Boris Palmer und Winfried Kretschmann – messen die Grünen mit zweierlei Maß?
Reingefallen! Die Überschrift gab es durchaus, nämlich in der Zeit am 8.5.21 . Nur stand da ein anderer Name: Boris Palmer. Das Tübinger Grünen-Enfant-Terrible hatte mal wieder durch als rassistisch eingestufte Bemerkungen von sich Reden gemacht.
Aber jetzt frage ich mich: Wieso hört man von der Grünen-Chefin oder von sonst einem Ober- oder Unter- Grünen keine Drohung mit einem Parteiausschlussverfahren? Denn was Winfried Kretschmann in einem Zeitungsinterview geäußert hat, lässt nun wirklich Zweifel daran aufkommen, ob er auf dem Boden unserer FDGO steht. (Für Leute, die nicht mit dem Radikalen-Erlass großgeworden sind: FDGO steht für Freiheitlich-Demokratische-Grund-Ordnung.)
Kretschmann: Vom „mutmaßlichen Verfassungsfeind“ zum Ministerpräsidenten
Apropos Radikalenerlass. Kretschmann hatte ja wegen seiner Nähe zu K-Gruppen einst Schwierigkeiten als Lehrer in Staatsdiensten treten zu können. Später bezeichnete er seine einstige Nähe zu kommunistischen Hochschulgruppen als „Irrtum seines Lebens“ . Ich zitiere aus dem Artikel vom 20.3.2015 :
„Winfried Kretschmann bezeichnet seine einstige Nähe zu kommunistischen Hochschulgruppen häufig als Irrtum seines Lebens. Eine Akte aus der Zeit des „Radikalenerlasses“, nach Recherchen der Stuttgarter Zeitung entdeckt, zeigt, welch langen Weg er gegangen ist: vom mutmaßlichen Verfassungsfeind zum Ministerpräsidenten, der sich so leidenschaftlich auf die Verfassung, auf Recht und Gesetz beruft, dass sich Konservative bei ihm oft besser aufgehoben fühlen als Grüne.“
Nun, ich bin mir nicht sicher, ob das nicht durch einen neuen Irrtum seines Lebens getoppt wird.
Kretschmann fordert: harte, womöglich unverhältnismäßige Eingriffe in Freiheitsrechte
In einem Zeitungsinterview (Überschrift: Winfried Kretschmann zu künftigen Pandemien „Wir brauchen harte Eingriffe in Bürgerfreiheiten“), das in der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten vom 24.6.21 erschien, forderte der Ministerpräsident „harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten zu ermöglichen, um Pandemien schneller in den Griff zu bekommen. „Meine These lautet: Wenn wir frühzeitige Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen können, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen“, erklärte der Ministerpräsident. Möglicherweise müsse man dafür das Grundgesetz ändern.“ (zitiert aus der Süddeutschen Zeitung)
Die Politik: Plötzlich mit der Gabe der Prophetie und Unfehlbarkeit begabt?
Was soll das heißen: Maßnahmen, die „zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig“ sind? Zu welchem Zeitpunkt wären sie denn verhältnismäßig? Kretschmann suggeriert – oder vielleicht glaubt er selber dran?: Die Politik, die ihre vorausschauende Weisheit in den letzten Monat überzeugend unter Beweis gestellt hat, habe im Wiederholungsfall einer beginnenden Pandemie sofort und verlässlich den absoluten Durchblick und wisse, welche „frühzeitigen“ Maßnahmen zielführend sind.
Darf ich Herrn Kretschmann die Beispiele des Versagens, der Fehlentscheidungen, das Tohuwabohu, das Vor- und Zurück der letzten Monate ins Gedächtnis rufen, das uns die politische Klasse bot? Die sind doch nicht darauf zurückzuführen, dass den Regierenden die rechtlichen Möglichkeiten fehlten, ihre luzide Strategie der Pandemiebekämpfung in die Tat umzusetzen! Vielmehr beansprucht gerade die politische Klasse für sich, man möge doch Verständnis für die Fehler der „Anfangszeit“ (die nach meiner Wahrnehmung bis heute dauert) haben, PolitikerInnen seien eben auch nur Menschen, denen zuzubilligen sei, dass sie Zeit bräuchten, um dazu zu lernen.
Kleiner Rückblick: Das Krisenmanagement der Politik in Corona-Zeiten
Was jemand im einzelnen bei den getroffenen Corona-Maßnahmen als falsch, verfrüht, verspätet, überzogen, zu schwach einschätzt, hängt von der gesellschaftspolitischen Einstellung ab. Aber die Zustimmung zu dem Satz: „Das Krisenmanagement der Politik in der Pandemie war suboptimal“ dürfte groß sein.
Der Westtdeutsche Rundfunk hat dazu am 7.3.21 eine Liste mit 10 Punkten aufgestellt über die man streiten kann, die man auch verlängern könnte. Das Handelsblatt titelt am 8.3.21: „Realitätscheck für die deutsche Corona-Politik: Das sind die größten Fehler im Krisenmanagement“
Wie blöd muss man eigentlich sein…
Wie blöd muss man eigentlich sein, wenn man glaubt: Das nächste Mal wird alles anders? Nach der schwachen Vorstellung der politischen Klasse zeigt Kretschmann in diesem Interview keinerlei Selbstbescheidung. Sondern Hybris. Ist sein Motto etwa: Wenn wir PolitikerInnen nicht durch ein paar doofe Bürgerrechte in unserem Handeln eingeschränkt gewesen wären, hätten wir das Virus schon längst „in die Knie gezwungen“.
