Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Von Rainer Maria Rilke (1898)
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Auf dieses Gedicht wurde ich durch das Hörbuch „Unverfügbarkeit“ des Soziologieprofessors Hartmut Rosa aufmerksam (dem Hörbuch liegt sein Buch von 2019 „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ zugrunde). Es hat mich bei der am morgigen Sonntag (17.10.21) endenden Badesaison des Oberkircher Freibads begleitet, was wohl der Devise „Mens sana in corpore sano“ entspricht. Möglich wurde es – horribile dictu! – durch die Verfügbarkeit des wasserdichtem i-pod-shuffle.
Hartmut Rosa – wie ich in Lörrach geboren (so etwas verbindet) – hat den Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Außerdem erhielt er 2018 den Erich-Fromm-Preis, was auch ein bisschen eine Verbindung zu mir bedeutet: Johannes – mein verstorbener Mann – war Gründungsmitglied der Erich-Fromm-Gesellschaft.
Hartmut Rosa einen „Kapitalismuskritiker“ zu nennen, wäre vielleicht ein bisschen verkürzt, aber trifft doch etwas Wichtiges, schrieb er doch 2013 „Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“. Sehr lesens- bzw. hörenswert, fand ich.
In der Besprechung des „Resonanz“- Buchs durch den Deutschlandfunk unter dem Titel „Antwort auf die kapitalistische Entfremdung“ heißt es:
„Steigerungszwang“ des modernen Kapitalismus
Die Ursache dafür, dass wir uns die Welt nicht mehr in einem wechselseitigen Prozess aneignen, sondern sie beherrschen und verdinglichen wollen, sieht Rosa in dem endlosen, sich selbst reproduzierenden „Steigerungszwang“ des modernen Kapitalismus. Auf diese Weise brächen die „Resonanzachsen“ zusammen: Der „vibrierende Draht zwischen uns und der Welt“ werde zugunsten einer instrumentellen Logik der Verwertbarkeit gekappt.
Die Konsequenzen seien verheerend: ‚Das Leben gelingt nicht dann, wenn wir reich an Ressourcen und Optionen sind, sondern wenn wir es lieben.‘ Statt Resonanz werde ein Zustand der Entfremdung erzeugt, der für Rosa mit der Urangst des Menschen vor dem Verstummen der Welt zusammenhängt.“
Rainer Maria Rilke schrieb das Gedicht 1898. Ich finde, es hat uns noch heute etwas zu sagen. Oder besser: Es hat uns heute noch mehr zu sagen als vor 123 Jahren.