Wie schön! Auch Lehrerverbands-Präsident Meidinger hat was gemerkt!

Freitagmorgen, 28.7.22 in den Nachrichten des Deutschlandfunks eine Meldung, die mich einfach nur wütend macht. Obwohl ich auch sagen könnte: „Na, Herr Meidinger, schön, dass auch Ihnen ein Licht aufgegangen ist. Besser spät als nie. Ihre frühere Haltung war zwar ein Beitrag, dass Tausende von Kindern geschädigt wurden. Aber Schwamm drüber.“

Ich zitiere die Meldung des Deutschlandfunks vollständig:

Folgen von CoronaPräsident des Lehrerverbandes warnt vor dauerhaften Bildungsrückständen

Meidinger sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Defizite, die sich durch den Ausfall von Unterricht und durch Fernunterricht angestaut hätten, seien immer noch erheblich. Die Lücken in Mathe, Deutsch und Fremdsprachen könnten einer ganzen Generation von Schülern auf die Füße fallen.

Kein Wort davon: „ja ich weiß, noch vor einem halben Jahr habe ich anders geredet. Tut mir aufrichtig leid.“ Nein, der Herr Oberlehrerfunktionär macht auf „besorgter Warner“.

Ein gut sortiertes Archiv macht Mühe, ist aber auch ein Segen.

 

Meidinger und andere Lehrerfunktionäre: die Vorgeschichte

Am 26.12.21 konnte man im RedaktionsNetzwerk Deutschland lesen:

Lehrerverbände warnen: Schulschließungen nicht um jeden Preis vermeiden

[..] Angesichts der Omikron-Welle in der Corona-Pandemie warnen Lehrerverbände davor, Schulschließungen um jeden Preis zu vermeiden. „Durch die Omikron-Variante verschärft sich die pandemische Lage massiv – auch an den Schulen“, sagte der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das Motto der Politik darf auf keinen Fall mehr heißen, dass es Präsenzunterricht um jeden Preis geben muss“, fügte er hinzu. […] Er betonte: „Dabei dürfen auch Wechsel- und Distanzunterricht kein Tabu sein.“

Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sagte dem RND: „Alle starren jetzt auf die Omikron-Welle. Wird es eine Welle? Wird es eine Wand?“ Meidinger führte aus: „Wenn es im kommenden Jahr noch einmal zu einem Lockdown kommen sollte, können die Schulen davon nicht ausgenommen werden.“ Angesichts der vielen ungeimpften Schüler habe die Omikron-Variante gerade in den Schulen vergleichsweise leichtes Spiel, sagte Meidinger. „Ein harter, kurzer Lockdown, inklusive Schulschließungen mit Distanzunterricht, wäre im Zweifel immer noch besser, als wieder über Monate eine Situation zu haben, in der mal geöffnet und mal geschlossen ist.“

Ja, nicht nur Meidinger, sondern auch etliche andere Lehrerfunktionäre fanden Schulschließungen gar nicht so schlecht.

„Wenn das Schicksal der Schüler nicht allzu sehr am Herzen liegt“

Lehrerverbände verstehen sich als Interessenvertretung der Lehrer und Lehrerinnen, nicht als Interessenvertreter der Schüler und Schülerinnen. Darauf hat mich mein Sohn schon vor über einem Jahr aufmerksam gemacht. In Frankreich lief das – glaube ich – etwas anders. Da gab es Demonstrationen von Lehrerinnen und Lehrern für die Öffnung der Schulen. Davon habe ich in Deutschland nichts gelesen.

Die Kommentatorin des Tagesspiegels, Sabine Rennefanz schrieb am 1.1.22 unter der Überschrift „Wenn das Schicksal der Schüler nicht allzu sehr am Herzen liegt“ zusammen:

„Ausgerechnet die Lehrer rufen als Erstes nach einem Schul-Lockdown. Es ist schwer, angesichts solcher Äußerungen nicht den Glauben an diesen Berufsstand zu verlieren.

Hilfe, das neue Jahr beginnt genauso, wie das alte Jahr begonnen hatte. Wieder Ängste. Wieder eine neue Virusmutation. Wieder eine Diskussion über Schulschließungen. Wie bitte? Haben wir aus den zwei Pandemiejahren gar nichts gelernt? Vergangene Woche las ich, dass der Chef des Verbandes für Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, forderte, es dürfe keinen Präsenzunterricht „um jeden Preis“ geben. Sein Kollege Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, ging noch weiter. Er schlug vor, einen Schul-Lockdown für Anfang des Jahres vorzubereiten.  […]“

Am 18.1.22 brachte die Süddeutsche ein Interview mit Herrn Meidinger (Titel: Heinz-Peter Meidinger: Der Mann, der sagt, was keiner hören will. Schulen in der Pandemie:Ich warne euch):

„[…]Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbands – und stellt regelmäßig die Politik der offenen Schulen in Frage.[…] Von einer ‚Bankrotterklärung des Schulsystems‘ sprach der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Karin Prien, Kultusministerin in Schleswig-Holstein, warf den Lehrerverbänden kaum verhohlen vor, dem Ansehen der Lehrkräfte zu schaden.

