„Deutschland im Corona-Blindflug“ titelte die Ärztezeitung am 15.1.21 und stellt fest – was anscheinend kaum jemanden aufregt: „Eine Analyse des iGES legt nun nahe: In Deutschland wurden massive Einschränkungen zur Pandemie-Bekämpfung beschlossen, ohne dass dafür geeignete Daten vorgelegen haben“ und fragt: „Geht die Zunahme der Sterbefälle einfach so weiter oder wirkt der Lockdown nicht wenigstens ein bisschen?“ und gibt darauf „die ehrliche Antwort“: Wir wissen es schlichtweg nicht, weil uns unsere offiziellen Berichtssysteme weitgehend im Stich lassen.“ Die Ärztezeitung zerreißt im Folgenden die Ineffizienz, das Durcheinander, um nicht zu sagen die Inkompetenz der Datenanalyse durch Gesundheitsämter (von denen – Stand 17.1.21.- weniger als 30% mit moderner Software ausgerüstet sind) und RKI.
Inzwischen gibt es allerdings Untersuchungen zur Wirksamkeit des Lockdowns (eine Maßnahme die als NPI = non pharmaceutical intervention bezeichnet wird). Neben einer schwedischen vom Sommer (der man hierzulande sicher schwedische Einseitigkeit unterstellt und die deswegen hier außen vor bleibt) gibt es eine neue Analyse der Stanford University (vom 5.1.21) Assessing Mandatory Stay‐at‐Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID‐19. Ergebnis: Die über etliche Länder (von Südkorea bis Schweden) durchgeführte Untersuchungen ergeben: Lockdown erweist sich nirgends als wirksame Maßnahme
“Implementing any NPIs was associated with significant reductions in case growth in 9 out of 10 study countries, including South Korea and Sweden that implemented only lrNPIs (Spain had a non‐significant effect). After subtracting the epidemic and lrNPI effects, we find no clear, significant beneficial effect of mrNPIs on case growth in any country. In France, e.g., the effect of mrNPIs was +7% (95CI ‐5%‐19%) when compared with Sweden, and +13% (‐12%‐38%) when compared with South Korea (positive means pro‐contagion). The 95% confidence intervals excluded 30% declines in all 16 comparisons and 15% declines in 11/16 comparisons.
Conclusions
While small benefits cannot be excluded, we do not find significant benefits on case growth of more restrictive NPIs. Similar reductions in case growth may be achievable with less restrictive interventions.“
Zu deutsch: Schlussfolgerungen „Während kleine Vorteile [durch einen Lockdown] nicht ausgeschlossen werden können, finden wir keine signifikanten Vorteile hinsichtlich des Anstiegs der Fälle durch restriktivere NPIs. Eine vergleichbare Verminderung der Anstiegs der Ansteckungen kann durch weniger strenge Maßnahmen erreicht werden.“
(siehe auch Meldung vom 11.1.21: Stanford Studie mit Top Medizin-Wissenschaftler Ioannidis zeigt keinen Nutzen von Lockdowns)
Gut, da werden Kritiker auch wieder sagen: Da hat dieser „selbsternannte Experte“ Prof. Dr. Ioannidis https://de.wikipedia.org/wiki/John_Ioannidis mitgemischt – kann ja nichts taugen.
Tja. Soll man lieber den Schluss ziehen, unsere Regierung solle sich bei ihren Beschlüssen lieber auf keine oder mangelhafte Daten verlassen, sondern nach dem Bauchgefühl entscheiden?
Man könnte es meinen:
RKI-Präsident Wieler meint zu der Frage: Warum zeigt der Lockdown immer noch nicht die erhoffte Wirkung? Vielleicht, weil er „mit zu wenig Verve“ durchgeführt wird. So zu lesen im änd (ärztlichen Nachrichtendienst) vom 14.1.21 (nur für ÄrztInnen und ihresgleichen vollständig zu lesen). Die Tagesschau meldete am 16.1.21, dass der Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus gefordert hat „Jetzt lieber einmal richtig, anstatt eine Endlosschleife bis in den Sommer hinein“.
Und hinter den Grenzen dasselbe – damit meine ich nicht Kurz-Österreich, sondern die Schweiz.
