Unsere tägliche Triage

Es wird so getan, als sei Triage etwas ganz Schlimmes und Außergewöhnliches und unter allen Umständen zu Vermeidendes. Schlimm ist sie in der Tat, aber außergewöhnlich nun wirklich nicht: Wir betreiben täglich Triage. Von wegen „Vermeidung unter allen Umständen“!

Im Moment (noch… mal sehen wie es in drei, vier Wochen aussieht) bekommt man häufig auf die Äußerung von Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der aktuellen massiven Einschränkungen den Einwand zu hören (manchmal mit moralisch-vorwurfsvollem Unterton), ob man denn befürworte, dass eine 80-jährige keine künstliche Beatmung erhalte, um für einen 60-Jährige das Beatmungsgerät zur Verfügung zu haben.

Ich gestehe, dass mich dieser Argumentation zunehmend gereizt reagieren lässt.

Und zwar aus zwei Gründen:

  1. Ich habe nicht unbedingt den Eindruck, dass die Leute, die so argumentieren, genauso reden und handeln, wenn es nicht gerade um Corona geht.

So. Und jetzt möchte ich mal wissen: Ist jedes Leben gleich viel wert oder gibt es da Unterschiede? Wie erklärt es sich, dass es einmal heißt „whatever it takes!“ und im anderen Fall … ja was? Schulterzucken? Ist halt so?  Richtet sich das danach, ob Bilder in der Tagesschau auftauchen? 

Wir kommen nicht drumherum: Wir machen tagtäglich Unterschiede. Jeder und jede von uns.  Triage, die Menschenleben kosten. Teils, weil wir zu wenig engagiert sind, teils weil es gar nicht anders geht, als abzuwägen. Wir können uns noch nicht mal draufraus reden: Ja das wissen wir aber doch gar nicht, während das mit Corona wissen wir. Die Beispiele, die ich gerade heruntergebetet habe, sind kein Geheimwissen, sondern jedem, jeder zugänglich. Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, um „Triage“ herumkommen. Die Welt ist so. Wir haben sie nicht gemacht. Und unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Das kann ich bedauern, aber ich muss es anerkennen. Was ich tun kann, ist: Moralisch und vernünftig, also nach bestem Gewissen und Wissen zu entscheiden. Aber entscheiden muss ich. Und die Entscheidung für das eine, den einen, ist Entscheidung gegen das andere, den anderen. 

2. Gerade auch was die an Corona Erkrankten betrifft, ist es nicht sonderlich moralisch zu sagen: „Wir retten Menschenleben und dafür darf kein Preis zu hoch sein.“

Doch: ich darf, ich muss in Erwägung ziehen, ob der Preis nicht zu hoch ist. Indem ich nämlich Leben gegen Leben rechne. Wenn die Genesung eines Coronapatienten durch den Tod von einem oder mehreren andern erkauft wird, dann ist das nicht nur eine berechtigte, sondern eine hochmoralische Frage. Gewiss keine einfache. Aber diese zu stellen und zu bedenken, ist bestimmt moralischer, als nur die linke Seite der Gleichung zu sehen und die rechte Seite außer Acht zu lassen.

Konkret – und meine Liste ist nicht vollständig:

