„Der Spiegel“ denkt noch mal nach. Schweinegrippe und Corona

Am 11.6.20 geschah etwas Erstaunliches: Der Spiegel arbeitete einen Artikel auf, der ursprünglich 2010 erschienen war. Ein bisschen will mir scheinen, dass sich damit auch eine – sagen wir mal – veränderte Ausrichtung der Berichterstattung andeutet: Von Artikeln, die die Grenze zur Panikmache wenigstens streiften, von Artikeln im Tenor „es muss ALLES getan werden, um der Pandemie Herr zu werden“ bis zu den mich erbitternden – wissenschaftlichen oder moralischen – Abqualifizierungen von Menschen, die Verhältnismäßigkeit anmahnten, die eine Minderheitenposition vertraten.        

Nach Lektüre des Artikels habe ich im Diskussionsforum geschrieben:

Wäre schön gewesen, wenn die SpiegelredakteurInnen diesen alten Artikel etwas früher aus dem Archiv gekramt und in ihre Überlegungen einbezogen hätten. So sehr ich Verständnis dafür habe, dass man bei einem uneinschätzbaren Ereignis zunächst mal überwältigt ist und es auch vernünftig ist, zunächst mal eher zu viel an Vorsicht als zu wenig walten zu lassen – aber was der Spiegel in den letzten Monaten an Einseitigkeit geboten hat, einschließlich der moralisierenden Diffamierung „abweichender“ Meinungen – nie hätte ich das geglaubt. Jetzt scheint die Zeit der Gläubigkeit an Goldhamster-Studien zu Ende zu sein, jene unsägliche Story, die Sie wie so manches andere als Gipfel wissenschaftlicher Erkenntnis dem verehrten Publikum vorsetzten. Ist wohl nicht mehr so ganz chic. Was der Spiegel und andere (sich selbst als liberal verstehende) Medien angerichtet haben – da bin ich gespannt, ob so viel von solidem Journalismus bei Ihnen übrig geblieben ist, dass Sie das gründlich (!) aufarbeiten und nicht einfach nur  in „war-da-was?“-Manier kommentarlos die nächste Volte schlagen.“

 

Gut, nun zu dem mal wieder kostenpflichtigen Artikel:

Rekonstruktion des Schweinegrippe-Debakels  –Die Pandemie, die keine war https://www.spiegel.de/wissenschaft/schweinegrippe-die-pandemie-die-keine-war-a-00000000-0002-0001-0000-000170874376

„2009 hielt ein neues Virus die Welt in Atem. Die WHO warnte vor bis zu 7,4 Millionen Toten. Der Fall zeigt, warum die Reaktion auf solche Bedrohungen eine Gratwanderung ist.“

Damals – also 2009 haben „systematisch….Seuchenwächter, Medien, Ärzte und Pharmalobby die Welt mit düsteren Katastrophenszenarien eingestimmt auf die Gefahr neuer, bedrohlicher Infektionskrankheiten.“

Das ist jetzt nicht einfach als „dumm“ oder „böse“ oder „berechnend“ abzuqualifizieren. Denn vorher gab es die Vogelgrippe, an der jeder dritte Infizierte gestorben war. Es ist eben wirklich – wie der Spiegel schreibt – eine „Gratwanderung“.

Auch wenn es in dem Zusammenhang etwas zu flapsig klingt. Mark Twain hat schon recht „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.“ Ich möchte nicht wissen, was z.B. auf die WHO eingeprasselt wäre, wenn man ihr bei einem katastrophalen Verlauf den Vorwurf hätte machen können, sie habe verharmlost, das Virus nicht ernst genommen.

Heißt dies, dass ein sehr milder Verlauf der Pandemie von Anfang an gar nicht in Betracht gezogen wurde? Auf jeden Fall ist Abwiegeln unerwünscht: Die WHO will bei ihren Entscheidungen erklärtermaßen von einem Worst-Case-Szenario ausgehen. ‚Wir wollten die Situation lieber über- als unterschätzen‘, sagt Fukuda.“ [Keiji Fukuda, Grippe-Spezialist der WHO]

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Der zentrale Satz des ganzen Artikels ist für mich der von Johannes Löwer (damaliger Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts) „…Da war keiner, der sagte, denkt noch mal nach.“

Und so kam eins zum andern: Echte Besorgnis, Angst vor Prügel, die man bezogen hätte, wenn man im Nachhinein als „Verharmloser“ dagestanden hätte, Fehleinschätzung, Betriebsblindheit, finanzielle Interessen, Bedürfnis sich zu profilieren, Rechthaberei. Und Sensationslust. Selbstkritisch erinnert sich der Spiegel heute an die damals „dem neuen ‚Welt-Virus‘“ gewidmete Titelgeschichte, in der zu lesen war, „der Schweinegrippe-Erreger könne zum Horrorvirus mutieren“.

