Corona- Splitter vom August 2022

Selektive Aufmerksamkeit – ein ständiges Ärgernis

Ich wollte eigentlich nur auf einen Spiegel-Artikel vom 18. 8. 22 verweisen mit einem bissigen Kommentar:

Risikofaktor Luftverschmutzung: Wie Wohnort und schwere Coronaverläufe zusammenhängen

Forschende an der Berliner Charité haben einen weiteren Faktor für eine schwere Covid-Erkrankung untersucht. Die Studie zeigt: Wer in einer Umgebung mit hoher Luftverschmutzung lebt, trägt ein höheres Risiko.“

Bissig zum einen, weil die Politik zwar bereit ist Milliarden Coronatests, Coronamasken usw. (einschließlich fetter Provisionen) auszugeben, aber was zum Beispiel der Risikofaktor „Luftverschmutzung“ angeht, … Nun, es wird nicht gerade mit der Schulter gezuckt, aber viel wird auch nicht passieren. (Nebenbei: es geht nicht nur um Luftverschmutzung als Risikofaktor bei Corona sondern – um wieder den Spiegel zu zitieren (15. 11. 21)Feinstaubbelastung verursachte mehr als 300.000 Todesfälle in der EU“. Jährlich – wohlgemerkt!).

Bissig zum anderen, weil der Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Corona ein alter Hut ist. Mindestens hatte man schon ziemlich zu Beginn der Pandemie die Vermutung, dass die hohe Covid-Todesraten nicht zufällig mit extremer Luftverschmutzung korrelieren.

Im Deutschlandfunk gab es bereits im April 2020 eine Sendung dazu:

Coronavirus Beeinflussen Luftschadstoffe die Zahl der COVID-19 Todesfälle?

Wenn man genauer hinschaut, dann ergeben sich fünf regionale Hot Spots mit der Mehrzahl der Toten. Vier davon liegen in Norditalien: Das sind die Lombardei, Emilia-Romagna, Piemont und Venetien. Hinzu kommt noch Spaniens Hauptstadt Madrid. Lauter Regionen, in denen auch die Konzentrationen von Stickstoffdioxid hoch sind.“

Auch der Zusammenhang zwischen sozialem Status und schweren Covid-Krankheitsverläufen ist ebenso ein alter Hut: Am 9.4.20 konnte man in der Süddeutschen lesen, dass in den USA bei den ärmeren Schwarzen die Todeszahlen ein Vielfaches höher lag als bei den – in der Regel wohlhabenderen – Weißen.

Bereits ein Jahr später, am 18.4.21 berichtete ich von – Obacht! eine Studie des RKI über den Zusammenhang von Coronaerkrankung und Sozialstatus.

Und was ist passiert, was passiert, was wird passieren, um an diesen Risikofaktoren etwas zu ändern?

Vorhersehbar nichts! Kampf für bessere Luft oder gerechte Einkommensverteilung – das ist einfach nicht so sexy, wie die Suche nach einem neuen Impfstoff, Diskussion zur Masken- und Testpflicht.

Manche Gesundheitsthemen schaffen es, sich in den Vordergrund zu drängen – und dafür ist dann Geld da. Viel Geld. Für anderes eben nicht. Auch nicht ein bisschen. Manchmal kommt es mir so vor, als würde hier sowas wie der geschickte Einsatz von Werbeagenturen darüber entscheiden, auf was die Aufmerksamkeit gelenkt wird – und wo sich dann alle einig sind „da muss man was tun, koste es was es wolle.“

Mich macht das wütend.

Corona vor 2 Jahren und 4 Monaten im „Spiegel“: „Wir brauchen viel härtere Maßnahmen“

Wir haben nicht nur eine selektive Wahrnehmung, sondern auch ein kurzes Gedächtnis. In meinem Psychologiestudium habe ich gelernt dass die Verknüpfung mit Emotionen die Erinnerung verbessert. Ich kann das bestätigen: es ist jetzt über zwei Jahre her, da habe ich mich tierisch über einen Spiegel-Kommentar geärgert von einer gewissen Rafaela von Bredow.

Ich zitiere einfach mal daraus, in der leisen Hoffnung, dass damit ein kleiner Beitrag zu leisten, die Skepsis gegenüber „den Experten“ und ihren medialen LautsprecherInnen zu stärken. Es geht nicht darum, „Expertentum“ als etwas Lächerliches darzustellen. Es geht darum, sich klarzumachen, dass Experten genauso irren können, manchmal auch interessengeleitet sind – genau wie wir Normalos auch. Blöderweise vergessen nicht nur wir das häufig, sondern nach meinem Eindruck „die Experten“ noch viel öfter.