[…]Die Wut der Öffentlichkeit, glaubt Meidinger, wälze die Politik nur zu gerne auf die Lehrkräfte ab – weil Kritik an den ‚faulen Säcken‘ (Gerhard Schröder) immer auf fruchtbaren Boden falle.“

Mein Mitleid hält sich in Grenzen, mindestens was Herrn Meidinger angeht: wer an keinem Mikrofon vorbeigehen kann, ohne was gesagt zu haben, muss die Folgen in Kauf nehmen.

Der Hamburger Bildungssenator Rabe kommentiert am 24.1.22 die Abwehr des Präsenzunterrichts durch manche Lehrerverbände „Verantwortung sieht anders aus“ und stellt fest „Die Debatte wird oft von Kreisen dominiert, die mit Schulschließungen gut umgehen können« Er führt aus „Es ist ein Unterschied, ob ein Oberstufenschüler in einem gut ausgestatteten Jugendzimmer lernt oder ob wir es mit Grundschulkindern oder mit Kindern und Jugendlichen aus sozial nicht so gut gestellten Familien zu tun haben.[…]28 Prozent der Familien sprechen zu Hause nicht Deutsch, mehr als ein Drittel bezieht Hartz 4, 53 Prozent der Kinder haben Migrationshintergrund. Viele haben kein eigenes Kinderzimmer und leben in engen Wohnungen. Das sind alles Rahmenbedingungen, die man mitdenken muss. Diejenigen, die die Debatte zurzeit in Deutschland bestimmen, blenden das oft aus, weil sie nur ihre persönliche Lage sehen“. Damit richtet er mit Recht auch den Blick auf die Eltern.

 „Faule Säcke?“ – Nicht alle in denselben Sack!

im Interview der Süddeutschen vom 18. Januar 22 kommt eine Münchner Lehrerin, Svenja Hegele, zu Wort:

„[…] Offene Schulen unter Pandemiebedingungen? Keine gute Idee, findet Hegele. Aber wenn sie sich anschaut, was die Schulschließungen angerichtet haben – der Leistungsabfall bei den Kindern, die psychischen Probleme, die fehlende Gemeinschaft -, dann sind die offenen Schulen für sie das kleinere Übel.

Anfang Dezember las Hegele in der Zeitung eine Überschrift, die sie doppelt ärgerte: ‚Lehrer wollen Distanzunterricht‘, stand da. Es ging um Forderungen des bayerischen Realschullehrerverbands, die Hegele nicht richtig fand. Was sie aber ebenso frustrierte: dass da einfach ‚Lehrer‘ stand. Als wäre das die Meinung aller Lehrkräfte. Hegele trommelte im Kollegium und schickte schließlich einen Leserbrief los und ein Schreiben an die Lehrerverbände. Über beiden Briefen stand: ‚Nicht in unserem Namen‘.

Die Pandemie, findet Hegele, sei eigentlich eine Steilvorlage, um das Image ihres Berufs aufzupolieren. ‚Aber die Lehrerverbände ruinieren unseren eh schon schlechten Ruf gerade für alle Zeiten.‘ Der Tiefpunkt war aus Hegeles Sicht das berüchtigte Impf-Ultimatum des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) aus dem vergangenen März. Präsenzunterricht nur im Tausch gegen ein Impfangebot? ‚Wenn wir in so einer Situation kneifen, wozu braucht man uns dann?‘, sagt Hegele. ‚Kassiererinnen und Busfahrer sind keine Beamte – und machen trotzdem ihre Arbeit.‘

Wer als Lehrer nochmals Schulschließungen fordere, habe den Beruf verfehlt

Sie kenne keine Kollegin und keinen Kollegen, die den Präsenzunterricht beenden möchten, dafür viele, die sich auch von den Aussagen Meidingers in ihrem Berufsethos verletzt fühlten. „Wer als Lehrer nach diesen zwei Jahren nochmals Schulschließungen fordert, hat den Beruf verfehlt“, sagt Hegele. Und auch Heinz-Peter Meidinger müsse wissen, dass seine Aussagen genau darauf hinauslaufen – auch wenn er nur warnt, nicht fordert.

 

Ein Blick zurück – wahlweise mit oder ohne Zorn

22.6.2021 habe ich in diesem Blog zum Beispiel unter der Überschrift „Schulschließungen: Tschuldigung, war ja nur so eine Idee“  einiges zusammengetragen, was man schon damals über Schulschließungen wusste, was also auch Herr Meidinger längst hätte wissen können.

