Am 30.03.22 berichtete ich von meiner Krankengymnastin, die ich eine kluge und gebildete Frau nannte, die aber für Putin schwärmt und die Ukrainer für Nazis hält. Ich fragte mich, wie eine solche Frau völlig unkritisch der russischen Propaganda auf den Leim gehen könne.
Die Geschichte hat eine Fortsetzung: bei meinem letzten Termin drückte sie mir ein Päckchen in die Hand. Es waren kleine Schokoladentäfelchen aus Russland, jedes eingepackt in Papier mit hübschen russischen Motiven, Babuschkas und so. Dieses Geschenk hat mich sehr berührt.
Heute habe ich ihr geschrieben:
Brief an meine russische Putin-Freundin
Liebe Frau …,
Ich habe mich sehr über Ihre Schokolade aus Russland gefreut und esse sie mit Vergnügen.
Für mich bedeutet Ihr Geschenk weit mehr als eine Süßigkeit: wir haben in der letzten Wochen über Politik geschwiegen. Es schien mir, dass wir beide das Thema absichtlich vermieden. Aber als sie mir die Schokolade gaben, sagten Sie, Sie würden keine Nachrichten mehr anschauen und überhaupt könnten sie nur noch leichte Unterhaltungskost lesen und hören.
Wir haben unterschiedliche politische Anschauungen: Manches was Sie für Lüge halten, halte ich für Wahrheit. Manches was ich für Lüge halte, ist für Sie Wahrheit.
Ich glaube, wir beide wissen, dass es „die Wahrheit“ nicht gibt und dass es immer gefährlich ist, nur „schwarz oder weiß“ zu denken. Ich glaube auch, dass es vernünftig ist, wenn wir bei unseren Gesprächen die Politik aus dem Spiel lassen; ich kann mir nicht vorstellen, dass dabei etwas Gescheites herauskommt: Weder werde ich Sie überzeugen, noch Sie mich.
Trotzdem ist zwischen uns nicht kaltes Schweigen. Was wir gemeinsam haben: wir sind besorgt.
Ihr Geschenk aus Russland nehme ich als Zeichen: auch wenn wir in unseren politischen Anschauungen getrennt sind, so ist das keine unüberwindliche Trennung. Vielmehr: wir können einander trotzdem mit Achtung und Respekt begegnen, wir wissen, dass es vieles gibt, wo wir uns einig sind.
Das halte ich – nicht nur zwischen uns, sondern überhaupt – für eine sehr gute Grundlage, auf der man aufbauen kann. Denn Feindschaft und Hass, Glaube an die eigene Unfehlbarkeit, Abwertung des Andersdenkenden – das sind nicht die Dinge, die unsere Welt voranbringen. Sondern wir dürfen nichts unversucht lassen, um Brücken zu bauen!
Deshalb danke ich Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Geste!
Ursula Neumann
Wer heute Brücken bauen will, hat es nicht leicht
Die Fähigkeit, Brücken zu bauen, wird in Zeiten wie diesen wenig geschätzt. „Klare Kante“ ist gefragt. Manchmal – so kommt es mir vor – ohne Rücksicht auf Verluste. Da gibt es nur den Hau-drauf-Impuls. Wer auch nur ein wenig zu bedenken gibt, dass die russische Seite vielleicht ein Fitzelchen nachvollziehbare Gründe hat, wird sofort als „Putinversteher“ enttarnt. Wer feststellt, dass in der Ukraine die Zahl rechter Nationalisten nicht ganz unbedeutend ist, gilt als Opfer russischer Propaganda. Naivität ist Bürgerpflicht: alles, was von russischer Seite gesagt wird, ist Lüge, üble Propaganda. Alles was von ukrainischer Seite gesagt wird, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit..
Es sind dieselben Mechanismen wie bei Corona: wer Maßnahmen zu kritisieren wagte, war Verschwörungstheoretiker.
Richtig versus falsch, schwarz versus weiß – so einfach ist das! Der Satz aus der Offenbarung 3.16 „Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“, ist maßgebend. Allerdings nicht zu Ende gedacht: ich meinerseits werde lieber ausgespuckt als verdaut.
