Geschätzt 305.641 Lebensjahre verloren
Erschreckende Befunde werden im Augenblick verbreitet: „RKI-Studie zu Covid-19: Deutsche haben 2020 mehr als 300.000 Lebensjahre verloren“ So zum Beispiel das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 12.2.21:“Geschätzt 305.641 Lebensjahre sind laut einer Studie im vergangenen Jahr in Deutschland durch die Corona-Pandemie verloren gegangen. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin.“
Für eine Schätzung sind 305 641 Lebensjahre gewaltig präzise. Soll das Wissenschaftlichkeit suggerieren?.
Ich bleibe beim RKI, allerdings bei einer etwas älteren Untersuchung. Am 14.3.2019 veröffentlichte das RKI eine Presseerklärung zum Einfluss sozialer Unterschiede auf Mortalität und Lebenserwartung
RKI Untersuchung: „Soziale Unterschiede in Deutschland: Mortalität und Lebenserwartung“
„Vor Vollendung des 65. Lebensjahres sterben 13% der Frauen und 27% der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe, in der höchsten Einkommensgruppe sind es 8% der Frauen und 14% der Männer. Diese sozialen Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung sind in den vergangenen 25 Jahren relativ stabil geblieben.
„Soziale Ungleichheit hat wegen der massiven Auswirkungen auf Gesundheit und Lebenserwartung aus Sicht von Public Health eine zentrale Bedeutung“, betont Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts. … Bei der Lebenserwartung ab Geburt beträgt die Differenz zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe für Frauen 4,4 Jahre und für Männer 8,6 Jahre.“
Zwei Jahre früher (am 6.9.2017) hatte die Süddeutsche Zeitung ebenfalls mit Bezug auf das RKI getitelt:
Lebenserwartung: Arm leben heißt früher sterben
„… Nicht alle Menschen leben gleich lang. Viele Studien belegen, dass die Lebenserwartung stark vom sozialen Status abhängt. Zwischen der untersten Einkommensgruppe, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, und den Spitzenverdienern liegen mehr als acht Jahre bei Frauen und mehr als zehn Jahre bei den Männern. Das haben Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts (RKI) mit Daten des sozio-ökonomischen Panels errechnet.“
(Vgl. auch eine Untersuchung des am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock vom 11.4.2019: Kluft zwischen Arm und Reich in der Lebenserwartung wächst)
Egal, welche Zahlen des RKI man nimmt, die von 2019 oder 2017 (der Unterschied zwischen 4,4/8,6 Jahren bzw. 8/10 Jahren geringerer Lebenserwartung für Ärmere in beiden Untersuchungen erklärt sich vermutlich damit, dass nicht dieselben Größen für niedrige bzw. hohe Einkommensgruppen genommen wurde): Hier geht es um Millionen betroffene Menschen. Sehr konservativ formuliert: es geht um ein Vielfaches von den durch Corona angeblich verlorenen 305 641 Lebensjahren. Armut kostet Millionen verlorene Lebensjahre. Auch in Deutschland.
Und? Ist das ein Thema? So irgendwie am Rande vielleicht. Aber sicher keines, um energische Maßnahmen zu ergreifen.Oder haben Sie schon mal was von Herrn Söder, Herrn Spahn, Frau Merkel in dieser Richtung gehört?
Der soziale Status und Corona
Der soziale Status hat auch einen Einfluss, ob man an Corona erkrankt und ob man an Corona stirbt. Da habe ich zwar im Moment nur Zahlen vom April 2020 aus den USA (schließlich ist Corona-Recherche nicht mein Beruf), die eine deutliche Sprache sprechen: Dort war die Zahl der an Corona gestorbenen Schwarzen im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil um ein Vielfaches höher als die der weißen Bevölkerung. Schwarze Menschen gehören überwiegend den unteren Einkommensschichten an.
Die Süddeutsche schreibt am 9.4.20 unter der Überschrift „Tödliche Ungleichheit“: „In Milwaukee … sind nur 26 Prozent der Einwohner der Stadt und ihres Umlands schwarz. Sie machen aber 73 Prozent der Todesopfer aus. In Chicago stellen Afroamerikaner 32 Prozent der Einwohner, aber 67 Prozent der Todesopfer. Im Bundesstaat Michigan trugen sich drei Viertel der Todesfälle in Detroit zu, einer überwiegend schwarzen Stadt. Das Bild wiederholt sich im Bundesstaat Louisiana: Dort sind 70 Prozent der Toten Schwarze, obwohl ihr Bevölkerungsanteil nur 32 Prozent beträgt.“
Ich gehe jede Wette ein, dass eine Aufschlüsselung nach Einkommen/sozialem Status bei deutschen Untersuchungen zu Corona zwar nicht solch dramatische Ergebnisse erbringen würde, aber die Ergebnisse wären sicher signifikant.
