„Aber um unsere Not kümmert sich niemand“- gilt das auch für „unsere“ Kinder?
Der Satz der japanischen Frau, den ich im ersten Teil zitierte – galt und gilt er hierzulande nicht ähnlich für „unsere“ Kinder? Die Aufmerksamkeit war über Monate auf „unsere“ Alten gerichtet – teilweise war die „Fürsorge“ schlecht getarnte Bevormundung. Aber die Kinder und die Jugendlichen? Sie schienen keine Rolle zu spielen.
Henrike Rossbach schreibt in der Süddeutschen vom 28.5.21 „Was Kinder wert sind“ „KinderärztInnen und Psychologen“ hätten es „in eineinhalb Jahren Pandemiebekämpfung nie geschafft…, von der Kanzlerin ähnlich ernst genommen zu werden wie Epidemiologen, Virologen und Mathematiker“. Dem wird niemand widersprechen wollen! Aber statt mit dem Finger auf Frau Merkel zu zeigen, wäre es angebrachter, wenn sich die meisten Medienleute an die eigene Brust klopfen und in Sack und Asche gehen würden. Bei ihnen war es fast durch die Bank keinen Deut anders! Das empört mich – und dieses Versagen der sogenannten „Vierten Gewalt“ werde ich nicht vergessen.
Es gab schon vor einem Jahr Warnungen von kompetenter Seite (beispielsweise zitiert im April 2020 in meinem Blog: und ebenfalls im April oder im Spiegelinterview vom Juli 2020). Schon im April 2020 meldete die „Nummer gegen Kummer“ einen deutlichen Anstieg der Anrufe von Eltern und Kinder in Notsitiuationen: „Bereits im März 2020 wurde ein deutlicher Anstieg an den Telefonen und in der Online-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ verzeichnet. So fanden beim Elterntelefon 22% mehr Beratungen statt als im Vormonat. Bei der Chat-Beratung für Kinder und Jugendliche lag der Anstieg an Anfragen bei 26%.“
Das Problem „Dunkelziffer durch Lockdown“
Ein Problem während des Lockdowns war: Wenn alle zuhause sein müssen, man nicht raus kann, ist ein vertrauliches Telefonat nur schwer möglich. Das bedeutete, dass es schwieriger und gefährlicher wurde für Kinder (und Frauen), sich Hilfe zu holen, wenn Gewalt im Spiel war. Das heißt: es gibt eine Dunkelziffer: Bedrohte, misshandelte Jugendliche und Kinder konnten gar nicht anrufen.
Irgendwo las ich von einer listigen Möglichkeit: Es wurden Internetadressen eingerichtet, in denen misshandelte Frauen eine scheinbar harmlose Bestellung von Kosmetika oder so aufgeben konnten, tatsächlich war die Adresse aber eine Hilfsorganisation, die dadurch einen Notruf erhielt.
Das mit der Dunkelziffer ist ein Problem: geschlossene Schulen und Kindergärten, keine Veranstaltungen von Vereinen, teilweise geschlossene Spielplätze bedeuten in der Konsequenz, dass Misshandlungen im Verborgenen bleiben.
In der sehr gründlichen Recherche von Birgit Jentsch und Brigitte Schmock „Kinder im Blick? Kindeswohl in Zeiten von Corona“ liest man nicht nur, dass es schon sehr früh belastbare Zahlen über eine Zunahme von häuslicher Gewalt aufgrund der Corona-Maßnahmen gab („Zahlen und Indikatoren zum erhöhten Gefährdungsrisiko“, a.a.O.) sondern auch:
„Etwa 40 % der Gefährdungsmitteilungen kommen normalerweise von Schulen, Kitas, Kinderarztpraxen u. a. (Autorengruppe Kinder und Jugendhilfestatistik 2019, S. 139), die mit Corona allerdings geschlossen bzw. wegen Infektionsängsten weniger aufgesucht werden.“
Die Täter und Täterinnen können also ziemlich sicher sein, dass keine Erzieherin, kein Lehrer, keine GruppenleiterInnen usw. aufmerksam werden können. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben umgekehrt kaum eine Chance, auf sich aufmerksam zu machen.
Keine simple Schuldzuweiseung an die TäterInnen! Gewalt ist Folge der Coronamaßnahmen und nicht einfach individuelles moralisches Versagen
Das gesunkene Risiko, entdeckt zu werden, ist aber nur ein Faktor für den Anstieg und zwar – so meine ich – der weniger wichtige. Vielmehr: Lockdown bedeutet für alle mehr Stress. Ungleich mehr aber für diejenigen, die keine Villa mit Garten und ein Arbeitszimmer fürs Homeoffice haben (wobei: man tue nicht so, als gäbe es da keine Gewalt, keinen sexuellen Missbrauch!). Wer auf engstem Raum Tage und Wochen zusammenleben muss, wessen Arbeitsverhältnisse prekär sind, wer die berechtigte Angst hat, sozial und finanziell ins Bodenlose zu fallen – wie geht es denen? Da hat man (fast) nur die Wahl zwischen depressiver Resignation (was auch Folgen für die Kinder hat!) oder man lässt die ohnmächtige Wut an denen aus, die noch ohnmächtiger sind als man selbst.
