„An oder mit Corona gestorben“ – Zahlen, Fakten, Interpretationen

Die Todeszahlen, die täglich in den Nachrichten kommen, sind bedrückend. Heute (2.1.21) meldet das RKI  336 Todesfälle (gesamt 33 969). Ist es pietätlos, wenn ich kritisiere, dass diese Todesfälle vom RKI nach wie vor pauschal als „COVID-19 Todesfälle“ bezeichnet werden? Oder wenn ich daran erinnere, dass 2019 insgesamt 939 520 Menschen starben (täglich also im Schnitt 2574 Menschen), das waren 1,9% weniger als im Jahr zuvor, ohne dass jemand auf die Idee käme von „Untersterblichkeit“ zu sprechen.

Vielleicht hat Corona das Gute: Der verdrängte Tod drängt ins Bewusstsein. Dass wir langfristig alle tot sind, konnte gut ausgeblendet werden und ich vermute, dass es auch deshalb als geradezu unanständig empfunden wird, nüchtern über Tod und Todesursachen zu sprechen. Was mich nicht daran hindert.   

Von Berufs wegen bin ich gewohnt zu unterscheiden zwischen „auslösendem Faktor“ und bereits zuvor bestehendem seelischen Konflikt/neurotischer Entwicklung: Ein belastendes Ereignis, beispielsweise eine Trennung hat auch bei einem „seelisch gesunden“ Menschen Schmerz, Trauer, Selbstzweifel zur Folge, aber bei einem Menschen, der sein Leben lang immer wieder Schlimmes zu ertragen hatte, kann es der Tropfen sein, der das Fass zum überlaufen bringt. Hier zu sagen „er ist wegen der Trennung depressiv geworden / die Trennung ist schuld, dass er sich das Leben nahm“, greift zu kurz und ist deshalb unwahr. 

Vermutlich käme auch niemand auf die Idee als Unfallursache anzugeben “er hat die rote Ampel überfahren“, wenn bekannt wäre: Der Fahrer war alkoholisiert, hatte den Führerschein seit zwei Monaten und telefonierte gerade mit seiner Freundin.

Nicht mehr und nicht weniger Differenziertheit wünsche ich mir im Umgang mit den „Covid-19-Todesfällen“.

 

Da wäre zunächst der Faktor Alter

Jetzt bitte keine moralische Empörung. Dass (sehr viel) mehr alte Menschen an Corona sterben, ist eine genauso wertungsfreie, sachliche Feststellung wie „an Brustkrebs sterben deutlich mehr Frauen als Männer – und an Prostatakrebs nur Männer“. Im einen Fall ist das Alter ein vermutlich genauso unvermeidbarer Risikofaktor wie im andern Fall das Geschlecht.

Die Zahlen vom Dezember: 87% der „Corona-Toten“ waren über 70 Jahre alt. Genauer aufgeschlüsselt:

  • 21,1% über 90 Jahre alt,
  • zwischen 80 und 89 Jahren 45,2%,
  • zwischen 70 und 79 Jahren 21,0% .
  • Dann gehen die Zahlen steil nach unten: die 60-69Jährigen machen 8,5% aus,
  • die 50-59Jährigen 3,1%,
  • zwischen 40 und 49 Jahren waren 0,8%.
  • Alles was darunter liegt (also alle BundesbürgerInnen von 0 bis 39 Jahren) schlägt mit 0,3% (!) aller unter Covid-19 verbuchte Todesfälle zu Buche.

Es liegt in der menschlichen Natur, dass die Wahrscheinlichkeit bald zu sterben, mit 80 deutlich höher liegt als mit 40. Corona hin oder her. Klar: jemand, der es bis zu seinem 80. Geburtstag geschafft hat, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit auch 90 Jahre alt zu werden, als ein Dreißigjähriger. Aber: Diese Wahrscheinlichkeit ist nicht die gleiche für den fettleibigen und an Bluthochdruck leidenden Achtzigjährigen und die fitte und gesundheitsbewusste Gleichaltrige.

Wieviel Lebensjahre haben „Corona-Tote“ verloren?