Die Neue Züricher Zeitung analysiert meiner Meinung nach korrekt: „Bundesrat befiehlt harten Lockdown: hilflos mit dem Holzhammer“ und schreibt weiter „… Statt zu verbessern, was eine grosse Wirkung hat, verordnet er dem ganzen Land einen neuen harten Lockdown. Auf der Strecke bleibt die Verhältnismässigkeit. Wissenschaftliche Studien und die Erfahrung in anderen Ländern geben starke Hinweise, dass die Kosten immer rigoroserer Massnahmen zunehmen, ihr zusätzlicher Nutzen jedoch abnimmt.“
Die Psychologie dahinter
Warum wird an einer Strategie festgehalten, für deren Wirksamkeit die Daten nichts hergeben, vielmehr einiges dafür spricht, dass sie Schaden anrichten und wenig bis nichts nutzen?
Ich denke, das ist nur psychologisch zu erklären:
Wir neigen zu dem Denken „viel hilft viel“ und „je härter desto besser“. PolitikerInnen können sich anscheinend eher profilieren, wenn sie auf „harten Hund“ machen. Söder, Söderer am Södersten. Das gibt uns ein Gefühl von Sicherheit: Der weiß, was richtig ist. Der weiß, wo’s lang geht.
Das ist beruhigend, wenn man selbst unsicher ist. Es gibt uns ein Gefühl von Sicherheit. Wir nehmen es als ausreichenden Ersatz für tatsächliche Sicherheit, insbesondere, wenn es so schwierig ist, selbst durchzusteigen. Wir machen uns klein und „die da oben“, die Experten, ganz groß. Wir lieben es zu vergessen, dass „Sicherheit“ – wirklich-wirkliche Sicherheit – eine Illusion ist. Eine Illusion, von der man sich ungern verabschiedet. Lieber zahlen wir einen hohen Preis, um sie behalten zu dürfen.
Wenn also – so unsere übliche Logik – eine Maßnahme nicht gefruchtet hat, dann liegt es daran, dass sie nicht konsequent genug umgesetzt wurde. Wobei die Schuld dabei eher bei „uns“ liegt. Nicht bei der Obrigkeit. Naja, vielleicht nicht gerade bei „uns allen“, nicht bei uns „Braven und Folgsamen“ sondern bei Sündenbock-Gruppen: Wenn ich mich recht erinnere, waren das zunächst mal „die unvernünftigen Alten“, dann waren es die „partygeilen Jungen“, dann die ohne Maske rumlaufenden Coronaverschwörungs-Demonstranten. Beliebt als Sündenböcke sind auch die Angehörigen von Freikirchen, die aus voller Kehle im Gottesdienst singen. Im Moment sind es die, die leichtsinnigerweise in den Schnee fahren oder gar die bösen Arbeitgeber, die sich dem Homeoffice verschließen. Die da oben sind höchstens insofern mitschuldig, als dass sie nicht hart und konsequent genug gegen die Sündenböcke vorgehen. Auf alle Fälle ist uns ganz klar, woran es liegt, wenn die „Maßnahme Lockdown“ nicht funktioniert.
Watzlawick hat das hübsch in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt: Es gibt nur eine mögliche, erlaubte, vernünftige, sinnvolle, logische Lösung eines Problems. Diese Annahme darf nicht in Frage gestellt werden. Wenn der Erfolg ausbleibt, beweist das auf keinen Fall, dass die Annahme falsch war, sondern dass man sich nicht genügend angestrengt hat. Also: „Mehr desselben“. Auf gar keinen Fall: Die Maßnahme selbst in Frage stellen.
Wie hat Einstein (angeblich) formuliert: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
Es ist schon lange her (nämlich ein Dreivierteljahr), da schrieb ich einen kurzen Beitrag über „eskalierendes Comittment“. Damit ist die Tendenz gemeint, „sich gegenüber einer früher getroffenen Entscheidung verpflichtet zu fühlen und diese über die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen zu stützen, obwohl sich diese Entscheidung bisher als ineffektiv oder falsch erwiesen hat.“ Damals schrieb ich vorausschauend: „Genau das ist es, was wir im Moment haben bzw. was uns in den nächsten Wochen droht.“
Nicht, dass ich das unverständlich finde. Da ist einmal die Überlegung: Was ist, wenn ich mir eines Tages vorwerfen müsste, „wenn ich nur noch ein bisschen länger drangeblieben wäre, hätte die Maßnahme begriffen.“ Niemand gibt die Garantie. Weder dafür, dass Durchhalten doch noch den Erfolg bringt, noch dass es Zeit- und Ressourcenverschwendung ist, diese ungeeignete Maßnahme weiter zu verfolgen.
Das andere: Wenn wir in ein Projekt schon viel investiert haben, dann gehört eine gewisse menschliche Größe zu dem Entschluss: „Ab mit Schaden“. Niemand gesteht sich gern ein: „War wohl nichts.“ Sowas ist kränkend. Für jeden von uns. Aber vielleicht für PolitikerInnen besonders.