Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten besorgt über die Lage von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise

Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten e.V.
(VAKJP)
Landesvorstand Baden-Württemberg
Dorothea Wagner (V.i.S.d.P.) – Smaragdweg 1 – 70174 Stuttgart – Tel: 0711-470 79 25


Schutz der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg während der Corona-Pandemie

Der  Landesvorstand der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
e.V. in Baden-Württemberg ist zutiefst besorgt über die Lage der Kinder und Jugendlichen in unserem Land. Gesamtgesellschaftlich ist eine Atmosphäre der Sorge und Angst spürbar, der auch Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind und die vor den Familien keinen Halt macht.

Kinder und Jugendliche sind von denselben Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie
betroffen wie Erwachsene. Doch für ihre Entwicklung haben diese vermutlich weitreichendere
Folgen als für das Wohlbefinden von Erwachsenen. Kinder und Jugendliche benötigen für ihre
geistige, seelische und körperliche Entwicklung bestimmte Rahmenbedingungen, die in der
momentanen Situation nicht mehr gewährleistet sind:
Für ihre gesamte Entwicklung, insbesondere jedoch für die seelische Entwicklung, sind Kinder und Jugendliche auf Spiel und Bewegung angewiesen. Spielen integriert sensorische, motorische und emotionale Erfahrungen und ist vor allem für Kinder die wichtigste Möglichkeit, um (belastende) Erfahrungen zu verarbeiten. Sie können dazu nicht in dem Maß auf kognitive Strategien zurückgreifen wie Erwachsene, weil dies noch nicht ihrem Entwicklungsstand entspricht.

Zum Spielen braucht man jedoch Platz. Durch die Sperrung von Spielplätzen und oft auch Parks müssen Kinder und Jugendliche in den Städten in – häufig kleinen – Wohnungen zurechtkommen, in denen ein ganzheitliches Spiel, wie oben beschrieben, nicht möglich ist.
Stattdessen weichen Kinder und Jugendliche (noch mehr als ohnehin) auf mediale Spielwelten aus, die jedoch nicht im nötigen Ausmaß sensorische und motorische Erfahrungen beinhalten.
Darüber hinaus hat auch die menschliche Seele Strukturen, die sich im Laufe der Kindheit und
Jugend entwickeln.

Diese psychischen Strukturen sind Voraussetzung für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Gefühlen sowie für die Bewältigung aller Anforderungen im Leben. Sie bilden sich durch Regelmäßigkeit, Rhythmus und Verlässlichkeit in Beziehungen, aber auch durch die regelmäßige Abfolge von Ereignissen. Bei sehr kleinen Kindern geschieht dies bei der verlässlichen Pflege und Versorgung durch ihre Bezugspersonen. Bei Kindern und Jugendlichen treten Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit im Tagesablauf im Zusammenspiel mit positiven Beziehungserfahrungen in den Vordergrund.

Insbesondere Schulen und Kindergärten, aber auch Vereine, Freizeit- und Kultureinrichtungen, wie z.B. Musikschulen und Jugendhäuser, bieten alltagsstrukturierende Verlässlichkeit sowie Beziehungen zu außerfamiliären Bezugspersonen und tragen somit zum Aufbau psychischer Strukturen bei. Dies gibt psychischen Halt.

Seit Schließung dieser Einrichtungen klagen viele Kinder und Jugendliche über mangelnde Strukturen („Chaos“) und damit verbundene Gefühle von Orientierungs- und Haltlosigkeit, die mit einer insgesamten psychischen Destabilisierung einhergehen.
Doch nicht nur für die seelische Entwicklung kommt den o.g. Einrichtungen und Vereinen große
Bedeutung zu. Kinder und Jugendliche benötigen die Angebote dieser Einrichtungen für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und nicht zuletzt für ihre geistige und kognitive Entwicklung. Die verschiedenen Arten des Lernens geschehen im sozialen Kontext. Lerninhalte werden durch Bezugspersonen, wie z.B. Lehrer*innen und Erzieher*innen, vermittelt. Diese können nicht durch Lernplattformen ersetzt werden. Zudem klagen jugendliche Patient*innen auch vermehrt über
Kopfschmerzen und eine Zunahme an Konzentrationsstörungen im Zusammenhang mit der
Nutzung von Lernplattformen.