Ich habe leider kein eigenes Forschungsinstitut, sondern nur meinen Kopf, einen Hang zur Recherche und so viel rudimentäre Kenntnis von Statistik, dass ich immerhin um deren Fallstricke weiß. Damit lassen sich wenigstens Fragen stellen. Zum Beispiel: Im Mai 2020 kam in der Tagesschau ein Bericht, der auf einer britischen Untersuchung über Covid-Todesfälle fußte. Nach dieser britischen Studie sollen Männer, die an Covid-19 gestorben waren (nach Abzug der geringeren Lebenserwartung aufgrund von Vorerkrankungen) 13 Jahre früher gestorben sein, als zu erwarten gewesen wären, Frauen 11 Jahre früher. In Deutschland hätten – laut Tagesschau – „bundesweit“ Männer noch durchschnittlich 10,7 Jahre und Frauen noch 9,3 Jahre gelebt, wären sie denn nicht an Corona gestorben. Dass es in Bremen bei den Männern 14,2 Jahre sind, in Niedersachsen aber 9,3 Jahre ließe sich noch mit statistischen Ausreißern erklären, kann aber auch Hinweis auf eklatante methodische Mängel sein. Auf solche Mängel wird in der Diskussion zu der britischen Studie recht deutlich hingewiesen.

Meine Kritik an solchen Zahlen ist zwangsläufig einfacher gestrickt: 66% der „Coronatoten“ sind über 80 Jahre alt. Ältere Menschen haben laut einer  Broschüre des Statistischen Bundesamts von 2016 (S. 45) eine Lebenserwartung von 85 Jahren, Männer von 81 Jahren. Heute in Deutschland Geborene werden wahrscheinlich im Durchsnitt  83,4 bzw. 78,6 alt (die müssen es nämlich erst mal schaffen, sechzig + zu werden). Wenn einerseits die durchschnittliche Lebenserwartung im günstigsten Fall 85 Jahre beträgt, andererseits zwei Drittel der „Corona-Toten“ älter als 80 Jahre sind, wie kommt man da auf einen Verlust von durchschnittlich einem Lebensjahrzehnt? Das ist in etwa so seriös wie die rechnerisch korrekte Aussage „Jede(r) erwachsene Deutsche verfügte 2017 über 108 499 Euro Vermögen“. Dass dabei das oberste Prozent über 18% des Gesamtvermögens verfügte, die unteren 50%  insgesamt aber nur über 1,3% lässt die Angelegenheit wesentlich anders aussehen. Die insgesamt 12 Kinder unter 10 Jahre, die „an Corona gestorben sind“ hätten in der Tat noch wenigstens 70 Jahre zu leben gehabt. Das ist tragisch. Aber rechtfertigt nicht, diese Zahlen einfach mit den – Stand 22.12.20 – 5861 über 90-Jährigen in einen Topf zu werfen. 

 Der Faktor männliches Geschlecht

Während sich ziemlich genauso viele Frauen wie Männer mit Covid-19 infizieren, gibt es einen beträchtlichen Unterschied bei den Todeszahlen: Weltweit sterben mehr Männer als Frauen „an Corona“. In Deutschland sind die Zahlen ungefähr 60% zu 40%. Offensichtlich haben Frauen einige biologische Vorteile (z.B. ein schneller reagierendes Immunsystem). Aber es wird durchaus ins Feld geführt, dass Frauen deutlich gesundheitsbewusster leben (weniger rauchen, gesündere Ernährung, weniger Übergewicht). So z.B. in der Berliner Zeitung vom 2.11.20: „Warum Covid-19 für Männer gefährlicher ist als für Frauen“   Umgekehrt: Indien scheint das einzige Land zu sein, in dem mehr Frauen als Männer an/mit Covid 19 sterben. Begründet wird das mit Benachteiligung: Frauen seien öfter unterernährt und ihnen würde man weniger medizinische Versorgung angedeiehen lassen.

Ich betone das deshalb, weil seltsamerweise ein Zusammenhang zwischen Lebensumständen/Lebensstil und schwerem/tödlichen Verlauf einer Covid-19 Erkrankung bei der Diskussion über die Rolle “körperlicher Vorerkrankungen“ weitgehend geleugnet wird. Während die Schlussfolgerung für eine unterschiedliche Sterberate von Männern und Frauen heißt  „Frauen sind eher unterernährt“ (Indien), bzw. „Frauen leben gesundheitsbewusster“ (bei uns) ist der Tenor beim Faktor „körperliche Vorerkrankung“: Die Leute sind an Covid-19 gestorben. Basta.     