  •  19.5.20 (!!) meldete die Tagesschau:  „Fachleute für schnelle Öffnung Besser schnell zurück in Kita und Schule“: „Kinder leiden massiv unter Kita- und Schulschließungen – darauf weisen gleich vier Fachverbände hin. Sie fordern deshalb eine schnelle Öffnung. Denn Kinder seien nicht die treibende Kraft für Ansteckungen.[…] Insbesondere bei Kindern unter zehn Jahren sprächen die aktuellen Daten sowohl für eine niedrigere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate, heißt es in einem gemeinsamen Papier. Untersuchungen, Studien, Modellberechnungen und Ausbruchsanalysen wiesen in eine Richtung: Kinder und Jugendliche seien nicht die treibende Kraft der Pandemie. Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließungen gravierend, erklären die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Dass die Folgen für Kinder und Jugendliche nicht thematisiert worden seien, habe deren elementare Rechte verletzt.“
  • (19.6.20) Dazu die mehr als merkwürdige Geschichte, die der Spiegel am 19.6.20 berichtete, wie es auf Initiative von Herrn Professor Drosten trotz schmalster Datenbasis zu Schulschließungen kam. Und die Politiker und Politikerinnen ihren Kotau vor „der Wissenschaft“ (wohlverstanden: Wissenschaft=Epidemiologie)  machten.
  • Am 13.10.20 titelte die Süddeutsche Studie: „Schulen sind kein Pandemietreiber“: „Die Schulöffnungen nach dem Lockdown wurden stark kritisiert. Nun haben Forscher untersucht, wie sich die Rückkehr zum Präsenzunterricht auf die Infektionszahlen ausgewirkt hat. Das Ergebnis überraschte sie selbst.[…] ‚Der Reflex, Schulen als Antwort auf wieder steigende Fallzahlen zu schließen, sollte überdacht werden‘, sagt Isphording. Das gelte auch dann, wenn man der Schulschließung einen freundlicher klingenden Namen gibt. Verlängerung der Weihnachtsferien zum Beispiel.
  • 23.10.20 die Süddeutsche  schreibt unter der Überschrift: „Schulschließungen: Lehren aus der ersten Welle“: „Ärzte befürchten, dass das Homeschooling vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien […] Kitas und Schulen zuzusperren dürfe nur das letzte Mittel bei der Pandemiebekämpfung sein, lautet eine Lehre der Corona-Krise. Keine Weisheit, die sich gleich jedem aufdrängte, schon gar nicht der im März vom Virus überrumpelten Politik. Es ist vielmehr die bittere Einsicht in die Folgen wochen- und monatelanger Schließungen. Spielplätze hinter Absperrband, Kitas und Horte ohne Erzieher, leere Schulen und Sozialeinrichtungen: Dass die harten Maßnahmen in der ersten Welle Kindern mehr schadeten, als sie der ganzen Gesellschaft nützten, hat man erst sukzessive gelernt.“
  • 17. 11.2020 war in der Ärztezeitung zu lesen „Pädiater: Unterricht in Schulen ‚absolut notwendig'“: „Schulschließungen würden gerade benachteiligte Kinder enormen Risiken aussetzen, mahnt BVKJ-Vizepräsidentin Peter.[…] der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte warnt vor negativen Folgen für den Nachwuchs durch mögliche neue Schulschließungen. Aus Expertensicht seien Kinder nicht die Spreader des Coronavirus, sagte die Vizepräsidentin des Verbandes, Sigrid Peter, am Dienstag im ZDF-„Morgenmagazin“. […] Kitas und Schulen seien Orte von Kompetenzerwerb, auch von sozio-emotionaler Kompetenz, sagte Peter. Wenn das nicht mehr erfolge, würden gerade benachteiligte Kinder enormen Risiken ausgesetzt und abgehängt. Im ersten Lockdown habe man auch gesehen, dass häusliche Gewalt und Adipositas zunähmen.“
  •  21.6.21 da schreibt sogar die Leopoldina, die sich ansonsten während der Pandemie nicht gerade durch kluge Bemerkungen hervorgetan hat: „Schulen offen halten, Bewegung fördern“ […] Der Vergleich der Befragung im Mai/Juni 2020 mit einer Nachbefragung zum Jahreswechsel 2020/2021 weise auf eine Zunahme wahrgenommener Belastungen hin, etwa in Form vermehrter depressiver Symptome.“
  • 21.6.21 Neue Bildungsstudie „Distanzunterricht gerade mal so effektiv wie Sommerferien“ :“Ein denkbar schlechtes Zeugnis stellt eine neue Studie dem Distanzunterricht während der Coronakrise aus. […]„…Dabei zeigte sich: Besonders große Kompetenzeinbußen waren bei Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch schwachen Elternhäusern und bei jüngeren Schülerinnen und Schülern zu beobachten. »Hiermit sind die bisherigen Vermutungen durch empirische Evidenz belegt: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich während der ersten coronabedingten Schulschließungen noch weiter geöffnet«, sagte Frey.“

 

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