Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre (Psalm 90.10)

Juli Zeh:

„Wir werden als Bürger durch die Rhetorik und das Vorgehen in eine wirklich schwierige Lage gebracht. Die allermeisten von uns verstehen, dass es notwendig ist, etwas gegen das Virus zu unternehmen. Man will vernünftig sein, man will auch Solidarität zeigen gegenüber Risikogruppen, man will nicht das gemeinschaftliche Vorgehen torpedieren. Aber vieles von dem, was passiert, erscheint einem unlogisch, überstürzt, undemokratisch. Dagegen würde man gern aufbegehren. Aber dann wird einem gesagt, dass man sich schuldig macht an möglichen Opfern, wenn man nicht mitspielt. Das ist ein unnötiges Dilemma, das die Menschen quält: ein künstlich entfachter Antagonismus zwischen Menschenrechten und Menschenleben.“

Interview mit Juli Zeh in der Süddeutschen Zeitung  vom 2.4 (?). Sehr lesenswert, aber leider kostenpflichtig: https://www.sueddeutsche.de/kultur/juli-zeh-corona-interview-1.4867094?reduced=true)

Lebenserwartung in Deutschland ohne Corona

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Neugeborenen in Deutschland betrug 2016/2018 durchschnittlich 78,5 Jahre. Bei weiblichen Neugeborenen durchschnittlich 83,3 Jahre. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1783/umfrage/durchschnittliche-weitere-lebenserwartung-nach-altersgruppen/)

Allerdings werden armutsgefährdete Männer durchschnittlich nur 70 und Frauen 77 Jahre alt, während Männer und Frauen mit sehr hohen Einkommen fast 10 Jahre länger leben (81 und 85 Jahre). (https://de.wikipedia.org/wiki/Lebenserwartung).

Ich erlaube mir, als Konkretisierung zu dem Punkt „soziale Ungleichheit“ auf meinen Artikel „Gesundheit – soziale Ungleichheit – Eigenverantwortung: (Miß-) Felder der Politik“ zu verweisen. Er ist zwar schon reichlich in die Jahre gekommen, aber deswegen keineswegs falsch. (https://ursula-neumann.de/praevention-eigenverantwortung/) (Bitte etwas Geduld beim Hochladen. Wegen der vielen Statistiken konnte ich den nicht einfach einstellen. Aber wenn man der Anleitung folgt, klappt es.).

Eine aktuelle Zahl fand ich am 29.2.20 in der SZ in der Kolumne „Das Gift des Geldes“, in dem der Autor darauf aufmerksam macht „Der Staat verdient Milliarden am Rauchen – und zeigt wenig Interesse, dies zu ändern“. Näherhin sind es 14 Milliarden Euro jährlich, rund 170 Euro pro Bürger. Als Hilfe zum Ausstieg aus der Sucht werden staatlicherseits pro Nase vier Cent eingesetzt. Christoph von Eichhorn schreibt, darüber, dass im Niedriglohnsektor (anders als in anderen Bereichen) die Zahl der Raucher nicht zurückgeht. Eine der Folgen: „Laut Robert-Koch-Institut sterben 27 Prozent der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe bereits vor Vollendung des 65. Lebensjahres.“

Lebenserwartung in Deutschland mit Corona

Laut RKI  liegt das Durchschnittsalter bei den Todesfällen an/mit/wegen Corona  aktuell bei 80 Jahren. Das deckt sich mit den Zahlen aus anderen Ländern. Der jüngste Verstorbene war demnach 28 Jahre alt. (https://www.rtl.de/cms/todesfaelle-durch-corona-in-deutschland-karte-zeigt-verteilung-nach-alter-geschlecht-4515596.html).

Ich habe bewusst „an/mit/wegen Corona geschrieben weil aus diesen Zahlen nicht ablesbar ist, ob/ welche Vorerkrankungen oder Risikofaktoren (von Diabetes über Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen, Krebs) noch vorlagen.

Es grenzt in meinen Augen an Irreführung, wenn hier pauschal von „Corona-Toten“ gesprochen wird, ohne diese Faktoren mitzubenennen:  Wenn z.B. ein Achtzigjähriger aufgrund eines Oberschenkelhalsbruches längere Zeit bettlägerig ist und dann eine Lungenentzündung bekommt – ist die Todesursache dann der Oberschenkelhalsbruch oder die Lungenentzündung oder das Alter?

Und jetzt zur Moral

Ein alter Mensch hätte ohne die Infektion mit Corona vielleicht noch 3, 4, 10 Jahre länger leben können. Mehr nicht.