Von der Häme, mit der der Untergang der Moskwa kommentiert wird, bin ich auch angesteckt. Obwohl ich bezweifle, dass dabei niemand aus der Besatzung zu Schaden kam: es werden junge Menschen gestorben sein, weiß Gott – das ist nie ein Grund zur Schadenfreude! Aber es ist ein verständlicher Impuls, genauso wie die Häme, die Goliath begleitet. Nur: das darf die erste Reaktion sein, aber nicht unser letztes Wort.
In den ersten Kriegstagen gab es viele mitfühlende Berichte über die armen russischen Soldaten, die Ukrainer verwirrt fragten, wo sie denn wären und was sie denn hier sollten. Es sind dieselben, genau dieselben Soldaten, die Zivilisten mit Kopfschüssen von hinten „erledigen“, Waschmaschinen und Handys klauen und in die Heimat schicken. Beides ist wahr.
Was auch zum Brückenbauen gehört: hinschauen, nicht ausblenden
Und wahr ist auch jener furchtbare Gastbeitrag, der in der russischen Nachrichtenagentur „Ria Novisti“ erschien und Anfang April unverhüllt zum Völkermord an den Menschen in der Ukraine aufrief.
Gastbeitrag bei russischer Nachrichtenagentur „Ria Novosti“ ruft zur Vernichtung der Ukraine auf
„Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese „das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht“ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“
Und weiter: „Neben den oben genannten (Anm.: die Streitkräfte) ist jedoch auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, schuldig. Sie haben die Naziregierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird.
Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“
Und weiter: „Die Entnazifizierung kann nur vom Sieger durchgeführt werden, was (1) seine absolute Kontrolle über den Entnazifizierungsprozess und (2) die Macht, diese Kontrolle zu gewährleisten, voraussetzt. In dieser Hinsicht kann ein entnazifiziertes Land nicht souverän sein… Der Name „Ukraine“ kann offensichtlich nicht als Titel eines vollständig entnazifizierten Staatsgebildes in einem vom Naziregime befreiten Gebiet beibehalten werden.“
Heinrich Himmlers Posener Rede vom 4.10.1943
Dieser Artikel unterscheidet sich in nichts, aber auch in in gar nichts von Heinrich Himmlers Posener Rede vom 4.10. 943 vor der SS. An sie soll erinnert werden, muss erinnert werden.
„Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.[…]“
„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse, ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.[…]“
Niemand darf das vergessen, niemand darf es wegdiskutieren: weder den Artikel des Russen, noch die Rede des Deutschen. Und trotzdem: „Die Russen“ sind nicht böse. „Die Deutschen“ sind nicht böse. Weil es „die Russen“ und „die Deutschen“ nicht gibt. Und deshalb geht es nur zusammen: der entschlossene Kampf gegen das Böse bei gleichzeitiger (!) Bewahrung der Überzeugung, des Wissens: „De meeste mensen deugen“ – Die meisten Menschen taugen (so der niederländische Originaltitel von Rutger Bregmans Buch „Im Grunde gut“ ) .
Wir brauchen „Zauderer“!
Wir brauchen Menschen, die fälschlicherweise als „Zauderer“ diffamiert werden, wir brauchen Menschen, die das „Einerseits“ und das „Andererseits“ bedenken und beidem gerecht werden wollen: Verbrechen müssen gestoppt werden müssen, auch mit Waffengewalt. Aber auch: es muss abgewogen werden, es muss weiter gedacht werden als über den Tag hinaus.
Wenn man dem Impuls zu „entschlossenem Handeln“ nachgibt, nach dem jetzt fast alle rufen und den ich von mir selbst nur zu gut kenne, können wir uns in Bälde in einer Situation wiederfinden, in der fast alle sagen „das haben wir so nicht gewollt!“
Dem Druck standzuhalten, die Last der Verantwortung auf sich zu nehmen, ohne wirklich wissen zu können, was richtig ist – da gibt es Einfacheres. Hoffentlich behalten diese Menschen das letzte Wort. Denn das sind die wirklich Starken!
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In Vor-Coronazeiten, als es noch um den Brexit ging (ach je, was haben wir uns damals aufgeregt!), habe ich zwei Artikelchen zum Thema Brückenbauen und geschrieben. Ich finde sie immer noch ganz gut:
18. April 2022
Sehr sehr gut, vielen Dank!