Für wie blöd muss man die Leute halten? Sind Herr Kretschmann & Co. inzwischen mit der Gabe der Prophetie und Unfehlbarkeit ausgestattet? Wieviel Überheblichkeit gehört dazu, zu verkünden: „Wir brauchen ein paar von Euren Rechten… äh, naja auch ein paar Grundrechte sind dabei. Ist ja für einen guten Zweck. Dafür bekommt Ihr sicheren Schutz! Wir wissen nämlich, was zu tun ist! Prompt und fehlerfrei! Gebt uns Eure Rechte, wir wissen was zu tun ist! In unseren Händen seid Ihr sicher geschützt! Versprochen!“
Kretschmann rudert verhältnismäßig zurück: Alles nur ein Missverständnis – oder: er hat gemeint, was er sagte ?
Der Gegenwind – fast schon ein Stürmchen – war kräftig und parteienübergreifend (wobei: die Grünen halten sich nach meiner Wahrnehmung zurück). Sogar der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim stellte klar – und das geschieht gewiss nicht häufig: „Dem Vorschlag, durch besondere Pandemiegesetze auch eventuell unverhältnismäßige Maßnahmen zu ermöglichen, steht entgegen, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein wesentliches Element unseres Rechtsstaatsverständnisses im Grundgesetz verankert ist», sagte der Sprecher des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Matthias Hettich.“
Der Ministerpräsident fühlte sich bemüßigt klarzustellen: „Kretschmann teilte am Freitag mit, er bedauere, dass seine Äußerungen in einem Interview zu Missverständnissen geführt hätten. ‚Im Rechtsstaat gilt immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – und zwar immer und ohne Einschränkung.“ Dieses zentrale Prinzip der Verfassung würde er nie in Frage stellen. „Umso mehr ärgert es mich, dass durch meine Äußerungen offenbar dieser Eindruck entstanden ist.“
Das ist nicht gerade das, was ich unter einer klaren Entschuldigung verstehe. Aber selbst wenn Kretschmann sich klar entschuldigt hätte , weiß ich nicht, ob ich ihm Glauben schenken würde: Er äußerte sich ja nicht spontan auf einem Bierfest nach zwei Maß Bier, sondern in einem Zeitungsinterview. Da weiß einer wie der Herr Ministerpräsident worum es geht und er hat Zeit, seine Worte gut zu wägen. Selbst wenn ihm diese Äußerung „rausgerutscht“ wäre: Bei jedem schriftlich erscheinenden Interview wird dem Interviewten von der Redaktion die Möglichkeit eingeräumt, den Text vor dem Erscheinen zu korrigieren, Passagen zu streichen. Daraus kenn ich nur schließen: Er hat gemeint, was er sagte.
Und nun fühlt er sich „missverstanden“ – das heißt: Schuld sind die anderen. Ein „Eindruck“ ist „entstanden“ – nein: Diesen Eindruck hat er erweckt, diesen Eindruck hat er zu verantworten – nicht unverständige oder böswillige Menschen. Es ärgert ihn! Nicht: ich ärgere mich über mich.“ Was einzig angemessen gewesen wäre.
Und wie weiter mit der Verhältnismäßigkeit?
Ich bin gespannt, wann nach diesem Versuchsballon des grünen Ministerpräsidenten neue Diskussionen über die Unverhältnismäßigkeit von Grundrechten in Krisenzeiten vom Zaun gebrochen werden. Ich hätte da so einige Ideen:
- Angesichts der möglichen Bedrohung durch möglichen Terror sind Freiheitsrechte einfach unangebracht.
- Oder: Angesichts von pandemischsteigender Kriminalität (lässt sich statistisch immer irgendwie deichseln), ist das Gefasel von Grundrechten fehl am Platz.
- Oder: Menschen, die sich ungesund ernähren, rauchen und saufen, verhalten sich der Gesellschaft gegenüber asozial. Sie gehören bestraft und die Gesellschaft vor ihnen geschützt. ….
Legal- illegal- scheißegal
Bei den K-Gruppen galt vor 50 Jahren der Slogan: Legal – illegal – scheißegal!
Ich will Herrn Kretschmann ja nicht unterstellen… Oder etwa doch?
28. Juni 2021
Sehr geehrte Frau Neumann,
Ihren Anmerkungen zu einer wirkungsvollen Bekämpfung der Corona-Pandemie, die der grüne Ministerpräsident W. Kretschmann in einem Zeitungsinterview von sich gegeben hat, stimme ich voll zu. Das war kein Versprecher, der einem in hitziger Debatte nicht rückholbar entwichen ist.
Widersprechen muß ich allerdings Ihrer Zuordnung des Slogans „Legal – illegal – scheißegal“, der angeblich bei den K-Gruppen vor 50 Jahren gegolten haben soll, also der Episode der studentischen Arbeiterparteien jener Tage.
Das ist mitnichten der Fall.
Dieser Slogan stammte aus der Sponti-Ecke, dem antiautoritären Lager der damaligen Zeit, das sich damit gerade gegen die Obrigkeitsgläubigkeit dieser staatskommunistischen Richtungen wie des KBW etc. wandte, dass alle Gute von „oben“, vom Staate resp. von der Partei käme. Insoweit ist sich der MP Kretschmann treugeblieben, als Mann des Staats und, der Schlenker erlaubt, als langjähriges erst im April d.J. ausgeschiedenem Mitglied der anderen K-Gruppe, des ZK der Katholischen Kirche.
„Legal – illegal – scheißegal“ steht zugleich für die Kritik an den gesellschaflichen Zuständen, wonach die maßgeblichen Kreise und Profiteure unserer Gesellschaft bei der Durchsetzung ihrer Ziele allzu oft ein nur instrumentelles Verhältnis zur Rechtsordnung an den Tag legen.
Kampf den Fake News, wo Ihr sie trefft.
Udo Kauß