinderärzten, durchgeführt im Juni und Juli im Auftrag der Krankenkasse Pronova BKK, erinnert an die erste: 80 Prozent bemängeln, dass das Kindeswohl bei den Einschränkungen sowie den Lockerungen zu wenig beachtet worden sei. 90 Prozent gehen von einer hohen Dunkelziffer an häuslicher Gewalt gegen Kinder aus. Und ebenfalls neun von zehn Ärztinnen und Ärzten sprechen sich gegen eine abermalige Schließung von Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen aus. Zwei Drittel plädieren dafür, den Betrieb mit Hygieneauflagen eingeschränkt aufrechtzuerhalten, ein Drittel lehnt sogar jegliche Einschränkung ab.“

Man hat nicht auf sie gehört.

Und wie weiter?

Ich stehe nicht allein mit meiner Skepsis, ob den warnenden Stimmen – wie die der Leopoldina – bei einer „neuen Welle“ Gehör geschenkt wird. Die Tagesschau vom 22.6. 21 berichtet:

Kinderschutzbund warnt „Kinder werden erneut Corona-Verlierer sein“

 

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