Es tut sich was! Wurde aber auch Zeit!

In den letzten Wochen hatte ich mehr und mehr den Eindruck, es gäbe nur noch Meinungen, für die die Glaubenskongregation im Vatikan das Imprimatur erteilt habe. Ups. Jetzt ist meine katholische Vergangenheit mit mir durchgegangen. Gemeint habe ich natürlich eine Einrichtung, die nichts mit der katholischen Kirche zu tun hat, auch wenn die Abkürzung  „RKI“ dazu verleiten könnte, dahinter eine Römisch-Katholische Institution zu vermuten.

Alle – sehr seltenen – Stimmen, die nicht mit deren Lehrmeinung übereinstimmten, wurden als verantwortungslos bzw. als Meinung von „selbsternannten Experten“ diffamiert. Zu deutsch: Solche Leute sind wahlweise unmoralisch, interessengeleitet (besonders beliebt: von schnöden Wirtschaftsinteressen)   oder haben keine Ahnung. Ganz im Unterschied zu den Vertretern der offiziellen Lehrmeinung.

Ich weiß, ich bin jetzt etwas bitter und ich versuche dran zu arbeiten, selbst aus der Polarisierung herauszukommen. Aber meine Bitterkeit ist nicht so ganz grundlos: Es war kein Drandenken an sachlichen Diskurs bei „denen da oben“.  Das schlug durch – fast möchte ich sagen „exponentiell“  – auf den tagtäglichen Umgang miteinander. Es herrscht(e) Glaubenskampf. Wahr gegen unwahr. Gut gegen böse. Oder um es mit Söder zu sagen „Menschenleben vor Shoppingtouren“ (7.4.2020).

Nun akzeptiere ich, dass im Moment der ersten Überwältigung durch eine Gefahr schnell und womöglich massiv zu reagieren ist, auch wenn dadurch das Risiko beträchtlich wird, dass man im Nachhinein feststellt, man hat überreagiert. Aber wenn die Hütte brennt, ist nicht Zeit für ein langes Palaver über die richtige Strategie beim Löschen.

So weit, so gut, so verständlich. Aber diese TINA-Argumentation (there is no alternative) muss sehr bald ein Ende haben. Es muss zu einem sachlichen Diskurs mit möglichst vielen Stimmen zurückgekehrt werden. Sonst ist das Resultat nicht nur vielleicht falsch und gefährlich. Sondern mit Sicherheit.         

…. Ach ja, man glaubt gar nicht, mit was man seinen ersten Ferientag verbringen kann – und das bei diesem herrlichen Wetter. Aber wenn die Verbreitung nachstehenden Stellungnahmen dazu beitragen würden, dass wirklich eine Rückkehr zum achtungsvollen Sprechen miteinander führen würde… dann muss ich sagen: Dafür arbeite ich auch an meinem ersten Ferientag gerne.

In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates vom 27.3.2020 ( https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf ) heißt es nach ausführlicher Darlegung der vielfältigen (eben nicht nur im strengen Sinn medizinischen) Argumente als zusammenfassende Überlegung zur Lockerung des Lockdowns:

Diese Überlegungen zu den Nebenfolgen des Lockdowns müssen ergänzt werden durch Kriterien, die politische Entscheidungen über die Fortsetzung, Lockerung oder Beendigung der Strategie der sozialen Distanzierung anleiten können. Dafür lassen sich zunächst drei Konstellationen unterscheiden:

I. Die Strategie ist insoweit erfolgreich, als eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden kann und andere gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Schäden nicht überwiegen. Eine solche Situation ist erreicht, wenn die Zahl der Menschen, die eine infektiöse Person ansteckt, statistisch betrachtet dauerhaft unter eins liegt. Wenn und soweit dieser Zustand erreicht wird, ist der schrittweise und epidemiologisch evaluierte Abbau der Restriktionen nicht nur möglich, sondern geboten.

