Mönchsgrasmücke, Hans Sahl, Bertolt Brecht und Fragen der Moral

Die Mönchsgrasmücken sind gekommen! (Für ornithologisch nicht so Informierte: Das ist ein kleiner Zugvogel, Männchen mit schwarzem Köpfchen, die Weibchen mit braunem.) Sie nisten jedes Jahr vor dem Fenster, an dem ich jetzt sitze. Nachdem ich am 2.April die ersten zwei Schwalben gesehen habe, und mir ein bisschen bang wurde, weil es dann noch mal richtig kalt wurde, bin ich jetzt sicher: Es ist Frühling.

Ich lese immer noch Hans Sahl „Memoiren eines Moralisten. Exil im Exil“ und freue mich an der Lektüre. Obwohl es darin nun wirklich nicht um Erfreuliches geht. Aber abgesehen von dem sehr angenehmen Stil, in dem er schreibt und den unglaublich vielen Informationen über die unglaublich vielen Berühmtheiten, die ihm begegneten, mit denen er bekannt, befreundet war. Das, was für mich so erfreulich ist, ist seine Gradlinigkeit. Die Unabhängigkeit seines Denkens, abhängig nur von dem, was für ihn moralisch war.

An einer Stelle – vor seinem Bruch mit dem Kommunismus… da komme ich noch drauf, weil das auch so eine beispielhaft mutige, klare Entscheidung war – schrieb er über einen Theaterbesuch (S.200-202) : „Gestern abend ‚Die Maßnahme‘ von Brecht gesehen. Ein faszinierendes und zugleich auch ein erschreckendes Stück … Vier Genossen…kehren von einer gemeinsamen Mission aus China zurück und müssen sich vor der Parteileitung (Kontrollchor) verantworten. Sie haben unterwegs einen Genossen umgebracht, weil er, wie sie sagen, durch sein Mitgefühl für die Unterdrückten den Auftrag, den sie auszuführen hatten und somit sie selber gefährdete…..‘Wir sind einverstanden mit euch‘, singt der Kontrollchor… Und eben das ist das Erschreckende an diesem sonst so faszinierenden Stück: daß hier, im Namen einer menschlicher zu machenden Gesellschaft, das Unmenschliche, nämlich der politische Mord, aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit gerechtfertigt wird, die totale Auslöschung des Individuums im Interesse der Weltrevolution. Wurde uns bisher nicht immer von den Vertretern eben jener Weltanschauung versichert, daß es ihnen, im Gegensatz zu bestehenden Ordnung oder Unordnung, nicht um die Vernichtung des Individuums gehe, sondern um seine Selbstverwirklichung? Wen will man mit diesem Abschreckungsstück für den Kommunismus gewinnen? Bestimmt nicht jene, die sich von ihm eine gerechtere, eine humanere Gesellschaft versprechen…“ Sahl leugnet nicht, dass … naja sagen wir mal, dass dort wo gehobelt wird, Späne fallen müssen. ABER: „…einen Ausnahmezustand, der beklagenswert ist und der nach Möglichkeit vermieden werden sollte, zu verherrlichen und zur Doktrin zu erheben“, das ist etwas fundamental anderes.

Es tut einfach gut, dass es solche innerlich unabhängigen Menschen gab, gibt und geben wird. Die andern gibt es grad zuhauf. Vorhin las ich einen Artikel aus dem Spiegel, wie sich Abgeordnete der Konservativen als Verräter beschimpfen und bedrohen lassen müssen, weil sie Kompromisse suchen. Jede Kompromissbereitschaft, jede Abweichung ist ein todeswürdiges Verbrechen. Die Brückenbauer müssen sich fürchten.

Semper et ubique idem.

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