Besonders belastend ist mit Sicherheit der Wegfall von Sozialkontakten außerhalb der Kernfamilie. Zumindest Kinder können nicht in dem Maß auf moderne Kommunikationsmittel zurückgreifen wie Jugendliche und Erwachsene, um ihre Beziehungen aufrecht zu erhalten. Im kindlichen Zeiterleben erscheinen Trennungen darüber hinaus oft länger und die inneren
Vorstellungsbilder der momentan unerreichbaren Personen verblassen schneller. Es ist daher davon auszugehen, dass Kinder nun in stärkerem Maß von Trennungs- und Verlustängsten betroffen sind.

In der momentanen Situation kommt noch erschwerend hinzu, dass Eltern – als die verbliebenen Bezugspersonen – aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie häufig stark belastet sind.
Sie können ihren Kindern so u.U. nicht mehr in ausreichendem Maß als verlässliche Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Kinder und Jugendliche sind jedoch für die Verarbeitung belastender Erfahrungen auf ihre Bezugspersonen angewiesen. Viele Kinder und Jugendliche sind vermutlich aufgrund dessen im Moment seelisch überfordert.
Möglicherweise führen die Enge in den Wohnungen und die Belastungen der Eltern darüber hinaus zu Konflikten. Aller Wahrscheinlichkeit nach eskalieren diese in einigen Familien und Kinder und Jugendliche müssen Gewalt erleiden. In Familien, in denen schon vor der Krise Gewalt ausgeübt wurde, nimmt diese vermutlich noch zu. Kinder und Jugendliche können sich in ihrer Not nun jedoch nur noch eingeschränkt an Bezugspersonen außerhalb der Familie wenden.

Um die allgemeine Situation der Kinder und Jugendlichen zu verbessern und um denjenigen den nötigen Schutz zu geben, die diesen brauchen, sind aus unserer Sicht zwei Maßnahmen dringend geboten:
1. Es müssen – nach Möglichkeit regionale – Netzwerke aufgebaut werden, um für alle Kinder und Jugendlichen in Not Hilfsangebote z.B. in Form von Krisendiensten und -telefonen zu schaffen. Die derzeitigen Angebote sind nicht ausreichend, weil auch Jugendämter und Beratungsstellen ihre Angebote zurückgefahren haben. Wir fordern die Politik dazu auf, die Schaffung solcher Netzwerke zu initiieren und zu koordinieren. Wir als Berufsverband unterstützen dabei gerne mit unseren Ressourcen und unseren beruflichen Fähigkeiten.

2. Kinder und Jugendliche müssen vorrangig bei der Entscheidung über eine Lockerung der Maßnahmen berücksichtigt werden. Das Wohl der Kinder ist nach Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention, die auch Deutschland ratifiziert hat, vorrangig zu berücksichtigen.

Es steht uns nicht zu, über die medizinische Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen zu
entscheiden. Wenn es jedoch zu einer stufenweisen Lockerung kommt, dann müssen v.a.
Kinder und Jugendliche zurück in ihre Schulen, Kindergärten, Freizeit- und Kultureinrichtungen/- vereine dürfen. Zum einen sind sie für ihre geistige, seelische und körperliche Entwicklung auf diese außerfamiliären Erfahrungsräume angewiesen. Zum anderen finden sie bei ihren Bezugspersonen an diesen Orten Unterstützung bei der Verarbeitung von Ängsten und Belastungen. Und nicht zuletzt können insbesondere jüngere Kinder Angebote von Krisendiensten und -telefonen nur eingeschränkt in Anspruch nehmen und benötigen bei Gewalterfahrungen den Schutz realer und nach Möglichkeit vertrauter Personen.


Michael Hoffmann (1. Vorsitzender)
Andreas Weber (2. Vorsitzender)
Dorothea Wagner
Annette Schulz
Denis Conte
Dorothea Groschwitz

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