Taqi Akhlaqi ( geboren 1986) schrieb den Text unten in der Neuen Züricher Zeitung als er in Neu Delhi war. Glücklicherweise. Dorthin musste er, weil die Deutsche Botschaft in Kabul kein Visum mehr ausstellt. Es war eine lange, lange Zitterpartie. Jetzt ist er mit seiner Familie in Sicherheit.
Ich lernte ihn – Journalist und Buchautor («Aus heiterem Himmel» ) – vor 8 Jahren in Kabul kennen. Von damals stammt auch das Foto von ihm. Er erschien zum Gespräch mit meiner Tochter in einem sehr seriösen Anzug, das hat mich beeindruckt.
Er ermöglichte uns einen Besuch in einem „richtigen“ afghanischen Restaurant und führte uns bei einem Kalligraphen ein…
Und er zeigte uns das Kabuler Nationalmuseum, wo wir die einzigen Besucher waren (wenn ich mich recht erinnere, wurde auf unsere Frage gesagt, dass im gesamten Winter etwa zwanzig Menschen gekommen seien). Dabei gibt es da so viel Sehenswertes. Mal sehen was die Taliban übriglassen…. Vor allem korrigierte es das Bild vom kulturlosen Afghanistan. Die Römer waren schon da, als noch nicht alle in old Germany von deren Existenz was mitbekommen hatten…
Jetzt erschien ein Text von Taqi Akhlaqi in der Neuen Züricher Zeitung, die mir verzeihen möge, dass ich den Artikel einfach kopiere. Taqi hat sicher nichts dagegen, denn seine Zeilen helfen, nicht nur seine Situation, sondern die Situation von so vielen Afghanen und Afghaninnen nachzufühlen.
Ich fange an, die Taliban zu mögen
Wenn man hilflos seinen Mördern ausgeliefert ist – hat man dann eine andere Option, als auf ihr Mitgefühl zu hoffen? Nach der Machtübernahme der Taliban bin ich nach Indien geflüchtet. Ein Blick aus dem Exil auf meine kriegsversehrte Heimat.
«Die amerikanischen Funktionäre haben uns jahrelang erzählt, dass sie Afghanistan nie alleine lassen und nie den Fehler wiederholen würden, den sie nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan gemacht hätten. Aber schaut uns jetzt an! Man hat uns mit den Taliban zurückgelassen, und bald werden wir wieder vergessen sein. Dann werden die Taliban beginnen, uns abzuschlachten.»
Ein afghanischer Bäcker drückt im Gespräch mit einem meiner Freunde seine Enttäuschung aus. Vor wenigen Tagen sind die letzten amerikanischen Soldaten aus Kabul abgeflogen, und kurz darauf haben die Taliban die «Wiedererlangung der Freiheit» und das «Ende der Besatzung» mit Geschützfeuern bis in den Morgen gefeiert. Es ist ein heisser, feuchter Abend in Delhi, und ich versuche mein Heimweh ein bisschen zu lindern, indem ich Zeit im afghanischen Viertel der Stadt verbringe. Es ist eine Art kleines Kabul, mit vielen afghanischen Ständen, Restaurants und natürlich mit vielen Afghanen.
«Aber was hätte der Westen denn noch für uns tun können? Sie haben uns Geld gegeben, und unsere korrupte Regierung hat es gestohlen. Sie haben eine Demokratie mit funktionierenden Institutionen aufgebaut, und wir haben bei jeder Wahl betrogen. Sie haben Schulen gebaut, und wir haben sie in die Luft gesprengt.» So antwortet mein Freund, der gerade seinen Master gemacht hat.
«Wir haben immer gewählt, auch wenn die Taliban unsere Finger abschnitten. Wir haben unsere Mädchen zur Schule geschickt. Zwanzig Jahre lang wurden wir von korrupten Regierungen geführt, die vom Westen gutgeheissen wurden, und jetzt sollen wir von den barbarischsten Terroristen regiert werden. Glaubst du denn, dass es unsere Schuld ist?»
Die Diskussion wird emotional und steuert auf eine Sackgasse zu. Die beiden schauen darum gelegentlich zu mir, fordern mich zu einer Äusserung auf. Es ist zwar ein schönes Gefühl, nach einiger Zeit in dieser fremden Stadt wieder Farsi zu sprechen, meine Muttersprache. Aber ich habe nichts zu sagen.
