Rezension Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier
KZG/CCH, 31. Jg., 296–305, ISSN (Printausgabe): 0932-9951, ISSN (online): 2196-808X © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Buchbesprechungen / Book Reviews 303
Ursula Neumann, Der Kirchenrechtsprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mirglücklich und stirbt, BoD (Books on Demand): Norderstedt, 2017, 402 S., ISBN 978-3-7431-5843-6, € 17,80.
Die Folgen der 68er Bewegung im katholischen Milieu
Am laufenden Band erscheinen akademische Abhandlungen über einen gesellschaftlichen Aufbruch, der nunmehr 50 Jahre zurückliegt. Das hier zu besprechende Buch über das katholisch-akademische Milieu Tübingens bietet einen so tiefen Einblick in die endsechziger und siebziger Jahre, wie es der Rezensent – damals Assistent am Lehrstuhl für Kirchenordnung (Prof. Klaus Scholder) der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen – niemals zuvor gelesen hat. An der katholischen
Nachbarfakultät lehrten vier prominente Theologieprofessoren, deren weitere Lebenswege nicht unterschiedlicher hätten sein können und deren Schicksal doch merkwürdig miteinander verflochten war: Joseph Ratzinger (geb. 1927) stieg zum konservativen Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche auf, Walter Kaspar wurde zwar Kardinal dieser Kirche, blieb aber ein kritischer Geist, Hans Küng (geb. 1928) erreichte als innerkirchlicher Ketzer mit seinen „Weltethos“-Phantasien eine riesige Publizität und Johannes Neumann (1929–2013), 1971/72 Rektor der Tübinger Universität und hoch angesehener Kirchenrechtslehrer, wechselte ins Lager der Agnostiker.
Über Neumann und dessen Wandel hat seine Witwe, Ursula Neumann (geb. 1946) ein Buch geschrieben, das in rückhaltloser Offenheit menschliche Tragödien und Verbiegungen darstellt wie sie vor allem durch die reinlichen Fassaden bürgerlich-konfessionellen Wohlverhaltens entstehen konnten. Dass bei aller Geschwätzigkeit über die so genannten 68er Jahre das Manuskript dieses Buches von keinem bekannten Verlag akzeptiert und es – abgesehen von der Giordano-Bruno-Stiftung und der Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie „Aufklärung und Kritik“ – nach seinem Erscheinen hartnäckig beschwiegen wurde, zeigt die bis heute bestehende Hemmung, das Verlogene und Schizophrene jener Zeit offen und konkret beim Namen zu nennen.
Johannes Neumann war nicht nur ein kluger und rhetorisch begabter Wissenschaftler und diplomatischer Verhandlungsführer. Er war auch ein attraktiver Mann und unterhielt – ähnlich wie einige andere Kollegen an der katholisch-theologischen Fakultät – sowohl Dauerbeziehungen als auch eher kürzere Bekanntschaften zu Frauen, obwohl er als geweihter Priester den Zölibat hätte einhalten müssen. Georg Moser, dem Bischof der Diözese Rottenburg, waren diese Verhältnisse ebenso wenig unbekannt wie den Kollegen an der evangelisch-theologischen Fakultät, zumal die Frauen bei einigen gesellschaftlichen Anlässen ebenfalls auftauchten. Aber solange nur hinter vorgehaltener Hand – auch bei ihren protestantischen Kollegen – getuschelt wurde und die Professoren nach außen hin ein eheloses Leben führten, schien alles in bester Ordnung. Im Übrigen hatten die Protestanten in diesen Jahren mit Günter Kehrer (geb. 1939) „ihren“ Fall eines Hochschullehrers, der wegen Unglaubens die Fakultät wechseln wollte.
Johannes Neumann galt zwar als eher konservativer Kirchenrechtslehrer, aber in seiner unmittelbaren Umgebung war wohl bekannt, dass er erhebliche Vorbehalte gegen manche kirchlichen Lehren und auch ernste Glaubenszweifel hegte – Probleme, die in seinen Vorlesungen durchaus zutage traten. Das fiel aber an dieser Fakultät kaum ins Gewicht, da vor allem Hans Küng auf diesem Feld von sich reden machte. Dessen treuester Rechtsberater war Johannes Neumann, der mit seinen Kenntnissen im kanonischen Recht Küng lange Zeit vor größeren Schwierigkeiten bewahrte.
