Die im Dunkeln zählt man nicht. Teil I

Suizidwelle unter Japanerinnen und Südkoreanerinnen

Es stand im Spiegel: „3292 Menschen starben in Japan im vergangenen Jahr an und mit Covid-19. Mehr als doppelt so viele Frauen begingen Suizid““.

O ja, das ist eine beeindruckend geringe Zahl an „Coronatoten“ in diesem asiatischen „Vorzeigestaat“ – und ich will mal annehmen, dass die Zählung korrekt ist. Das ist nämlich keineswegs in jedem Land der Fall, auch abgesehen von der Schwierigkeit, dass es stark von der Definition abhängt, was als „Coronatote(r) verbucht wird.

Aber doppelt so viele Selbsttötungen von Frauen wie offizielle „Coronatote“ – Hätten Sie’s gedacht?

 

Worauf unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird

Ich unterstelle niemandem Gleichgültigkeit. Sondern es ist so wie immer: Wir sehen nur das, worauf unsere Aufmerksamkeit gelenkt, ist gelenkt wird:

Vor ein paar Tagen im Zug hörte ich, wie die Schaffnerin einem Fahrgast sagte, sie kenne jemanden, der habe in Italien sieben Verwandte durch Corona verloren. Oder sie kenne jemanden, der jemand kennt, das weiß ich nicht mehr so genau… Die Zahl „sieben“ prägt sich ein, genauso wie wir uns an jeden Bericht über eine heftige Impfreaktion erinnern. Bei Corona. Nicht bei einer Grippeimpfung. Innerlich führen wir Buch: Ich weiß genau, wie viele meiner PatientInnen Corona gehabt haben (im niedrigen einstelligen Bereich übrigens und eher milde verlaufend), aber wenn Sie mich fragen würden „Wie viele Ihrer PatientInnen sind schon mal mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren worden“ wäre meine Antwort: „Keine Ahnung“.

 

Der Zusammenhang zwischen Suizid von Frauen in Asien  und Corona

Zurück zu den Frauen, die sich in Asien 2020 das Leben genommen haben. Das hat nämlich einen Zusammenhang mit Corona (in Asien sprechen sie vom »stillen Massaker«) :

Wirtschaftseinbrüche und andere Katastrophen haben in der Vergangenheit immer wieder bewirkt, dass die Suizidraten in Japan zunehmen. Doch noch nie war der Anstieg so dramatisch wie seit Beginn der Coronakrise, vor allem unter jüngeren Frauen. 2020 lag die Suizidrate unter den 20- bis 29-jährigen Japanerinnen um rund ein Fünftel höher als im Vorjahr, in einigen Monaten verdoppelte sie sich sogar.

Noch dramatischer ist die Entwicklung im Nachbarland. Südkorea führt eine erschreckende Statistik an: In keinem anderen OECD-Staat töten sich mehr Bürger und Bürgerinnen selbst als hier… Im ersten Halbjahr 2020 stieg die Rate bei jungen Südkoreanerinnen um weitere 43 Prozent… In Südkorea töteten sich pro Monat [hervorgehoben U.N] durchschnittlich 1000 Menschen, in etwa so viele, wie im gesamten Jahr [hervorgehoben U.N.] an und mit Covid-19 starben.

Der Spiegel-Artikel versucht eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen der Pandemie und dem pandemischen Anstieg der Suizide. Sie klingt plausibel, auch wenn sicher genauere Untersuchungen notwendig sind:

„In diesen Ländern prallen moderne Volkswirtschaften auf traditionelle, oft erstickende Rollenbilder und Traditionen. So fortschrittlich Japan und Südkorea in Bereichen wie Digitalisierung sind, so konservativ und patriarchalisch sind oft die Werte, die in Firmen und Familien gelten… In keinem anderen Industrieland gibt es so wenige weibliche Führungskräfte und solch große Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern wie in Japan und Südkorea. Nirgends sind die Arbeitsbedingungen für Frauen schlechter.

Als wegen der Pandemie Geschäfte schließen und Firmen Personal einsparen mussten, waren Frauen die Ersten, die ihre Beschäftigung verloren. Rund die Hälfte der Frauen in beiden Ländern arbeitet in nicht regulären Jobs, ihre Arbeit ist häufig zeitlich befristet und schlecht bezahlt. Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus, die viele weibliche Beschäftigte haben, litten besonders unter den Folgen der Coronakrise. Zehntausende Südkoreanerinnen unter dreißig wurden während der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 entlassen. Viele von ihnen leben allein und bangen um ihre Existenz.“

Arbeitsteilung in der Familie ist in Japan und in Südkorea (und vermutlich auch in Taiwan) weitgehend unbekannt. Das heißt: Für Haushalt, Kindererziehung, Betreuung und Pflege der eigenen Eltern und der Eltern des Mannes – dafür sind die Frauen zuständig. Vielen blieb nichts anderes übrig, als die berufliche Tätigkeit aufzugeben. Immerhin: Da gibt es noch einen „Ernährer“. Aber die Nicht-Verheirateten (und das sind nicht wenige) – denen blieb nur Armut (und kein staatliches Sozialsystem mildert das) und Schande.    

Das Fazit einer Japanerin: »Plötzlich konnte ich das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr sehen«, sagt sie. »Wenn so etwas über uns hereinbricht, merken wir Frauen, welche schwache Stellung wir haben. Aber unsere Not kümmert niemanden.«

 

Mein Fazit: Vor der Bewunderung kommt die Gesamtbilanz!

Falls irgendjemand wieder in Versuchung geraten sollte, bewundernd gen Osten zu schauen, wie toll hier die Pandemie bewältigt worden ist, dann möchte ich doch darum bitten, die Gesamtbilanz zu erstellen. Es geht nicht nur (aber auch!) darum, dass die Corona-Maßnahmen in asiatischen Ländern (keineswegs nur in China!) allzu teuer erkauft sind durch einen Verzicht auf Grundrechte, die bei uns trotz allem immer noch selbstverständlich sind. Sondern es muss auch gezählt werden: Mit wie vielen anderen Toten, mit wie viel Leid sind die „guten“ Zahlen bei der Bekämpfung der Pandemie erkauft! „Jedes Leben zählt“… oder so ähnlich heißt es doch. 

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