Corona-Untersuchung des RKI: Keine Berücksichtigung von Vorerkrankungen
Zurück zur RKI-Corona-Untersuchung. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibt über die RKI-Untersuchung weiter:
„Dafür berücksichtigten sie verlorene Jahre durch Tod – diese machen den Großteil aus –, aber auch durch gesundheitliche Einschränkungen bei Covid-19-Überlebenden… Mögliche langfristige Gesundheitsfolgen von Covid-19 berücksichtigten die Forscher zunächst nicht. Auch bestehende Vorerkrankungen seien nicht in die Berechnung eingeflossen, hieß es.“ So ganz klar ist mir nicht, wie das zu interpretieren ist: „gesundheitliche Einschränkungen bei Covid-19-Übelebenden“ flossen in die Berechnung ein – man fragt sich, wie?
Aber wesentlich wichtiger: Wieso sind bestehende Vorerkrankungen nicht in die Berechnung eingeflossen. Soll das heißen, dass bei jedem/jeder „Coronatoten“ von derselben statistischen durchschnittlichen Lebenserwartung ausgegangen wurde? Obwohl die ganz überwiegende Mehrzahl der „Coronatoten“ mehrere ernsthafte, üblicherweise lebensverkürzende Vorerkrankungen hatten? Soll das heißen, dass man beim übergewichtigen Diabetiker mit Bluthochdruck von derselben Lebenserwartung ausging, wie bei dem fitten und gesunden Menschen?? Wie war das mit dem Statistikerwitz? Ein Statistiker steht mit einem Bein in einem Eimer mit 10 Grad warmem Wasser, mit dem anderen in 60 Grad heißem – und fühlt sich pudelwohl: durchschnittlich ist das Wasser 35 Grad warm.
„Die meisten Verstorbenen hatten Vorerkrankungen“
Zum neuesten Bericht über die Obduktion von 735 Todesfällen im Zusammenhang mit Covid-19 heißt es am 18.2.21. im NDR:
„Die meisten Menschen, die an Corona gestorben sind, hatten mehrere Vorerkrankungen. Dazu zählten sehr starkes Übergewicht, Bluthochdruck, chronische Lungenerkrankungen und Nierenschwäche. Drei Viertel aller Verstorbenen waren älter als 76 Jahre.“
Aus den Obduktionsergebnissen jedoch wird ohne weiteres der Schluss gezogen:
„In den meisten Fällen starben die Menschen an den Folgen der Corona-Infektion – entweder an einer Lungenentzündung oder einer Thrombose, die das Virus verursacht hatte. Nur in sieben Prozent der Fälle hatten sich die verstorbenen Patientinnen und Patienten zwar mit dem Virus angesteckt, es war aber nicht todesursächlich.“
Das mag als Momentaufnahme korrekt sein, ist aber trotzdem unseriös:
Wenn Menschen drei, vier gravierende Vorerkrankungen haben und dann eine Grippe bekommen oder sich mit Norovirus anstecken und sterben, steht auf dem Totenschein vermutlich die Erkrankung, die letztendlich zum Tode führte. Aber hier würden die meisten Menschen diese Erkrankung als „auslösenden Faktor“ ansehen und nicht als ursächlich.
Für eine seriöse Untersuchung hätte es mehrere Möglichkeiten gegeben:
- Man hätte eine Vergleichsgruppe bilden können: Eine gleich große Zahl von Menschen desselben Alters – aber ohne Vorerkrankungen. Dann würde offensichtlich, welches Gewicht den Vorerkrankungen bei den Todesfällen zukommt.
- Ebenso korrekt wäre es, sämtliche an Corona erkrankte Menschen desselben Alters zu nehmen und dann via Faktorenanalyse herauszufinden, durch welche Eigenschaften sich die Überlebenden/ die leichteren Fälle/die schwereren Fälle/die Todesfälle voneinander unterscheiden.
So aber gibt es für mich nur zwei Erklärungsmöglichkeiten, warum das RKI/ die untersuchenden Pathologen die Obduktionsbefunde so präsentieren, wie sie es tun: Entweder es fehlt an Sachverstand oder es steckt Absicht dahinter: Alles wird unterschlagen, was die Gefährlichkeit von Corona relativiert. So lassen sich nicht nur leichter Maßnahmen durchsetzen, die Zero-oder No-Covid-Virologen für die einzig wahren halten. So lässt sich aber auch leichter davon ablenken, dass bei der Vermeidung anderer Krankheiten die mehr zum Tode führen als Corona oder bei der Beseitigung sozialer Ungleichheit das staatliche Engagement bescheiden ausfällt.