Afghanistan wiederholt sich
Ich erinnere mich an meine Grossmutter. Als wir als Flüchtlinge in Iran lebten, sagte sie immer: «Alle Kriege werden einmal enden, aber nicht der Krieg in Afghanistan.» Uns, einer jungen, ambitionierten Generation, erschien diese Aussage pessimistisch und ungerechtfertigt. Doch meine Grossmutter versuchte alles, um uns umzustimmen, als ich 2004 zusammen mit meinen Eltern und meinen Geschwistern entschied, nach Afghanistan zurückzukehren. «Die Taliban werden kommen, es wird einen neuen Krieg geben. Bitte, geht nicht.» Im Verlauf ihres Lebens ist in Afghanistan viel Blut vergossen worden, und ihr Instinkt sagte ihr immerzu: «Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.»
Vor fünf Jahren ist sie in Iran gestorben. Als wir zum letzten Mal am Telefon miteinander sprachen, hat sie insistiert: «Bitte, verlasse Afghanistan, sobald du kannst.» Jetzt, da ich mit meiner Frau und unseren zwei kleinen Söhnen in Indien festsitze und nicht zurück nach Kabul kann, scheint ein neues Exil unvermeidlich. Meine Grossmutter wäre glücklich und traurig zugleich. Afghanistan wiederholt sich, zwingt eine nächste Generation dazu, mit allem von vorne zu beginnen. Was für eine bittere und seltsame Geschichte.
Ich fürchte, dass ich in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn meine Söhne nach Afghanistan zurückkehren wollen, dieselben Worte brauchen werde: «Geht nicht! Es wird einen Krieg geben.» Der Bäcker, ein Mann im mittleren Alter, schliesst mit ähnlichen Gedanken, und zum ersten Mal in meinem Leben nicke ich zustimmend.
Irgendeine Grenze überqueren
Afghanistan gilt als Grabstätte der Weltmächte. Grossbritannien und die Sowjetunion sind hier gescheitert, nun folgen die USA. Sollen wir darauf stolz sein? Ich habe grosse Zweifel. Denn in dieser Erzählung gibt es keinen Platz für die afghanischen Frauen, Männer, Mädchen, Kinder, denen das normale Leben auf grausame Weise genommen wurde. In erster Linie ist Afghanistan die Grabstätte seiner Bewohner, vieler begabter Leute. Die Geschichte der scheiternden Supermächte ist für uns Afghanen ohne Bedeutung, und sie hilft auch keinem, unsere sozialen, kulturellen und historischen Bedingungen und Schwierigkeiten zu verstehen.
In den letzten zwanzig Jahren haben sich viele Länder und Menschen aus der ganzen Welt mit guten Absichten zusammengetan, um die Lebensumstände der Afghanen zu verbessern. Mehr Afghanen als je zuvor – ungefähr die Hälfte der Bevölkerung – können heute lesen und schreiben und sind mit der Welt verbunden. Sie werden weiterhin kommunizieren, lernen, lesen und schreiben. Und solange sie lesen und schreiben, werden sie nicht vergessen, und auch sie werden nicht vergessen werden.
Seit Kabul in die Hände der Taliban gefallen ist, entdecken und besprechen die Afghanen etwas Wichtiges: die Bedeutung, die einem geeigneten politischen System für die langfristige Stabilität des Landes zukommt. Wir haben Schulen gebaut, in private Universitäten investiert, Journalisten ausgebildet und die Meinungsfreiheit gefördert – aber alles hörte über Nacht auf zu funktionieren. Wir merken jetzt, dass alles, was wir aufbauten, auf einer instabilen Basis ruhte.
Vielleicht werde ich langsam paranoid, aber ich fühle mich selbst in Indien nicht mehr sicher und habe zunehmend das Gefühl, dass es überall Krieg geben könnte. Die gegenwärtige Ordnung, auf die sich die Leute verlassen, kann jeden Moment zusammenbrechen und die Menschen mit offenen Mündern zurücklassen. Wer den Krieg erlebt hat, weiss, dass Friede nur die Zeitspanne zwischen zwei Kriegen ist. Wie kann es überhaupt Frieden geben, wenn die Waffenproduktion ein Geschäftsmodell ist? Sie sehen, ich werde paranoid.
Gestern Abend habe ich mit meiner Mutter in Kabul gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass viele unserer Nachbarn ihre Haushaltswaren auf die Strasse getragen haben, um sie gegen etwas Geld zu verkaufen. Sie wollen so schnell wie möglich eine Grenze überqueren; die erste offene Grenze, irgendeine Grenze. Egal, ob sie nach Iran, Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan oder in ein anderes Land führt. Sie wollen aus Kabul fliehen, einer Stadt, die nicht aus den blutigen Schlagzeilen der Weltnachrichten herauskommt. Ich lese und höre, dass sich Afghanistan in Richtung Vergangenheit entwickle, aber ich glaube: Nein, wir sind nicht rückwärts gegangen, wir sind in die Tiefe gesunken.
Ein neuer Hochwasserschutz
Die USA und die Nato haben den Abzug aus Afghanistan abgeschlossen und mehr als 120 000 Afghanen evakuiert. Der Rest der Bevölkerung, über 35 Millionen Menschen, ist noch immer im Land und muss einen Umgang finden mit allem, was zurückgeblieben ist: mit den gut ausgerüsteten, mächtigen Taliban, mit vielen Schiffscontainern und zahllosen T-Mauern aus Sicherheitsbeton.
Diese T-Mauern schossen einst wie Pilze aus dem Boden, um kleine und grosse Strassen abzuriegeln. Die Verkehrsstaus waren unerträglich, und in einer engen Strasse festzustecken, mit der Angst vor einer möglichen Explosion im Nacken, war ein nervenaufreibender Teil des täglichen Lebens in Kabul. Ein Problem, das jetzt gelöst ist. Die Stadtbehörden haben bereits begonnen, Strassen zu öffnen und die Mauern einzusammeln. Es gibt Tausende von ihnen, und niemand weiss, wozu sie jetzt noch dienen, in einer Stadt, in der es keine Selbstmordattentate und aufwendigen Attacken mehr gibt, weil die Organisatoren dieser Anschläge nunmehr im Präsidentenpalast sitzen und das Land regieren.
Ein Freund hat vorgeschlagen, die T-Mauern an den Ufern der Flüsse aufzustellen, um die Schäden der saisonalen Hochwasser einzudämmen. Eine gute Idee! Die Schiffscontainer könnten als Büros dienen oder als Unterschlupf für Vertriebene, wir werden sicher auch für sie eine Lösung finden. Aber was sollen wir mit den Taliban machen?
Jahrelang hassten wir sie aus vielen naheliegenden Gründen. Ich habe mir die Zukunft Afghanistans auf hundert verschiedene Arten vorgestellt – aber dass letztlich das Islamische Emirat zurückkehren würde, damit habe ich nicht gerechnet. Ich hatte die Hoffnung, dass wir sie in entscheidenden Kriegen schlagen würden, aber jetzt spielt sich der schlimmste Albtraum meines ganzen Lebens ab: eine schnelle Machtübernahme durch die Taliban. Ich habe immer noch viele Freunde, Kollegen und Familienmitglieder in Afghanistan und kann mir nicht vorstellen, wie ihnen etwas Schlimmes geschieht. Ich kann über diese Dinge nicht nachdenken. Mein Kopf hält es nicht aus. Aber welche Hoffnung bleibt denn unter solchen Umständen?
Wie bei George Orwell
Vielleicht haben sich die Taliban, die früher schlachteten, köpften, steinigten und folterten – vielleicht haben sie sich wirklich geändert. Vielleicht können wir auf ihre Gnade und ihr Verständnis zählen. Sie haben eine Amnestie angekündigt, wahrscheinlich werden sie dieses Versprechen halten. Niemand kann es wissen, aber meine Gedanken gehen mehr und mehr in diese Richtung.
Wahrscheinlich ist das ein innerer Verteidigungsmechanismus. Wenn ich Interviews und Reden von Taliban-Führern höre, horche ich nach Zeichen, die positiv klingen. Sobald ich etwas habe, blase ich es auf und lächle vor Glück, als ob die Dinge in Ordnung kämen. Die Taliban sind dann nicht mehr die früheren Monster, und ich glaube, ich fange an, sie zu mögen.
Im Internet finde ich eine Erklärung für mein Verhalten: das Stockholm-Syndrom. Wir sind hilflos unseren Mördern überlassen – was anderes können wir tun, als sie zu mögen und auf ihr Mitgefühl zu vertrauen?
Es gibt bessere Worte für meine Lage. Ich öffne «1984» von George Orwell und blättere direkt zum letzten Absatz des Buches, in dem Winston Smith, der Protagonist der Geschichte, seine Beziehung zum Big Brother beschreibt (was für eine Ironie: einer der höchsten Führer der Taliban heisst Baradar, was in unserer Sprache Bruder bedeutet): «Zwei gingeschwängerte Tränen rollten ihm über die Nasenflügel. Aber jetzt war es gut, es war alles in Ordnung, der Kampf war zu Ende. Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Grossen Bruder.»