Wo sind die Kinder, die rufen „der Kaiser ist nackt!“?

 Aber nun zu Frau von Bredow: unter der Überschrift „Wir brauchen viel härtere Maßnahmen“ schrieb sie am 17.4.20 den Spiegel-Leitartikel(!!) – Und manchmal glaube ich, dass nichts dauerhafter wirkungsvoll ist als –  wie in dem Märchen – die Nacktheit des Kaisers zu benennen: Leute, schaut hin!

Wer seinen betagten Eltern bislang nicht Skype oder Facetime erklärt hat, sollte es demnächst tun. Es lohnt sich. Leider. Die lieben Großeltern werden noch lange in Isolation leben. Und womöglich müssen sie sich in den kommenden Jahren wieder und wieder zurückziehen. Für Monate. Ohne Enkel, ohne Umarmungen, ohne Nähe.

Solange wir ein Inferno wie in Italien oder Spanien verhindern wollen, müssen wir eine Isolierung, wie wir sie bisher hatten, aufrechterhalten. Dass wir bis 2022 damit leben müssen, ist keine Panikmache, sondern ein realistisches Szenario. Ein Team um den Harvard-Forscher Stephen Kissler hat das jetzt für die USA berechnet. Die zugrunde liegenden Zahlen unterscheiden sich von den deutschen, aber die Dynamik dürfte sich ähneln […]

[…]Es kann noch vieler Monate, vielleicht Jahre des Shutdowns bedürfen, um das Virus zu bezwingen. Aber weil die Sonne scheint und die Menschen den Shutdown satthaben, werden die bad news nicht gern gehört. Manche Politiker sind deshalb in Versuchung, das wissenschaftliche Fundament für die vom Wahlvolk erwarteten Lockerungen selbst zu bestellen.

Im Nu verwandeln die Kleinen ihre Schulen in Virus-Hotspots

So geschah es zuletzt mit der Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck. Im Dienste seines ehrgeizigen Landesvaters Armin Laschet ließ Streeck sich dazu hinreißen, seine Ergebnisse zu eilig und ohne Absicherung durch kritische Kollegen zu verkünden. Politisch wurde die nur im Testgebiet relativ hohe Durchseuchung – und damit erhoffte Immunität – missbraucht als Argument für Wege aus dem Lockdown für ganz Deutschland.

Die Bundeskanzlerin ist selbst Naturwissenschaftlerin […] Ihr dürfte auch klar sein, dass die nun mit den Ministerpräsidenten beschlossenen Lockerungen des Shutdowns wissenschaftlicher Unsinn sind.

Nehmen wir nur die in Aussicht gestellte Öffnung von Grundschulen unter der Maßgabe, dass die Kinder die Hygieneregeln beachten. Im Ernst? Wer soll Neunjährige daran hindern zu raufen, zu tanzen, zu toben? Im Nu verwandeln die Kleinen ihre Schulen in Virus-Hotspots; die Infektionszahlen steigen, ein neuer Shutdown à la Kissler wird fällig.“

Was ist aus dem Artikel zu schließen? Zum einen, dass Frau von Bredow vermutlich keine Kinder mag… Andere Schlussfolgerungen überlasse ich Ihnen, wenn Sie diese „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ von vor 2 Jahren und 4 Monaten, mit dem vergleichen, was heute als „wissenschaftlich erwiesen“ gilt und was in 2 Jahren und 4 Monaten aller Voraussicht nach wiederum ein kleines bisschen anders gesehen werden wird.

Wissenschaftliche Erkenntnisse – Produkte mit begrenzter Haltbarkeit

Mein Sohn hat mich dankenswerter Weise daran erinnert: Es war 2020 – da zitierte eine Kollegin in einer Psychotherapeuten-Mailingliste eine vom Mainstream abweichende Meinung (wenn ich mich erinnere, war es was von Herrn Wodarg). Darauf wurde sie von vielen KollegInnen hart angegangen, von einem aber ganz besonders: sie solle auf der Stelle aufhören, solchen Unsinn publik zu machen. Er zog den Vergleich zu Leugnern des Klimawandels, die genauso absolut in der Minderheit seien und seiner Ansicht ja ganz offensichtlich grenzdebil. Ich bin der Kollegin bei gesprungen und habe ihm geantwortet:

15.3.20

Lieber Herr XY.

