Ehrenwerter Whistleblower oder mieser Denunziant? Vier Beispiele zum Nachdenken

 

„Der größte Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“. Ganz so einfach ist es nicht. 

 

Essen stellt Onlineformular zur Meldung von Verstößen gegen Corona-Schutzverordnung ein

Im letzten Oktober stellte die Stadt Essen ein Onlineformular zur Meldung von Verstößen gegen die Corona-Schutzverordnungen auf seine Internetseite ein. Unter der Überschrift: “… Ruft die Stadt Essen zur Denunziation von Bürgern auf?“ schreibt die FAZ am 15.10.20 :

Der Stein des Anstoßes befindet sich gut versteckt auf der Internetseite des Essener Ordnungsamts. Bewohner der Stadt in Nordrhein-Westfallen sollen dort mutmaßliche Verstöße gegen die Coronaschutz-Verordnung melden. Wer das Online-Formular ausfüllt, kann unter ‚Art des Verstoßes‘ beispielsweise zwischen dem ‚unzulässigen Betrieb von Freizeit- und Vergnügungsstätten‘, der Durchführung von Veranstaltung ohne Schutzmaßnahmen oder dem ‚Verstoß gegen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung‘ scrollen. Zwingend ist zudem eine kurze Beschreibung des vermuteten Verstoßes. Wer möchte, kann ein Foto des angeblichen Vorfalls hochladen. Der Protest war gewaltig und das Online-Formular schon nach kurzer Zeit „nicht mehr abrufbar“. Bemerkenswert – aber bezeichnend für den coronabedingten bürokratischen Rundumschlag, in dem es auch der grünen Ministerpräsident Kretschmann nicht so genau mit den Grundrechten und der Verhältnismäßigkeit nimmt (Vgl. hier) : Es kommt alles in einen Topf: von Großpartys ohne Schutzmaßnahmen bis zum individuellen „Maskenverstoß“, das Recht am eigenen Bild wird gleich mitabgeschafft.  

In der „Zeit“  damals fand eine aufschlussreiche Diskussion zwischen zwei Redakteuren statt, einem Befürworter und einem Gegner. Während Herr Leitlein meint:

So ein Formular kann hilfreich sein, um den Frust derer abzubauen, die vergeblich versucht haben, Leute an die Regeln zu erinnern. Wie oft fahre ich mit der S-Bahn, bitte Leute, ihre Maske über die Nase zu ziehen, und werde dafür nur blöd angemacht. Immerhin kann ich diese Wut dann via Formular in rechtsstaatliche Bahnen lenken. Ich denke, das könnte in den kommenden Monaten noch die ein oder andere Schlägerei verhindern.“ Ist das nicht entlarvend: Ich bin frustriert und habe nun den obrigkeitsstaatlichen Segen, meine Wut in „rechtsstaatliche Bahnen“ zu lenken. Sonst fange ich womöglich noch eine Prügelei an. Sein Kontrahent Vooren gab zu Bedenken: Ein solches Formular gibt es für Falschparker nicht und auch nicht für Steuerhinterzieherinnen. Wieso also wird Corona hier so hervorgehoben, in einem ohnehin aufgeheizten Klima? Nun habe ich einen Ansporn, meinen Nachbarn oder den Nebenmann in der Bahn heimlich zu fotografieren und anzukreiden, wenn ich will, sogar anonym. Da wird ein gesellschaftliches Miteinander geschaffen, das mir Angst macht.“

 Ja, es ist wahr: Wir sind ziemlich täglich mit „Gesetzesverstößen“ der verschiedensten Art konfrontiert und öfter dabei ziemlich ohnmächtig. Ich leugne nicht, dass das ein Problem ist. Wobei die Parker auf dem Fahrradweg und die Müll-nicht-Sortierer zwar die sind, die mir alltäglich begegnen. Aber sind das wirklich die Schlimmen? Oder nicht jene, die sich ganze Kanzleien von AnwältInnen leisten können, falls irgendwer ihre Tricksereien, Unterschlagungen, Betrügereien entdeckt. Und damit sind wir bei Punkt 2:

 

„Bürger sollen Nachbarn denunzieren. Grünen-Minister führt Steuer-Stasi ein“

So titelte „Bild“ – Vorkämpferin für die Interessen von uns kleinen Leuten am 1.9.21

Die Grünen in Baden-Württemberg haben offenbar keine hohe Meinung von ihren Steuerzahlern: Finanzminister Danyal Bayaz (37, Grüne) führt einen neuen Steuerpranger ein! Über das „anonyme Hinweisgeberportal für Finanzämter“ sollen Baden-Württemberger künftig Bekannte, Nachbarn, Kollegen etc. anschwärzen.

Na, es hagelte noch andere Vorwürfe, wo die Stasi nahe ist, ist der Nazi-Blockwart nicht weit.

