Abwägungen. Rückblick auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006

Extreme moralische Situationen – wie damit umgehen?

Nach dem Terrorangriff auf die Twin-Towers in New York gab es in Deutschland einen Entwurf zur Änderung des „Luftsicherheitsgesetzes“. Darin sollte die Erlaubnis festgeschrieben werden, dass ein von Terroristen gekapertes Flugzeug abgeschossen werden könne, um einen Angriff zu verhindern, der voraussichtlich mehr Tote kosten würde, als durch den zum Abschuss freigegebenen Flugzeug unschuldige Passagiere ums Leben kämen.

Eine unglaublich schwierige moralische Frage!  

An die Presseerklärung zu diesem Urteil möchte ich erinnern, weil in ihr – in einem furchtbaren Extremfall – begründet wird, wieso nicht die Rechnung aufgemacht werden darf: So viele Tote gegen deutlich weniger Tote.

Die Situation bei Corona ist sicher nicht dieselbe. Aber meiner Meinung nach ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von damals doch wegweisend: „Leben retten um jeden Preis“ – so sollte das in unserem Staat nicht funktionieren. Im Falle der Bedrohung durch einen Flugzeugterrorangriff gibt es nur zwei Möglichkeiten der Entscheidung. Bei Corona ist weder die Bedrohung durch die Krankheit so eindeutig-unausweichlich wie beim gekaperten Flugzeug. Genauso wenig ist eine Strategie als „die wirklich richtige“ so klar erkennbar. Vieles ist ungewiss, verbleibt im Bereich der Mutmaßungen: Wie viele Kinder kommen z.B. durch die Isolation während eines Lockdowns durch Gewalt in den Familien ums Leben, wie viele Leben kostet es, weil wegen der Coronamaßnahmen Untersuchungen und Operationen verschoben werden, welche Auswirkungen hat es, dass sich die Menschen aus Angst nicht zum Arzt trauen und warten (z.B. bei Herzinfarkt) bis es zu spät ist? Wie sind die Auswirkungen zu gewichten, die eine Verarmung auf Grund der Corona-Maßnahmen hat?  Es gibt genügend Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen niedrigerer Lebenserwartung und Armut nachweisen! Oder wie ist es ganz banal zu sehen, dass die kräftige Gewichtszunahme (im Durchschnitt in Deutschland 6 kg!) aufgrund der Kontaktbeschränkungen zu vermehrten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes usw. führt, die das Leben kräftig verkürzen.

Das – und vieles andere- muss berücksichtigt werden, bei aller Ungewissheit (die aber genauso bei den Corona-Maßnahmen besteht: Wisssenschaftlich hieb- und stichfeste Nachweise über die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen gibt es nicht – nach allem was ich gelesen habe. Es ist nicht so einfach mit dem Satz „Jedes Leben zählt“!

Bei aller Unterschiedlichkeit, die mir klar ist: Das, was das Bundesverfassungsgericht 2006 geschrieben hat, gilt es auch heute zu bedenken.

Am 15. Februar 2006 urteilte das Bundesverfassungsgericht

Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15. Februar 2006

Urteil vom 15. Februar 2006
1 BvR 357/05

„Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz nichtig“

„§ 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“

Menschen dürfen niemals bloße Objekte einer Rettungsaktion zum Schutze anderer sein

„Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann.“

Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.

Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Die Annahme, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden. Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. Schließlich lässt sich § 14 Abs. 3 LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zugunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das als Tatwaffe missbrauchte Luftfahrzeug eingesetzt werden soll. Zur Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dürfen nur solche Mittel verwendet werden, die mit der Verfassung in Einklang stehen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.“

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