Allerdings denunzierte am 28. Juni 1977 eine angebliche Gruppe Studierender der Fachschaft Kath. Theologie den Kirchenrechtler bei dem Rottenburger Bischof: „Seit langer Zeit nehmen wir Anstoß an der ungläubigen und antikirchlichen Lehre sowie an dem unsittlichen, ärgerniserregenden Lebenswandel“ (S. 318) von Neumann. Dieser
habe es darauf angelegt, „die Kirche kaputtzumachen“. Mehrere Studenten hätten bereits das Theologiestudium abgebrochen. „Diese und andere Dinge sind in letzter Zeit zum Tagesgespräch in Tübingen geworden, was auch Ihnen nicht verborgen bleiben konnte“ (S. 319). Der Kirche fehle der Mut zum Handeln und Neumann aus seinem Lehramt zu entfernen. Um dem nachzuhelfen, informierten die Studenten u. a. auch die Glaubenskongregation in Rom und die Apostolische Nuntiatur. Der Fachschaftssprecher dementierte in einem Schreiben an den Bischof, dass der angeblich studentische Brief aus der Fachschaft komme und dokumentierte damit zumindest, dass in der Studentenschaft eine geteilte Meinung über Neumann herrschte.
Die Allianz zwischen Küng und Neumann zerbrach, als dieser sich – zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft – in seine 17 Jahre jüngere, ehemalige Assistentin verliebte und nunmehr reinen Tisch machen wollte. Nach seiner Rückgabe der Missio canonica distanzierten sich seine Fakultätskollegen in einem gemeinsamen Schreiben von Neumann, was diesen zutiefst traf. Das Treffen fand im Haus von Küng statt. Neumann war völlig klar, dass eine Rückgabe der Missio canonica und das damit zwangsläufig verbundene Ausscheiden aus der katholisch-theologischen Fakultät ein Karriereabsturz sondergleichen bedeutete. Ursula Neumann beschreibt eindringlich die inneren Kämpfe, die ihr späterer Mann durchzustehen hatte. Es gab Überlegungen des bekannten CDU-Mitglieds, in die baden-württembergische Landespolitik zu gehen, lange Zeit winkte ein Lehrstuhl an der Münchner theologischen Fakultät – sein Traum. Aber Ratzinger, der natürlich die Binnenverhältnisse genau kannte, „habe wissen lassen, dass er mich nicht wolle“ (S. 280). Seinem ehemaligen Assistenten Peter Eicher, inzwischen in Paderborn, schrieb Neumann verzweifelt: „vielleicht findet sich ein Platz an der GHS Paderborn“ (ebd.). Zwar hatte ihn die juristische Fakultät der Tübinger Universität kooptiert, aber – wie sich alsbald herausstellen sollte – war diese nicht bereit, den „gefallenen“ Katholiken in ihren Reihen aufzunehmen. Der damalige Dekan, Martin Heckel (geb. 1929), ließ ein Gutachten anfertigen, das die „Überleitung“ ausschloss.