 

Der Faktor körperliche Vorerkrankung

Im Oktober 2020 schrieb das Deutsche Ärzteblatt, dass neben dem Alter und dem männlichen Geschlecht Vorerkrankungen eine Rolle spielen. Aufgezählt werden Diabetes mellitus, chronische Lungenerkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Nierenkrankheiten, starkes Übergewicht, Immunsuppression und neurologische Erkrankungen. Ob es tatsächlich 97% der „Coronatoten“ sind, die Vorerkrankungen aufweisen, wie der Tagesspiegel im Mai behauptete konnte ich nicht verifizieren, aber unbestreitbar ist: „Der allergrößte Teil litt an einer oder mehreren Vorerkrankungen“.

Aber eigenartiger Weise wird vom Mainstream drauf beharrt: Vorerkrankungen spielen für den Tod der Covid-19-PatientInnen keine Rolle. In einem Bericht des saarländischen Rundfunks heißt es: „Coronavirus trotz Vorerkrankungen meist Haupt-Todesursache. 86 Prozent der obduzierten Corona-Sterbefälle sind hauptursächlich in Folge der Covid-19-Infektion gestorben.“ Noch etwas „pointierter“ titelte die Welt am 27.8.20 „86 Prozent sterben nicht mit, sondern an Corona“.

Hintergrund:

Der Deutsche Pathologenverband hat am 20.8.20 Ergebnisse von Obduktionen veröffentlicht. Was aber unter den Tisch fällt: Die allein schon niedrige Obduktionszahl, über die berichtet wird ist n = 154.  (zum Vergleich: am 5.8. meldete das RKI 9186 Verstorbene.) Von 450 durch die Pathologenverbände angeschriebenen Instituten antworten 68 (die meisten aus Bayern, womit ich nichts gesagt haben will) und von diesen 68 hatten ganze 26 überhaupt Obduktionen durchgeführt. Na, das ist ja sowas von repräsentativ! Um dieses Manko wissen die PathologInnen selbst: ein nicht geringer Teil der Pressemappe ist der Klage über die viel zu geringe Zahl von Obduktionen und – surprise, surprise! – der Forderung nach mehr finanziellen Mitteln gewidmet.

Die Pathologen sind nicht zu schelten. Ihr Job ist es, zu untersuchen, ob bei den von den Gesundheitsämtern „Corona-Toten“ Covid 19 tatsächlich die unmittelbare Todesursache war. Das sind quasi die Leute, die (um beim Beispiel vom Anfang zu bleiben) bei einem Unfall feststellen: Ja, da steht tatsächlich eine Ampel und die zeigte tatsächlich rot. Denn: So ganz sicher ist das nämlich nicht, dass als „Corona-Tote“ verbuchte wirklich unmittelbar an dem Virus starben. Das belegen schon die 14% der Obduzierten, die als „Corona-Tote“ verbucht waren, tatsächlich z.B. an einer unentdeckten Thrombose gestorben sind.

Das Problem liegt vielmehr in der Erfassungsweise der Todesfälle durch die Gesundheitsämter. Die ist fehleranfällig, zumal in Zeiten wie diesen – sei es aus Überlastung, sei es aus Inkompetenz. Die folgende Notiz  stammt zwar schon vom 19.5.20, aber viel geändert hat sich nach meinem Dafürhalten seither nicht: „Der Charité-Epidemiologe Willich vermutet, ‚dass die Gesundheitsämter‘ mit der Übertragung von Risikofaktoren und Vorerkrankungen aus den Totenscheinen ‚strukturell gerade einfach überfordert sind‘. Er betont, dass nicht zwingend die komplette Erhebung der Daten von Covid-19-Toten nötig sei, sondern man durchaus zunächst mit Stichproben aus den Kliniken arbeiten könnte.  ‚Aber selbst die sind in Deutschland erstaunlich schwer zu bekommen‘, sagt er. ‚Viele Krankenhäuser sind darauf mit ihren Datenerfassungssystemen einfach nicht eingestellt‘, sodass diese Daten ‚oft nicht verfügbar‘ seien.“

