„Man kann nicht ’s Weckli und ’s Fünferli“ – Wie Japan zum Vorbild der Corona-Krisenbewältigung gemacht und der Preis unterschlagen wird

Je länger die Corona-Krise dauert, umso mehr häufen sich die „guten Ratschläge“, man solle sich doch in den Ländern umsehen, bei denen das Corona-Virus schon so gut wie ausgestorben sei.

Nur der Vollständigkeit erinnere ich an den so erfolgreichen zweiten Lockdown in Frankreich: Die Infektionszahlen seien – anders als in Deutschland – in kürzester Zeit rapid gesunken. Ach wann begreifen es die tumben Deutschen: Strenge tut not. Je strenger umso erfolgreicher!!! Unterschlagen wird (neben einigem anderen), dass die Zahl der mit/an Covid 19 Verstorbenen in Frankreich viermal höher ist als in Deutschland… und auch deutlich höher als in Schweden. (Das kann ich mir einfach nicht verkneifen.)

Aber vor allem geht es um „die asiatischen Länder“ und deren Vorbildlichkeit. Naja, muss man muss nicht gerade China als Beispiel nehmen, das ist denn doch ein bisschen zu viel Überwachung und Kontrolle. Und ob die Zahlen so stimmen wie sie sollten…

Aber Japan, Taiwan und Korea. Einfach toll wie die das gemacht haben! Disziplin! Und zwar eisern!  Zusammenhalt. Keine Egoismen! 

Irgendwer fragte in einem Forum, was in deutschen Kindergärten schief liefe, dass die Kinder hierzulande nicht so diszipliniert seien wie in Japan etc. Das müsse sich ändern. Und zwar pronto!

Gestern bei Anne Will (guck ich nicht an, kann man ja nachlesen, wenn’s unbedingt sein muss):

Corona-Talk bei Anne Will (ARD): Deutschland wirkt im Gegensatz zu Asien wie ein Seuchenpfuhl

„Hier bringt bei Anne Will die Zeit-Online-Redakteurin mit vietnamesischen Wurzeln, Vanessa Vu, die ostasiatische Perspektive ins Spiel: In Ländern wie Vietnam, Taiwan, aber auch im demokratischen Japan sind die Ansteckungszahlen weitgehend unter Kontrolle, in Vietnam gab es seit Beginn der Pandemie gerade mal 1300 Infektionen. Demgegenüber wirkt Deutschland mit einer Million Infektionen wie ein Seuchenpfuhl. Einen „zynischen Umgang mit der Krankheit“ wirft Vu in der ARD den hiesigen Politikern vor…“.

Diese Kritik ist allzu billig. Denn sie unterschlägt, um welchen Preis dieser Erfolg zu haben ist. Bevor wir sagen: „Machen wir’s den Japanern nach“, sollten wir uns an das erinnern, was wir vermutlich schon hier und da über die japanische Gesellschaft gelesen haben und gar nicht so nachahmenswert fanden. Gehorsam, Autoritätshörigkeit, möglichst kein Individualismus, Arbeitsbedingungen, die wir eher dem 19. Jahrhundert zuschreiben würden, Drill vom Kindergarten an, Auslese, Beschämung.

Ich hab mal auf die Schnelle ein paar Artikel zusammengestellt,  

Zu den Arbeitsverhältnissen:

Wollen Sie das wirklich, dass Ihr Partner, Ihre Partnerin erschrocken nachfragt „bist du gefeuert?“, wenn Sie statt um 21 Uhr schon um 18.30 Uhr nachhause kommen?

Die meisten Japaner haben Anspruch auf 20 bis 25 freie Tage im Jahr, plus Feiertage. Sie nehmen aber in der Regel maximal vielleicht 15 Tage frei. Den Rest heben sie sich auf, falls sie krank werden. Denn Fehltage wegen Krankheit werden, im Gegensatz zu Deutschland, von den Urlaubstagen abgezogen. Wenn ein Japaner Urlaub nimmt, macht er das fast entschuldigend, anstatt es als sein Recht wahrzunehmen.“

Oder ein Interview mit einem, der in Japan als Europäer Vorgesetzter war.

 ZEIT ONLINE: Ein Recht auf acht freie Tage im Jahr für einen Vollzeitbeschäftigten ist eine Maximalforderung?

Hirlinger: Ja, so kann man das formulieren. Wenn ein Mitarbeiter eines traditionellen japanischen Unternehmens mal fünf Tage Urlaub nimmt, ist das eine Ausnahme. Generell arbeiten die Japaner sehr viel und sehr lange. Zwölf bis 13 Stunden am Tag sind keine Ausnahme. Ich habe mehrmals erlebt, dass Mitarbeiter auch am Wochenende in die Firma kamen. Das musste ich ihnen erst verbieten, einer hat darauf sogar noch geantwortet: „Hirlinger San, ich habe ein Anrecht auf Arbeit!“ Da habe ich gesagt: „Natürlich haben Sie das, aber nicht am Wochenende – so viel haben wir gar nicht zu tun.“ Das hat er kaum verstanden. Eine andere Welt! 