  • In meiner Umgebung gibt es einen Menschen, der aktuell trotz ernsthafter Symptome nicht zum Arzt geht- aus Angst vor Corona. Könnte sein, dass es zu spät ist, wenn er tatsächlich geht. – Eine Physiotherapeutin erzählt: Eine Patientin, dreimal pro Woche Lymphdrainage, sagte wegen Corona alle Termine ab. Jetzt sei der Arm geplatzt. „Das ist höchste Infektionsgefahr.“ Ich bin sicher, das sind nicht die einzigen derartigen Fälle.
  • In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht, zitierte ich vor kurzem. Das galt in Vor-Corona-Zeiten. Menschen, die was davon verstehen, sind sich einig: Durch die Ausgangsbeschränkungen wird häusliche Gewalt zunehmen. Nicht nur gegen Frauen, auch gegen Kinder.
  • Existentiellen Ängste werden zu gesundheitlichen Krisen führen, die tödlich enden können, sei es z.B. im Herzinfarkt oder im Suizid.
  • Ältere, besonders alleinstehende Menschen werden sozial völlig isoliert. Das wird vorhersehbar bei manchem zum vorzeitigen Tod führen.
  • Wer depressiv ist, ist durch die Einschränkungen besonders gefährdet – auch hier gehen realistische Einschätzungen von einer Zunahme der Suizide aus.
  • Deutschland nimmt seit einigen Tagen keine Flüchtlinge mehr aus humanitären Gründen auf. Glaubt jemand, dass das ohne Todesfälle abgeht? (Zur geflissentlichen Illustration: https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-angst-auf-lesbos-die-kinder-fragen-ob-sie-an-dem-virus-sterben-werden-a-104f11f4-6be8-4632-a504-c081a0de6f86)
  • Und gerade weil es die Alten trifft (aber natürlich in der Folge auch ganze Familien): Die Meldung vom 24.3.20 ist ein klassischer Fall, wohin es führt, wenn man Maßnahmen nicht bis zum Ende durchdekliniert: „Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) rechnet nach Recherchen des ARD-Magazins Report Mainz kurzfristig mit einem Versorgungsnotstand, wenn Betreuungskräfte aus Osteuropa in Deutschland fehlen. Viele von ihnen verlassen aus Angst vor der Corona-Krise Deutschland. Wenige Osteuropäerinnen kommen derzeit aber als Ersatz nach. Auch Wartezeiten von bis zu 15 Stunden an der Grenze schrecken ab. ‚Wir rechnen damit, dass ab Ostern 100.000 bis 200.000 Menschen schrittweise nicht mehr versorgt sind, dass sie alleine zuhause bleiben und dass sie dann in Altenheimen oder Kliniken versorgt werden müssen“, sagt der Geschäftsführer des Verbandes, Frederic Seebohm. Sie müssten zusätzlich zu jenen Menschen betreut werden, die sowieso jetzt schon in Altenheimen und Kliniken versorgt werden, warnt er‘.“ (https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/corona-pflegekraefte-notstand-101.html). Zu wie vielen vorzeitigen Todesfällen wird das führen?
  • Um schließlich noch meinen Sohn zu zitieren, der wiederum einen Menschen des niederländischen Radios zitierte: „Heute morgen hat beispielsweise ein Sprecher darauf hingewiesen, dass es einen statistischen Zusammenhang gibt zwischen „Rezession“ und Gesamtmortalität in einer Gesellschaft. Sprich: Während einer Rezession sterben mehr Menschen als (im vergleichbaren Zeitraum) bei guter wirtschaftlicher Entwicklung. Und zwar – das war ihm wichtig zu betonen – quer durch die Gesellschaft (also nicht „nur“ alte Menschen mit multiplen Vorerkrankungen). Über die Gründe äußerte er sich nicht. Aber seine Schlussfolgerung war klar: Wir erkaufen uns die geringere Anzahl von Toten in der Gegenwart mit einer erhöhten Anzahl von Toten in der Zukunft. Die irgendwann auch mal Gegenwart sein wird.“

Erstaunlicherweise bringt die FAZ im Moment recht gescheite Artikel zu dieser Problematik.

Zum Beispiel am 24.3.20 von der ehemaligen Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff „Geschlossene Gesellschaft“. Darin schreibt sie einen Satz, „Die Angewiesenheit auf Fachwissen bedeutet nicht, dass über alle zu treffenden Maßnahmen der medizinische Sachverstand zu befinden hätte. Geboten ist Abwägung zwischen allen konkurrierenden Belangen.“ Dem könnte ich noch einiges hinzufügen. Lasse es aber bleiben.

27.3.20. Selbst der Spiegel lässt jetzt andere Stimmen zu Wort kommen:

Epidemiologe über Corona: „Die Maßnahmen dürfen nicht schlimmer sein als die Krankheit“:

SPIEGEL: Kann man die Gefahr, die vom Virus ausgeht, aufwiegen gegen den Schaden, der durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus entsteht? 

Krause: Wir müssen es tun – auch wenn wir dafür keine mathematische Formel haben. Es gibt inzwischen mehrere Modellrechnungen zu der Frage, mit welcher Strategie wir das neuartige Coronavirus am besten bekämpfen sollen. Aber dabei werden immer nur die Covid-19-Toten errechnet, und die gesundheitlichen Schäden durch Bankrott und Arbeitslosigkeit in Folge der Maßnahmen sind meist nicht berücksichtigt. Ich weiß, dass das heikel und methodisch schwierig ist, aber es wäre durchaus möglich, auch dies in die Modellrechnungen einzubeziehen. Außerdem fände ich es angemessen, dabei nicht nur die Anzahl der Verstorbenen gegeneinander aufzuwiegen, sondern auch die Lebensjahre, die verloren gehen. Das gibt jüngeren Toten mehr Gewicht – und ist Standard, wenn man die gesellschaftlichen Auswirkungen von Krankheiten untersucht.

(Der ganze Artikel ist kostenpflichtig, trotzdem das Link: https://www.spiegel.de/gesundheit/epidemiologe-ueber-corona-wir-wissen-in-wahrheit-nur-sehr-wenig-a-972772a4-98f7-49ea-a279-c1590a59f6f1)

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