II. Die Strategie führt innerhalb eines gesetzten Zeitraums – dessen Länge zu bemessen wäre nach der unsicheren epi-demiologischen Prognose, wann die ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen sollten – nicht zu dem gewünschten Erfolg der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems, oder es überwiegen andere gesundheitliche, wirtschaftliche und psychosoziale Schäden. In dieser Situation endet die Legitimität der Strategie.

III. Es gibt die begründete Hoffnung, dass die Fortsetzung der Strategie über einen definierten Zeitraum dazu führt, dass der bereits eingetretene Zustand der Überlastung des Gesundheitssystems revidiert wird. Auch in einer solchen Situation sind zumindest Lockerungen des Restriktionsregimes angezeigt. Kollidierende Interessen gewinnen zunehmend an Gewicht.

Heute nun kam ein Interview im ärztlichen Nachrichtendienst mit Franz Knieps, Vorstand des Betriebskrankenkassenverbandes https://www.aend.de/article/204998

(Es scheint leider so zu sein, dass nur ÄrztInnen und solche, die denen gleichgestellt sind, den Artikel öffnen können. Tut mir leid. Bei Interesse schicke ich ihn per E-mail zu.)

„Die wichtigste Maßnahme wäre zunächst, die Erhebungspraxis zu ändern“

Im Kampf gegen das Coronavirus werden kritische Stimmen an den Schutzmaßnahmen lauter. Ein neues Thesenpapier könnte die Diskussion um ein baldiges Ende des Shutdowns in Deutschland voranbringen, ohne die politisch Verantwortlichen zu diskreditieren. Der änd hat mit einem der sechs Autoren aus Wissenschaft und Versorgung gesprochen: Franz Knieps, Jurist und Vorstand des BKK-Dachverbandes.

Herr Knieps, in Ihrem 26-seitigen Thesenpapier empfehlen Sie ein Überdenken der aktuellen Maßnahmen. Warum?

Weil wir inzwischen eine breitere Datenbasis haben als noch vor vier Wochen. Auf deren Grundlage wollen wir abbilden, was aus unserer Sicht gut, und was weniger gut gelaufen ist. Was wir ausdrücklich nicht wollen ist, die Politik unter Druck zu setzen, oder Personen und Maßnahmen zu kritisieren. Allerdings halten wir die allgemeinen Präventionsmaßnahmen wie social distancing für theoretisch schlecht abgesichert. Wir glauben, dass deren Wirksamkeit beschränkt ist, denn am häufigsten verbreitet sich SARS-CoV-2 derzeit in Krankenhäusern und in Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt verlieren dagegen an Bedeutung.

Das Thesenpapier von dem Herr Knieps spricht, erarbeitet von einer Reihe von namhaften Fachleuten gibt es in zwei Fassungen: in einer leicht lesbaren kürzeren – und danach folgt eine ausführliche Zahlen-/Verfahrengesättigte, bei der sich aber das Durchkämpfen lohnt.

Multidisziplinäres Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19

 

These 1: Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen.

 

These 1.1. Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, da kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (v.a. asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.

1. Die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle wird in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst.

2. Unter Berücksichtigung dieser anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen.

3. Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung, sie sollte um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.

4. Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit.

5. Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt nicht erfasst.

6. Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte) müssen intensiviert werden.

These 1.2. Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden.

1. Mangelnde Abgrenzung der Grundgesamtheit: es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist;

2. Fehlende Berücksichtigung der attributable mortality: es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität tatsächlich auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen und nicht durch die Komorbidität oder den natürlichen Verlauf zu erklären ist;

3. Fehlender Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven vergleichbarer Morbidität: es gibt keine Erkenntnisse über die excess-mortality im Vergleich zu einer Alters-, Komorbiditäts- und Jahreszeit-gematchten Population in den zurückliegenden Jahren.

These 1.3. SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen werden. Dieser Ausbreitungstyp stellt mittlerweile den dominierenden Verbreitungsmodus dar. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt wird an Bedeutung abnehmen.

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