Mit „fehleranfällig“ meine ich also nicht konstruierte Fälle wie den Unfalltoten, der sich wegen vorausgegangenem positiven Test als“ Coronatoter“ wiederfinden könnte. Aber so ganz von der Hand zu weisen scheint diese Möglichkeit doch nicht:  Die RKI-Sprecherin am 18.11. in der Mainpost „Wir gehen davon aus, dass der hypothetische infizierte Verkehrstote nicht gezählt würde, aber es ist die Entscheidung des Gesundheitsamtes“, sagt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. Theoretisch wäre es vermutlich möglich, dass ein SARS-CoV-2 infizierter Unfalltoter vom Gesundheitsamt als Covid-Todesfall gezählt würde. In der Praxis dürfte das aber nicht oder extrem selten vorkommen, so Glasmacher, so dass es für die Einschätzung der Situation in der Summe keine Rolle spiele.“

Offiziell gilt: „In die Statistik des RKI gehen die COVID-19-Todesfälle ein, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind. Das Risiko an COVID-19 zu versterben ist bei Personen, bei denen bestimmte Vorerkrankungen bestehen, höher. Daher ist es in der Praxis häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2 Infektion direkt zum Tode beigetragen hat. Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind (‚gestorben an‘), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war (‚gestorben mit‘) werden derzeit erfasst. Generell liegt es immer im Ermessen des Gesundheitsamtes, ob ein Fall als verstorben an bzw. mit COVID-19 ans RKI übermittelt wird oder nicht. Bei einem Großteil der an das RKI übermittelten COVID-19-Todesfälle wird ‚verstorben an der gemeldeten Krankheit‘ angegeben.“

Dieser Interpretationsspielraum, den Gesundheitsämter und RKI hier haben, macht u.a. die Arbeit der Pathologen notwendig . Aber ihr Job ist es nicht, zu gewichten, inwieweit Vorerkrankungen oder andere Faktoren bei einem „Coronatoten“ mitursächlich waren. Aber das darf nicht bedeuten, dass nur auf die – spärlichen – Obduktionsbefunde geschaut wird.

Vorerkrankung Armut

Hierzu habe ich schon im April was geschrieben: Armut und alles was daraus resultiert – z.B. Wohnungen, in denen mehrere Generationen auf engstem Raum lebenbeengte Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, die gesundheitsschädlich sind, eine fehlende Krankenversicherung (das spielt bei uns zum Glück kaum eine Rolle), ein schlechtes Gesundheitssystem (Gestern in der Ärztezeitung ein Interview mit Prof. Reinhard Busse: „Alle Gesundheitssysteme in Europa sind besser als das in den USA„: Er führt aus: „Es geht dabei um die Frage, wie die Güte eines Gesundheitssystems gemessen wird. Dabei wird ein wichtiger Parameter relevant: Wie viele Sterbefälle gibt es in einem Land, die in einem gut funktionierenden Gesundheitssystem bei angemessener Krankheitsprävention oder Therapie hätten vermieden werden können?“ Und da sei das US-System sowohl teuer als auch schlecht.).  Der Satz „weil du arm bist, musst du früher sterben“ gilt auch in der Pandemie.

Fazit

Und was ist unser Job? Vorausgesetzt, wir wollen nicht nur einen Teilausschnitt der Realität sehen, sondern möglichst viel von ihr? Vorausgesetzt, wir wollen gewissenhaft urteilen und nicht einfach Vorgekautes nachbeten? Vorausgesetzt, wir wollen nicht unsere Verantwortung an „die Experten“ delegieren?

Es ist etwas mühselig (und ich bin jetzt nach dem Zusammentragen all der Informationen recht geschafft), aber das sollte es uns wert sein.

Während des Schreibens dachte ich immer wieder an den Spruch, der auf einer alten Sonnenuhr stehen soll: „Alle Stunden verwunden, die letzte tötet.“ 

Da ist was Wahres dran.

 

Kommentare

  1. Marion Battke
    12. Januar 2021

    sehr wichtig, vielen Dank!

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