Oder Stichwort Karoshi_

„War man früher der Meinung, dass vor allem Büroangestellte Karoshi erleiden, muss man mittlerweile feststellen, dass zunehmend junge Leute und auch immer mehr Frauen betroffen sind. Dabei werden zwei Arten von Karoshi anerkannt: Zum einen der Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Überarbeitung. Zum anderen Selbstmord, der infolge psychischer Überbelastung begangen wird (zum Beispiel wenn ein Angestellter 160 Überstunden oder mehr im Monat aufweist)… Das 1988 gegründete Karoshi-Netzwerk schätzt die Zahl derer, die arbeitsbedingt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben, jährlich auf 10.000 Menschen.“

Oder ein Blick in die Schule:

Schuluniform ist an Japans Schulen Pflicht und Individualität unerwünscht.

Helle Haare sind verboten und Mädchen müssen weiße Schlüpfer tragen. Gegen diese Regeln in japanischen Schulen gibt es immer mehr Widerstand. Querdenker suchen schon lange andere Wege, nun drängt auch die Regierung auf Reformen.

Ach ja, da ist auch da nicht mehr alles wie es war… Und natürlich es sind mal wieder die „Querdenker“, die den Frieden stören. (Die Sendung des Deutschlandfunks stammt vom 20.2.20… also aus einer Zeit, wo „Querdenker“ noch nicht negativ konnotiert war.)  

Und geprügelt wird durchaus auch. Und gemobbt. Bei aller Harmonie der Gesellschaft:,

„Die Prügelstrafe ist verboten, doch sie werde nach wie vor eingesetzt, räumen die Schulbehörden ein. „Zur Abhärtung“, wie es heißt. Nach einem ähnlichen Selbstmord vor einem Jahr in einem Basketball-Team in der Präfektur Aichi sagte ein Mitschüler des Toten, als Schüler nähmen sie die Prügel hin, weil sie sonst ihre sportlichen Ambitionen aufgeben müssten.

Der Blick auf die jüngsten Selbstmorde zeigt ein weiteres Problem. Denn Halt in der Gruppe suchen die Schüler oft vergeblich, im Gegenteil: Zuweilen sind Mitschüler ihre schlimmsten Feinde. 2011 haben die Behörden 70.000 Fälle von Mobbing durch Mitschüler registriert. Die Dunkelziffer ist hoch. Von vier gemobbten Kindern ist bestätigt, dass sie vergangenes Jahr keinen anderen Ausweg sahen als Selbstmord“.

Nun gut, wenn ich die hiesigen Zeitungen lese, dann gibt es das bei uns auch – gerade im Sport. Aber ich glaube nicht in diesem Ausmaß.

Und mit dem Schulbesuch ist es nicht getan. Gute japanische Eltern sind wie hierzulande um die Zukunft ihrer Kinder besorgt. Und das geht nicht ohne „Drillschulen“. Zusätzlich zum Schulunterricht.

Wir verkaufen die Zukunft der Kinder“: Wie japanische Drillschulen Schüler erfolgreich machen sollen

In Japan wächst der Markt für private Drillschulen für Schuleingangstests. Vor allem die Eltern versprechen sich davon eine gute Karriere für ihre Kinder.

Wobei ich glaube, die Überschrift „Wir verkaufen die Zukunft der Kinder“ ist nicht so gemeint, wie man sie auf den ersten Blick versteht, nämlich dass man den Kindern ihre Zukunft stiehlt. Eine gute menschliche Zukunft. Vielmehr: Wir verkaufen den Drill, der  in Japan notwendig ist, um beruflich eine Zukunft zu haben – und allein darauf kommt es an. Alles andere ist Schande.  

Weil der „gute Beruf“ so wichtig ist, spielt „Kindheit“ (also, ich meine das, was wir hierzulande unter „Kindheit“ verstehen) keine Rolle… nicht mal genügend Schlaf ist ihnen vergönnt:  

„Harter Drill, irrwitziger Leistungsdruck, krankhafter Ehrgeiz: In Japan führen schon die Kinder ein extrem stressiges Leben, das ihnen kaum Zeit zum Schlafen lässt. Experten schlagen Alarm.

Bereits um 5 Uhr morgens stehe ihre Tochter auf, um zu büffeln. „Sie zieht sich an, frühstückt und lernt dann, bis sie zur Schule geht“, schreibt eine japanische Mutter in einem Online-Forum der Tageszeitung „Yomiuri Shimbun“.

Ihre noch zur Grundschule gehende Tochter pauke dermaßen besessen für die Aufnahmeprüfung in eine angesehene Junior High School, dass sie sich Sorgen um ihr Kind mache. „Nach der Schule macht sie Hausaufgaben, kurz nach vier nimmt sie ein leichtes Essen ein, geht dann zur Paukschule…“

Ja, in einer solchen Gesellschaft, da kann man in Zeiten von Corona Dinge durchsetzen, die hier nicht durchsetzbar sind. Keine Frage.

Wollen wir eine solche Gesellschaft?

Man kann das eine nicht ohne das andere haben – und es ist mindestens albern, vielleicht aber mehr als das, uns eine Lösung vorzugaukeln, wenn man das Preisschild weglässt.  

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