Rechtfertigt dies dieselben Maßnahmen für 83 Millionen Menschen wie eine Epidemie bei der vor allem Kinder sterben, die statistisch gesehen noch sechzig, siebzig, achtzig Jahre Leben vor sich hätten?

Da ich 73 Jahre alt bin, darf ich hier die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellen. Das heißt, ich dürfte diese Frage genauso stellen, wenn ich 23 Jahre alt wäre. Aber bei mir greift dann doch etwas weniger das Argument der „Altersdiskriminierung“.

Kosten-Nutzen- Relation! Huch! Es ist so verdammt einfach sich auf das moralische Podest zu stellen und zu sagen: Das ist inhuman! Pfui!

Es wäre nur inhuman, wenn es lediglich um die Frage „Geld oder Leben“ ginge. Wobei – siehe mein Artikel über Triage (https://ursula-neumann.de/unsere-taegliche-triage/) diese Frage tagtäglich zugunsten des Geldes entschieden wird. Und kaum jemand regt sich darüber auf.

Wenn Olaf Scholz – laut Bild am Sonntag – sagt, er wende sich „gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft“, dann ist diese Bemerkung nicht nur dumm, sondern auch selbst zynisch. Was nicht ausschließt, dass man ihn in der Nach-Corona-Zeit hier beim Wort nehmen sollte. Dumm und zynisch ist es, weil hier ein Gegensatz zwischen der bösen Wirtschaft und der guten Humanität konstruiert, den es so nicht gibt.

Wenn „die Wirtschaft“ nicht läuft, dann heißt das aktuell konkret:

  • Menschen, die darauf angewiesen sind, verlieren ihre 450-Euro Jobs
  • Kleine Unternehmen, vielleicht auch große gehen pleite
  • Kurzarbeit führt dazu, dass viele ihre Häusle-Kredite nicht mehr bedienen können
  • Eltern wissen nicht, wie sie das Studium der Kinder finanzieren sollen, Kinder wissen nicht, wie es mit ihnen beruflich weitergeht usw. usw.:

Das alles schlägt gesundheitlich zu Buche. Mehr Stress, wirtschaftlicher Abstieg: All das ist – wir wissen es –  lebensverkürzend. Es wird vielen Menschen Monate oder Jahre ihres Lebens kosten.

Der hessische Finanzminister hat sich das Leben genommen. Der Ministerpräsident Bouffier stellt einen Zusammenhang zur Corona-Krise her. „Schäfer habe sich von der Pandemie überfordert gefühlt und habe sehr unter dem Druck gelitten…. Die Sorgen sollen Schäfer erdrückt haben, so dass er sich zum Suizid entschlossen hat.“ (https://www.rtl.de/cms/hessens-finanzminister-thomas-schaefer-beging-suizid-welche-rolle-spielte-die-corona-krise-4513790.html)

Nun halte ich es als Psychotherapeutin für ziemlich ausgeschlossen, dass dieser Mensch zuvor seelisch absolut gesund war – und dann nach weniger als einem Monat Corona-Krise keinen anderen Ausweg als den Tod sieht. Hier sollte man genau hinschauen was Ursache (Vorerkrankung!) und was „auslösender Faktor“ ist. Genau diese Differenzierung wünsche ich mir auch für die Attribuierung „Todesursache Corona“.

Aber: Minister Schäfer wird aller Voraussicht nach kein Einzelfall bleiben. Und bei wie viel Tausenden, Hunderttausenden werden wirtschaftliche Folgen des Umgangs der Bundesregierung mit Corona zu erhöhtem Blutdruck, zum Griff zur Flasche oder Zigarette, zum Abrutschen in den oben als vom RKI eindrücklich als lebensverkürzend benannten „Niedriglohnsektor“ führen?

Das waren jetzt gesundheitliche Auswirkungen, die direkt mit den wirtschaftlichen Konsequenzen des Shutdowns zu tun haben. Aber es gibrt noch andere:  

Nicht-wirtschaftliche lebensverkürzende Folgen des Corona-Shutdown

Folgen des Corona-Virus oder Folgen des Shutdowns?

 

Es ist nicht so, dass ich „die Lösung“ parat hätte. Es ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Und genau deshalb verwahre ich mich gegen die TINA-Sager: „There is no alternative“ war schon bei Margret Thatcher Quatsch und ist es jetzt erst recht.

Wer meine Überlegungen zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung unmoralisch findet, der möge mir bitte eine moralischere Rechnung aufmachen.  

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