Der befürchtete berufliche Absturz hatte natürlich auch Auswirkungen auf Neumanns Privatleben. Durch seine Frauenbeziehungen war er im katholischen Milieu erpressbar geworden. Seine damalige Lebensgefährtin drohte nicht nur mit einem Skandal, sondern unterrichtete auch den Bischof und Kollegen über den „Personenzerfall“ Neumanns und dessen „Hochverrat an der Sache“ (S. 273 f.). Immer wieder zuckte der karrierebewusste, angstvolle Mann vor dem definitiven Schritt zurück – in beruflicher wie privater Hinsicht. Schließlich schrieb er – kurz nach der Fünfhundertjahrfeier der Tübinger Universitätsgründung, aus deren Anlass er einen Jubiläumsband herausgab – am 24. Oktober 1977 an den Rottenburger Bischof, er werde dem Stuttgarter Kultusminister, dem konservativen protestantischen Theologen Wilhelm Hahn (1909–1996), mitteilen, dass er nicht länger seine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Tübingen „im Auftrag der römisch-katholischen Kirche fortsetzen“ (S. 345) könne. Als Gründe nannte er das kanonische Recht, das „auf den Zwang der Gesetze und die Entscheidungsunfreiheit der Person aufgebaut“ sei (ebd.), im Allgemeinen und die Handhabung der so genannten „Mischehen“ sowie die kirchenamtlichen Stellungnahmen zur Frage der Geburtenregelung, die Behandlung wiederverheirateter Geschiedener, das unwürdige Laisierungsverfahren von Priestern und die strenge Hierarchie der römischen Zentralverwaltung im Besonderen. Ohne ein Mindestmaß an Freiheit könne er nicht länger wissenschaftlich arbeiten. Die Kluft zwischen der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung der Bundesrepublik und der absolutistischen Nicht-Rechtsordnung der römisch-katholischen Kirche sei unüberbrückbar. Obwohl es sich bei den theologischen Fakultäten der staatlichen Universität um staatliche Einrichtungen handelt, konnte Neumann dort nicht bleiben, obwohl er das gerne gewollt hätte. Aus beamtenrechtlichen Gründen konnte er aber auch nicht entlassen werden, sondern musste in einer entsprechenden Position anderweitig weiterbeschäftigt werden. Eine Frühpensionierung wäre der katholischen Kirche wohl am liebsten gewesen. Aber das wollte Neumann nicht. Nach Überlegungen, ihn nach Heidelberg oder Stuttgart zu versetzen, „landete“ er schließlich im Fachbereich Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Tübinger Universität. Hans Küng hat im zweiten Band seiner Autobiographie Neumanns Absturz kalt, aber durchaus zutreffend so beschrieben, dass mit dem Wechsel zu den Soziologen und dem Umzug aufs platte Land ins Badische der Wissenschaftler praktisch aus der Tübinger akademischen Szene verschwunden sei. Neumann wurde zwar am 6. April 1978 mit 47 von 59 Stimmen zum Vorsitzenden des Großen Senats der Tübinger Uni versität gewählt, aber diese Anerkennung verdeckte nicht, dass ihm von nun an tatsächlich die große Bühne verschlossen blieb und er stärker das Privatleben pflegte.
Auch die Theologin Ursula Neumann kehrte nach einem Psychologiestudium und einer psychoanalytischen Ausbildung der Kirche den Rücken. Vor diesem Hintergrund ist es wohltuend, dass sie nicht in ihren Werkzeugkasten greift, um das Geschilderte auch zu interpretieren. Das war gar nicht nötig. Was sie sehr eindringlich und mit letzter Offenheit schildert, ist eine Atmosphäre, in der unter dem Druck der Verhältnisse Unwahrhaftigkeit, Lüge und Intrige gedeihen konnten – also genau das, was die christlichen Ideale konterkariert. Die weitgreifenden Reformbewegungen haben diese Verhältnisse zwar nicht grundlegend verändert, aber doch soweit abgemildert, dass ein „Fall Neumann“ in der heutigen Gesellschaft kaum mehr denkbar wäre, weil die Kirche ihren gesellschaftlichen Einfluss verloren hat. Aber beide Großkirchen bestehen weiterhin auf die ihnen im Konkordat bzw. in den Staatskirchenverträgen garantierten staatlichen theologischen Fakultäten mit einer festgelegten Zahl von staatlich besoldeten Lehrstühlen. Fällt einer der Stelleninhaber vom wahren Glauben ab – wie zuletzt der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann –, muss er seine Professur räumen, wird an eine andere Fakultät versetzt, und der Staat muss für Ersatz sorgen – ein teures
Verfahren für den Steuerzahler.
Prof. Dr. theol. habil. Dr. phil. Dr. h. c. Gerhard Besier, Sigmund-Neumann-Institut für
Freiheits- und Demokratieforschung, Schlehenbogen 8, D-24944 Flensburg