Ich wage zu behaupten: ziemlich jeder und jede von uns kann zum Ausrasten gebracht werden, wenn ein Kleinkind schreit und schreit und schreit und man nicht ausweichen kann, wenn eine Achtjährige bockig bis zum Anschlag ist, weil sie weder Homeschooling mit den lieblos zusammengestellten pdf-Dateien machen will, noch einsieht, warum die Freundinnen nicht kommen können, wenn ein Vierzehnjähriger nicht dran denkt, das Tablet rauszurücken, mit dem er Stunden zugange war… und zwar nicht zu Bildungszwecken. Also bitteschön: Keine Steine werfen… sondern dankbar sein, wenn man die Kurve grad noch so gekriegt hat.
Zunahme von Gewalt gegen Kinder und Kinderpornografie unter Corona-Maßnahmen
Inzwischen sind die ersten Zahlen da, die belegen, wie berechtigt die Sorgen um eine Zunahme der häuslichen Gewalt – insbesondere gegen Kinder – gewesen sind. Wie gern würde ich sie jenem Forumsteilnehmer unter die Nase reiben, der auf meine Befürchtung über steigende Gewalt durch den Lockdown sinngemäß meinte, wie ich denn auf so einen Schwachsinn käme.
Am 26.5.21 meldete der wdr: „Viele haben davor gewarnt, jetzt ist es Gewissheit: In der Pandemie wurden deutlich mehr Gewalttaten gegen Kinder erfasst. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich sehr hoch.“ Die FAZ schreibt: „Gewalt gegen Kinder hat in Deutschland im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Das geht aus Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurden. Vor allem wurde deutlich mehr Kinderpornographie verbreitet; die Zahl der von der Polizei registrierten Fälle stieg um 53 Prozent. Bei der Misshandlung Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um ein Zehntel im Vergleich zum Vorjahr registriert. Auch wegen sexuellen Missbrauchs ermittelten die Beamten häufiger als noch 2019 – die Zahl stieg um knapp sieben Prozent. 152 Kinder wurden vorsätzlich oder fahrlässig getötet oder starben infolge von Körperverletzung; ein Jahr zuvor waren es 112 Kinder gewesen…“
Die Ausnahme: Vorsichtiger Umgang mit Zahlen im einen Fall – Die Regel: ungebremste Verbreitung ungesicherter Zusammenhänge
Der Präsident des Bundeskriminalamts Münch ist zwar sehr vorsichtig und will keinen direkten Zusammenhang zwischen Pandemie und gestiegenen Fallzahlen herstellen (zumal in die Statistik auch Fälle von 2019 eingehen würden). Aber auch er räumt ein, „dass die Ausnahmesituation infolge der Pandemie bestimmte Taten begünstigt haben könnte. Die überwiegende Zahl der Gewalttaten gegen Kinder finde im häuslichen Umfeld statt. Infolge der Lockdowns seien viele Erwachsene häufiger zu Hause gewesen, hätten auf engem Raum viel Zeit miteinander verbringen müssen, seien oft auch gereizter gewesen… Dazu komme, dass mögliche Unterstützer der Kinder, die sonst auf deren Unversehrtheit achteten, weniger Zugang zu diesen gehabt haben dürften. Kinder und Jugendliche waren also potentiellen Gewalttätern aus ihrem direkten Umfeld stärker ausgeliefert als zuvor.“ [ebda]
Diese Vorsicht des Kriminalers lobe ich mir, das ist ein korrektes Vorgehen: Nicht dem ersten Augenschein trauen – auch wenn es noch so sehr zu den eigenen Hypothesen passt. Allerdings: Wenn in anderen Bereichen ohne jede Zurückhaltung etwas als „wissenschaftlich erwiesen“ und „gesicherte Tatsache“ genannt wird – vom Nutzen nächtlicher Ausgangssperren über Schulschließungen oder Verbot von Museumsbesuchen oder umgekehrt vom „erwiesenen“ Pandemietreiber „Verwandtenbesuch in der Türkei – dann läuft etwas schief. Denn wenn im einen Fall gewissenhaft gesagt wird ‚hm, das müssen wir noch genauer untersuchen‘ – auf der anderen Seite aber Halbgares, Ungeprüftes oder schlicht Falsches rausproletet wird, dann sind wir nahe an dem Satz: „Eine kecke Lüge überzeugt mehr als ein zögerlich vorgetragener Beweis.“
Die im Dunkeln zählt man nicht…
Im März 2020 titelte die bayerische Staatszeitung (also das offizielle Organ der bayerischen Regierung!) „Jugendämter machen Hausbesuche nur noch in absoluter Notlage“ und schrieb, „Routinebesuche werden grundsätzlich auf spätere Termine verschoben oder abgesagt“. Dabei wird aber irgendwie suggeriert, daran wären die Eltern schuld, weil sie „die Gefahr einer Ansteckung als Vorwand nutzen würden, um den Besuch der Mitarbeiter des Jugendamtes zu verhindern“. Ich kann da nur sagen: Eine Regierung, die es fertiggebracht hat, Strafzettel an Leute zu verteilen, die allein auf einer Parkbank saßen, aber vor Eltern kuscht, von denen dem Jugendamt bekannt ist, dass deren Kinder gefährdet sind – Pfui Teufel!
Die im Dunkeln zählt man nicht.