Tja…. „97% der Klimaforscher bejahen den Klimawandel“. (ich auch übrigens. Wobei – um sprachlich ganz korrekt zu sein: Ich bejahe nicht den Klimawandel, sondern ich bin überzeugt, dass es ihn gibt.) Und was folgt daraus? 97% der Klimaforscher bewerten die Forschungsergebnisse exakt gleich und 97% der Klimaforscher haben exakt dieselben Vorschläge, wie der Klimawandel einzudämmen ist. Und alle PolitikerInnen handhaben das so und alle andern von Greta Thunberg bis zum Arbeitgeberpräsidenten ebenfalls….Anscheinend habe ich da was nicht mitgekriegt. Oder aber: Genau da liegt der Hund begraben. Es geht nicht um Leugnung von Fakten, sondern um deren Bewertung, Gewichtung und  die Folgerungen, die daraus gezogen werden (inclusive der Frage: Was ist interessengeleitet)  Und da kann man eben nicht einfach sagen: „Die, die das nicht so bewerten wie ich, das sind die Leugner, die Bösen, die Ignoranten, die Nichts-Kapierer. „

 Das ist das eine. Das andere: Da ich aufgrund meines Alters nicht nur der Corona-Risikogruppe zugehöre, sondern auch häufiger mitgekriegt habe, wie das, was „wissenschaftlich erwiesen“ war zehn Jahre später in die Tonne getreten wurde, hat das irgendwas mit meinem kindlichen Vertrauen in Expertenmeinungen gemacht.

An dieser Stelle erinnere ich nur an eins (ich könnte Seiten füllen über all das was mal 100% -Konsens der Experten war!!!): Während meiner analytischen Ausbildung gab es wundervolle Theorien zur (natürlich notwendigen) Behandlung von Homosexuellen. Und bei meinem Psycho-Studium an einer VT-Fakultät habe ich gelernt, dass man Homosexuelle mit Elektroschocks heilen kann. Aus dem Katalog für Krankheiten der WHO wurde Homosexualität 1990 gestrichen und strafbar war sie in Deutschland bis 1994. Und ich garantiere Ihnen: Bei einer Befragung unter Medizinern/Psychologen damals wäre man mit Sicherheit auch auf eine Zustimmung von 97% gekommen, dass Homosexualität eine Krankheit sei. So lange ist das nicht her…

 Was heißt das? Ganz bestimmt nicht, dass man pauschal alles für Blödsinn erklären soll, hat auch nix mit Relativismus zu tun à la: ist ja eh alles wurscht (dazu sei die Lektüre von Popper empfohlen). Aber – um Kant zu zitieren – „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

 Was m.E. aber nicht so hilfreich ist: Für Äußerungen, die einem nicht passen, die Zensur zu empfehlen (nichts anderes war die Aufforderung, die Verbreitung des Artikels zu unterlassen). Genau das ist das, was die Leugner des Klimawandels machen.

Hilfreich ist nur die wache und kritische Auseinandersetzung mit möglichst vielen Meinungen und ein bisschen von der Bescheidenheit des Sokrates nicht nur bei uns, sondern auch bei den „Experten“: Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

 Mit freundlichem Gruß

Ursula Neumann  

Mal wieder: Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Deshalb: bei aller Skepsis gegenüber der eigenen Weisheit ist genauso Skepsis gegenüber der Weisheit der anderen geboten. Mehrheit ist nicht immer ein Argument. Kann man schon bei Schiller in „Demetrius“ nachlesen („Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.“), aber damit quäle ich sie jetzt nicht. Aber es ist mal wieder der Ort, wo Immanuel Kant (1724-1804) zu zitieren ist:

Der Wahlspruch der Aufklärung

„Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.[…] Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“

Kommentare

  1. Brigitte Gutmann
    9. September 2022

    Hallo Frau Neumann,

    Ihr Blog zeigt mir, dass Sie gute Lektüre pflegen und diese reflektieren. Man kommt ins Nachdenken.
    Außerdem ist der Blog interessant gestaltet. Schade, dass ich ihn erst jetzt entdecke..

    Herzliche Grüße Brigitte Gutmann

    Antworten

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