Die reflektierteren Kommentare mutmaßten, die Aversion gegen eine solche Möglichkeit zur Meldung von… sagen wir mal „Unregelmäßigkeiten“ rühre daher, dass Steuerhinterziehung in Deutschland immer noch als kriminelles Verhalten minderen Grades gelte. Warum auch immer. Wobei ich die Hypothese habe: es hängt auch damit zusammen, dass alle Steuer hinterziehen. Mit Ausnahme von mir selbstverständlich. Aber so ganz verstehe ich das offensichtliche Messen mit zweierlei Maß, die fehlende Empörung doch nicht.

Eine Studie zur Steuerhinterziehung ist zwar schon etwas älter, nämlich von 2019, aber besser geworden ist es seither vermutlich nicht: In Deutschland werden jährlich 125 Milliarden Euro Steuern hinterzogen: Die Summe ist gigantisch: Durch Schwarzarbeit, Betrug und Tricks entgehen dem deutschen Fiskus nach einer Studie pro Jahr 125 Milliarden Euro. Das ist etwa ein Drittel des gegenwärtigen Bundeshaushaltes.“

Ein Drittel des Bundeshaushalts! Das muss man sich erst mal geben. Und dann bitte etwas Fantasie: Wie viele Schulen (Digitalisierung! Ha!) und Krankenhäuser (Intensivstationen!!) könnten damit auf den Stand des 21. Jahrhunderts gebracht werden, wie viele Radwege gebaut, der Schienenverkehr verbessert werden, wie viel für Klimaschutz getan werden. Jedes Jahr!

Irgendwie ist „Steuerhinterziehung“ nicht so konkret. Drauf macht ein hübscher Spiegel-Kommentar aufmerksam:  

Ein kleines Gedankenexperiment: Angenommen, der Berliner Senat hätte zum Wochenbeginn ein Portal freigeschaltet, bei dem anonyme Hinweise auf jene Täter abgegeben werden können, die in der Hauptstadt regelmäßig Autos abfackeln. Hätte Deutschlands größte Boulevard-Zeitung am nächsten Morgen getitelt: »Berlin führt Auto-Stasi ein«? Wohl eher nicht. Vielleicht hätte es stattdessen sogar geheißen: »Endlich macht Berlin Jagd auf die Auto-Vandalen.« 

 

Wenn „Denunziation“ Leben retten könnte

Eine junge Frau erzählt mir: Ihre Clique wollte eine Party irgendwo auf einer Hütte feiern. Einige trafen sich zunächst zum „Vorglühen“. Ein Kumpel setzte sich mit einem andern ins Auto, um zur eigentlichen Veranstaltung zu fahren, beide schon etwas angetrunken. Fünf Minuten später war er tot, sein Beifahrer schwerst verletzt.

Ich fragte, warum niemand den Fahrer zurückgehalten hätte. „Der hat sich nichts sagen lassen, der ist immer mit Alkohol gefahren.“ Mehr für mich selbst überlegte ich: „Und wenn man die Polizei verständigt hätte?“

Tja… wer macht denn aber auch so was? Die Meinung wäre einhellig gewesen, glaube ich. „Kameradenschwein!“ Gnade Gott, wenn man gewusst hätte, wer ihn bei der Polizei verpfiffen hat! Und Mitgefühl mit dem Armen, der seinen Führerschein verloren hätte und zum Idiotentest gemusst hätte.

Natürlich, wenn sicher gewesen wäre: Entweder Polizei rufen oder er ist tot, dann wäre die Entscheidung klar. Aber blöderweise weiß man das nicht. Und meistens „geht es ja gut“.

Jetzt haben sie am Unfallort Kerzen aufgestellt.

 

Texanische Verhältnisse

Das neue texanische Gesetz gegen Abtreibung sieht vor „Das Gesetz droht nicht den Frauen mit Strafe, die eine Abtreibung vornehmen lassen, sondern den Ärzten, die dies durchführen. Zudem kann jede Person belangt werden, die dabei ‚behilflich‘ ist: Krankenschwestern, Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen, aber auch Freunde oder Verwandte einer Patientin, die ihr Geld geben, oder ein Taxifahrer, der eine Frau in die Klinik fährt…. Alle Texaner [erhalten] das Recht, Abtreibungsärzte und deren ‚Helfer‘ anzuzeigen und als Kläger aufzutreten, egal ob sie selbst eine Verbindung zu der Patientin haben. Sie bekommen ihre Gerichtskosten ersetzt, bei einer Verurteilung ist eine Belohnung von 10 000 Dollar vorgesehen.“ (Süddeutsche Zeitung, 4.9.21,  Wut über das texanische Abtreibungsgesetz)

Bevor ich in meine gern gepflegte wütende Verachtung gegenüber den USA verfalle, habe ich mir ein kleines Gedankenexperiment erlaubt: Wenn es in dem Gesetz nicht um Abtreibung ginge, sondern um Mord, Femizid oder einen Terroranschlag – wie würde meine Bewertung dann aussehen? Im Prinzip schon gleich… aber doch schon ein bisschen anders, oder?

Und so schließe ich fast so, wie ich begonnen habe: Es ist alles nicht ganz so einfach.

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