Die „Asyltante“ oder meine Sehnsucht nach der Sprache der 90er Jahre

Sibylle Berg schreibt im Spiegel eine Kolumne „Wie der Hass wieder gesellschaftsfähig wird“ . Dabei geht,es darum, wie wir (ja: wir!!!) es hinnehmen, dass in einer Art und Weise gesprochen, geschrieben wird, die sich vor zwanzig, dreißig Jahren noch niemand getraut hätte, weil es unweigerlich zur gesellschaftlichen Ausgrenzung geführt hätte. Was man sich früher nicht mal anonym zu schreiben getraut hätte, wird jetzt signiert, gepostet, geliked.

Dass das so ist, liegt an uns – an wem sonst? Ich weiß nicht, ob es Gleichgültigkeit, Feigheit, Verantwortungslosigkeit oder eine missverstandene Toleranz ist.  Eigentlich müsste jeder und jedem klar sein, wohin die Missachtung dieses Grundsatzes „Keine Toleranz den Intoleranten“ führt. 

Aber darum geht es mir jetzt erst in zweiter Linie. Sondern ich möchte an einem Beispiel dokumentieren, wie die Sprache sich innerhalb von zwanzig und dreißig Jahren brutalisiert hat.

Beim Ausmisten fand ich eine Postkarte vom Ende der 90er Jahre an mich, damals war ich schon in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Dass ich diese Karte aufgehoben habe, hatte seinen Grund vermutlich daran, dass ich das Geschriebene „ein starkes Stück“ fand. Nie hätte ich gedacht, dass der Tag kommt, wo ich den Text dieser Postkarte als Beispiel für eine geradezu harmlose Meinungsäußerung nehmen würde.Ich zitiere (einschließlich der vergleichsweise wenigen orthographischnr und Zeichenfehler, die nach meiner Erfahrung ein Markenhzeichen dieser „wahren Deutschen“ sind.). 

Frau Ursula Neumann

Asyltante

77704 Oberkirch

[das reichte als Adresse, um mich zu finden…..]

Was schreiben Sie in der BZ [Badischen Zeitung] für einen blödsinnigen Artikel zur Asylpolitik! Seitdem diese sogenannten Asylanten hier sind haben wir einen sprunghaften Anstieg der Kriminalität von dem Sie in dem idyllisch gelegenen Oberkirch keine Ahnung haben können. Unsere Forderung:Wer diese Personen . insbesondere die an Brutalität nicht zu übertreffenden Kosovo u.Algerier haben möchte soll Sie bei sich zu Hause betreuen oder mit Ihnen in’s Land ausreisen und dort Aufbauhilfe leisten. Der größte Teil unserer Bevölkerung hat mit diesen Personen nichts im Sinn. Wenn es die Politik nicht schafft werden die „Rechten“auferstehen und das Land reinigen. Bis dahin… [Unterschrift]

 

Gut, das ist wirklich nicht nett. Aber wenn wir es nur schaffen würden, auf dieses Niveau zurückzukehren, dann wäre schon einiges erreicht. Worauf warten wir?  

 

[Vgl. auch meinen  Beiträge in diesem Blog: Amerikanische Verhältnisse oder: welche Meinungsfreiheit wollen wir?, sowie  „Deine Sprache verrät dich“ 

und das Zitat von Böll :

„Worte können töten, und es ist einzig und allein eine Gewissensfrage, ob man die Sprache in Bereiche entgleiten lässt, wo sie mörderisch wird“ (Heinrich Böll, 1970)

 

 

 

           

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen