Horst Groschopp zu „Der Kirchenrechtsprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glücklich und stirbt“

Der Kirchenrechtsprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glücklich und stirbt“

In der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“ an die wissenschaftlichen und politischen Leistungen des langjährigen Mitherausgebers Johannes Neumann (1929-2013) erinnern zu wollen, hieße, wie man sprichwörtlich sagt, Eulen nach Athen zu tragen.
Auch in der von mir früher herausgegeben Zeitschrift „humanismus aktuell“ der „Humanistischen Akademie“, deren Präsidiumsmitglied er ebenso war, wie er
anderen Organisationen des „säkularen Spektrums“ mit Rat, Tat und Schriften half,
finden sich von Johannes Neumann neun grundsätzliche Texte über Humanismus,
Säkularisation und das Staat-Kirche-Verhältnis.
Einige Monate vor seinem Tod stellte der Altphilologe Hubert Cancik, Nestor der
deutschen Humanismusforschung, zunächst einem Vortrag und dann in dem gedruckten Text voran (vgl. „Die natürlichen Rechte des Menschen“, in: Horst
Groschopp [Hrsg.]: Humanismus und Humanisierung, 2014, S. 10) eine in Form einer feierlichen Rede gehaltene lateinische Widmung. In dieser Zueignung nannte Cancik seinen langjährigen Kollegen in Tübingen einen „allermenschlichsten Menschen“. Dieses Urteil ist hilfreich für das Verständnis des vorliegenden ungewöhnlichen Buches. Es in einer Publikation zu besprechen, deren Leserschaft Johannes
Neumann als Religionssoziologen kannte, weniger als Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen oder als (damals noch sehr konservativen) Rektor der Universität (1971/72). Diese Zeitschrift und ähnlich orientierte Publikationen kannten Neumann als eine Art „Helden der Aufklärung“, der sich von der katholischen Fakultät, der römischen Kirche, der Theologie und „Kanonistik“ durch Rückgabe seiner missio canonica am 24. Oktober 1977 öffentlichkeitswirksam trennte (vgl. den Brief S. 345-349). Forthin wirkte er als hochgeachteter Professor für Rechts- und Religionssoziologie, der sich insonderheit der Erforschung der Lebenswelt von behinderten Menschen widmete und seine Kritik der Religionsverhältnisse mit dem Eintreten für eine Trennung von Staat und Religion verband.
Genau die Zeit seiner „Wende“ 1974 bis 1979, in Gedanken und Schriften gründlich vorbereitet, ist Gegenstand des Buches seiner Frau, Kollegin und Mitkämpferin Ursula Neumann (Jg. 1946). Doch kommen die „Theorien“ sowie die „Haupt- und Staatsaffären“ nur als flankierende Ereignisse vor. Sie werden aus der Privatsphäre heraus betrachtet, mitunter sarkastisch und drastisch bewertet. Besonders Hans
Küng („das Waschweib“, S. 238 u.a.) kommt dabei nicht gut weg. Die Autorin ist praktizierende Psychoanalytikerin. Sie wendet ihren Beruf an und schildert den „allermenschlichsten Menschen“, stellt ihn mitunter bloß, aber auch sich selbst und andere Beteiligte. Nichts Menschliches ist dem Buch fremd. Das ist mindestens gewöhnungsbedürftig, wenn man Johannes Neumann noch als klugen Streiter, stattlichen Redner und profunden Autor vor seinem geistigen Auge hat. Man erfährt, woran er in den letzten Jahren schwer gelitten hat und woran er siechend gestorben ist: Kortikobasale Degeneration.
Ich übernahm die Rezension, obwohl ich wusste, was mich erwartet. Anfang 2016 hatte mir Ursula Neumann die Rohfassung ihrer Studie zugesandt, um eine Herausgabe zu prüfen. Der Titel lautete noch nicht so melodramatisch wie der jetzige, sondern sachlicher: „Verwickelte Entwicklung oder Fünf Jahre unseres
Lebens“. In ihrem Exposé fasste die Autorin den Inhalt des Buches gut zusammen: „Nach dem Tod meines Mannes (2013) nahm ich nach fast 40 Jahren unsere vollständig erhaltenen Briefe aus der Zeit von 1974 bis 1979, die Tagebücher, Kalendereintragungen und (mehr oder minder) offizielle Schreiben zur Hand. Sie sind
der Inhalt des Manuskripts, verknüpft mit meinen Gedanken und Eindrücken beim Lesen von Dingen, die mir zum Teil noch ganz nah und vertraut, zum Teil völlig neu waren.“ Die Leserschaft wird in das Sichten und bewerten der Briefe und Notizen einbezogen. Es nimmt an den Entdeckungen teil.
Entstanden ist eine sehr persönliche, sehr spannende Erzählung. Es ist eine Art psychokultureller Analyse der handelnden, am Ende dann miteinander verheirateten Personen in einer entscheidungsträchtigen Zeit. Die Selbstbetrachtung stellt weitere unmittelbar involvierten Personen vor anhand von intimen Tagesbucheintragungen, Liebesbriefen und Dokumenten bzw. von der Autorin erinnerten Handlungen von
Johannes Neumanns damaligen Geliebten und der eigenen Wirrungen der Autorin, die ihren Kampf, so darf man das wohl nennen, um den Mann aufarbeitet. Man kennt den Stoff aus Soap-Opern und Kammerspielen, bekommt in dem Buch aber Realgeschichte. Man könnte von guter Belletristik, einem Lebensroman“sprechen, spräche nicht die Präsentation der Dokumente dagegen. Letztlich kannte nur Ursula Neumann den persönlichen Johannes („zögerlich, ratlos und zwiespältig“, S. 253). Erstaunlich ist, dass all diese „Enthüllungen“ letztlich zwar an beider „Denkmal“ kratzen, aber der öffentlichen Person des „allermenschlichsten Menschen“ nichts anhaben können („eindeutig und klarsichtig … in seinem Beruf und
in universitären Dingen“, S. 253). Das liegt vorwiegend daran, dass die Autorin die Person noch immer liebt. Es ist ihre Form „Abschied“ zu nehmen, ohne sich zu verabschieden: „So wurde die Begenung mit jenen Jahren zum Abschied, den die alte Frau von heute von der jungen Frau von damals nehmen muss.“ (S. 391) Es gibt in dem Buch lehrreiche Überlegungen, amüsante Anektoden und interessante Beobachtungen, etwa wenn Johannes Neumann am 11.10.1975 feststellt: „Aber bloße Philosophie und antiquarischer Humanismus führt mit zur Unmenschlichkeit, führt nach Auschwitz und Treblinka!“ (S. 100) Oder wenn er, der immer ein Agnostiker blieb, am 24.4.1976 schreibt: „Da ich das sog. ‘Urvertrauen’ (Küng) nicht habe, bin ich zum Atheisten verurteilt.“ (S. 156) Oder wenn das „Charisma des Zölibats“ (S. 261) behandelt wird – als gelebte Realität. Oder: „Ratzinger … hatte seinen Ruf nach Tübingen vor allem Küng zu verdanken – was für eine hübsche Pointe!“ (S. 231) Immer wieder diskutiert die Autorin ihren möglichen Anteil an der geistigen „Wende“ von Johannes Neumann. Sie kommt zu dem Schluss: „Ich hatte mich ja mit Händen
und Füßen gegen die gängige Interpretation gewehrt, wegen einer Frau habe Johannes die Kirche verlassen. Dabei bleibe ich auch. Aber was mir klarer wurde: Weil ich ihn mit einiger Unbeirrbarkeit daran hinderte, die vertraute Opferrolle zu spielen, sich hinter dem ‘Schicksal’ zu verstecken, konnte er sein Leben in die Hand
nehmen.“ (S. 302) Ursula Neumann stellt Vergleiche des Systems der SED mit dem der Katholischen
Kirche an und findet Ähnlichkeiten. Dazu gäbe es viel zu sagen, gerade zu den Unterschieden. Verifizierungen setzen vergleichende Forschungen voraus. Aber noch sind wir nicht in der Zeit sachlicher Analogie- bzw. Kontrastfeststellungen. Die Kirche ist noch gegenwärtig und die SED-DDR-Gesellschaft erst kürzlich untergegangen. Es mag für die Leserschaft von „Aufklärung und Kritik“ vielleicht befremdlich
erscheinen, wenn Ursula Neumann, mit ihrem „analytischen Handwerkszeug zugange“ (S. 281), bezogen auf ihren Mann, masochistische Prägungen vermutet (vgl. S. 281 ff.). Die Distanz zu solcherlei Erörterungen ist mit einiger Sicherheit nicht nur darauf zurückzuführen, dass in Philosophenkreisen Denker wie Erich Fromm außer der Norm sind. Wichtiger scheint aber zu sein, dass die gesamte Kultur und Geschichte des modernen Sadomasochismus weitgehend unbekannt ist und in der „Schmuddelecke“ stattfindet. Jedenfalls ist dem gesellschaftlichen Phänomen präziser nachzugehen, das vorwiegend und lediglich als eine sexuelle
Verhaltensweise gesehen wird. Nachdem nun wie unter vier Augen der „geheime“ Johannes Neumann
kennengelernt werden kann, sollten wir uns nun endlich seinen verstreuten öffentlichen Schriften widmen und an einem Sammelband seiner Texte über Humanismus und Aufklärung arbeiten.

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