„‚Manchmal kommt es mir vor, als hätten manche geradezu Sehnsucht nach einer Pandemie‘, konstatiert der Grippe-Experte Tom Jefferson von der internationalen Cochrane Collaboration. ‚Alles, was es jetzt brauchte, um diese Maschinerie in Gang zu bringen, war ein kleines mutiertes Virus.‘“

Die WHO ruft die Stufe 6 der Seuche aus („erstmals seit 41 Jahren“) das bedeutet: die Schweinegrippe wird zur Pandemie erklärt. Auf der Website der WHO stand zu lesen, eine Pandemie sei von „einer enormen Anzahl von Todes- und Krankheitsfällen“ begleitet. Als ein CNN-Reporter die Seuchenschützer auf den Widerspruch zur eher mild verlaufenden Schweinegrippe aufmerksam machte, verschwand diese Erklärung umgehend (4.5. 09) Spötter hätten nachgefragt, ob man demnächst Schnupfen zur Pandemie erklären wolle.

Aber wie soll ein Laie da durchblicken, wenn auch im deutschen Pandemie-Plan von 2007 zu lesen war, Phase 6 bedeute „‘eine lang anhaltende, länderübergreifende Großschadenslage“. Sie verursache „derart nachhaltige Schäden, dass die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen gefährdet oder zerstört wird‘“.

Es ist die Stunde der Bildzeitung und die Stunde der Pharmaindustrie: „Phase 6 funktioniert wie ein Schalter, der die Kassen der Industrie risikofrei klingeln lässt. Denn viele Pandemie-Impfstoff-Verträge sind längst abgeschlossen.

Und das RKI damals? „‘Wir haben uns damals miserabel beraten gefühlt‘, erinnert sich der Bremer Staatsrat Hermann Schulte-Sasse (SPD). Das RKI prognostiziert damals bis zu 80 000 Tote.

Gegen Ende der scheinbaren Schweinegrippepandemie heißt es: „In Deutschland gibt es jetzt offiziell 727 Infizierte, gestorben ist keiner.“ (14.7.2009)

Fazit zog am 26.1.2010 damals ein gewisser Arzt namens Wodarg, Abgeordneter im Europaparlament: „Der deutsche Abgeordnete Wolfgang Wodarg kritisiert im Europarat in Straßburg, dass weltweit ‚Millionen Menschen ohne einen guten Grund geimpft‘ wurden. Die Ausrufung der Pandemie durch die WHO habe den Pharmakonzernen 18 Milliarden Dollar Zusatzeinnahmen in die Kassen gespült. Allein der Jahresumsatz des Grippemittels Tamiflu ist um 435 Prozent auf 2,2 Milliarden Euro gestiegen.“

Es wäre sträflich, die Situation der Schweinegrippe mit der Corona gleichzusetzen: Das sieht heute anders aus. Wir haben in Deutschland über 8 000 Personen die „mit oder an“ Corona gestorben sind. Es hat lange gebraucht, bis sich diese Formulierung durchgesetzt hat, die darauf hinweist, dass in den meisten Fällen nicht so eindeutig ist, wie man uns anfangs glauben machen wollte. Aber ob „mit oder an“ Corona gestorben – das sind Schicksale und keine quantité negligeable. Ich nehme das ernst. Aber ernst zu nehmen sind nicht minder die sich wiederholenden Mechanismen: „Da war keiner, der sagte, denkt noch mal nach.“ Vielleicht muss man sich drauf einstellen, dass man sich nicht immer auf andere verlassen kann. Es funktioniert auch, sich selbst den Satz zu sagen. Auch dann wenn man Angst hat, auch dann, wenn man Verantwortung hat, auch dann, wenn alle sich so einig sind. Gerade dann!

In diesem Sinn: DENK NOCH MAL NACH!

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