„Das verschwundene Klo“ – Vorarbeit zum Thema Macht und Unterwerfung

 

Diese Geschichte von Marcus Ertle aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 7.6.2019 (ich fürchte aber, man muss fürs Lesen 1.99 Euro löhnen) war eigentlich der Grund, weshalb ich den Artikel „Macht ist die Konsequenz, Unterwerfung ist die Ursache“ (unter „eigene Veröffentlichungen – Artikel“)  geschrieben habe.

„Das verschwundene Klo“ ist eine unglaubliche Geschichte: „Als ein Augsburger Rentner nach Hause kommt, findet er die Toilette nicht mehr vor. Sein Vermieter versichert ihm, es sei eine vorübergehende Ausnahmesituation. So vergehen Jahre. Eine haarsträubende Geschichte über Frechheit, Scham und viel zu viel Geduld.“

Über das Verhalten der „Gegenseite“, also dies Vermieters, des Hausverwalters und einer ominösen, angeblich mit der Renovierung betrauten Architektin braucht bei dieser von 2014 bis 2019 dauernden Geschichte kein Wort verloren zu werden (außer vielleicht die Schlussbemerkung  des Artikels: „Ertle bat daraufhin den Vermieter um eine Stellungnahme zu dem Fall. Als Reaktion rief ein Anwalt des Vermieters bei Ertle sowie bei dessen Eltern an und riet, jede Veröffentlichung über dieses Thema zu unterlassen“).

Was mich beschäftigt, ist das Verhalten des betroffenen Rentners. Fast macht dessen selbstverordnete Wehrlosigkeit wütend auf ihn. Aber hier werden die Mechanismen deutlich, die zu seiner extremen Unterwürfigkeit führen.

Zunächst, im Winter 2014, ist die erste Reaktion auf den Verlust der Toilette: Habe ich vielleicht was übersehen, eine Mitteilung nicht gelesen. Das heißt: Der Fehler wird bei sich selbst gesucht.

Jemanden von der Geschichte zu erzählen, schämt er sich.  Mit der Scham ist es ohnehin etwas Merkwürdiges: Wie häufig schämen sich die Verkehrten! Der Rentner, dass ihm das Klo geklaut wurde, das Opfer, dass es vergewaltigt worden ist, der Gekündigte, dass sein Betrieb von einem gewinnmaximierenden Investor übernommen wurde. Wer weiß, vielleicht ist Scham des Opfers der wichtigste Mitspieler bei der Unterwerfung. Denn Scham lässt schweigen, macht einsam. „Silence ist the enemy of justice“ steht auf einem Kugelschreiber, den mir jemand geschenkt hat, der es wissen muss.    

Der Rentner lässt er sich vom Vermieter vertrösten, schluckt widerspruchslos die Erklärung, wegen Renovierung hätte das Klo entfernt werden müssen. Lässt sich darauf ein, ein Stock höher aufs Etagenklo zu gehen. Er hat gelernt, brav zu sein, sich zu fügen.

Er hätte zum Anwalt gehen können. Aber – so seine Überzeugung – „Wenn er jetzt zum Anwalt geht, wenn er in diesen Zeiten einen Vermieter verärgert, … dann kündigt er ihm die Wohnung.“ Wenn man sich wehrt, macht man es nur schlimmer.

Er macht es tatsächlich schlimmer: Weil er sich geniert, benutzt er das Etagenklo im nächsten Stock heimlich. Als er „erwischt“ wird, kriegt er nicht fertig, zu sagen, wie es ist, sondern verstrickt sich in nicht nachvollziehbare Ausreden, das heißt, er deckt den Vermieter. Die Folge: die Benutzung  des Ersatzklos wird ihm von den andern Mietern untersagt.

Wenn er sich dann überhaupt traut, beim Vermieter, bei der Hausverwaltung, bei der Architektin anzurufen, erlebt er diese zunehmend genervt. Auch hier wieder eine ganz typischer Mechanismus: Wenn die Autorität die Stimme hebt, genervt reagiert, ist kein Drandenken mehr zu sagen: „wer hat hier eigentlich Grund genervt zu sein, das sind doch nicht Sie?“ Vielmehr reagiert man beschwichtigend. So wie das Kind es gelernt hat, wenn autoritäre Eltern die Stimme heben. Der Rentner hält sich an den „Rat“ des Hausverwalters, öffentliche Toiletten zu benutzen.

Kommt ihm schließlich nach Monaten der Gedanke (oder soll ich sagen: die Versuchung?), sich vielleicht doch an einen Anwalt, an den Mieterverein zu wenden, kann er sich das nicht vorstellen, seine Geschichte zu erzählen. Das wäre zu peinlich! Er sitzt in der Falle. In der selbstgebauten Falle. Er hat so angefangen, jetzt muss er so weitermachen.Geschlagene Frauen holen sich keine Hilfe, weil sie die Reaktion fürchten „Wie bitte, das geht schon so seit drei Jahren? Wieso kommen Sie erst jetzt?“ Wie der Arbeitnehmer, dessen Chef die Sozialabgaben nicht zahlt, weiter macht, weil er sich irgendwann mal drauf eingelassen hat: „ich hab mich ja drauf eingelassen und mitgespielt. Das versteht keiner und am Ende bin ich der Dumme.“

Die selbstgebaute Falle? Ja und nein. Hätte dieser Rentner, hätte die geschlagene Frau, hätte der Arbeitnehmer und all die andern, die aushalten, gute Freundinnen und Freunde, ein passables „soziales Netz“, dann wäre der Mund nicht verschlossen geblieben und die Opfer erlebten solidarische Empörung: „Aber das geht doch so nicht!“ . Einsamkeit macht stumm. Die Einsamkeit macht einsam. Die Opfer erfahren es, die Täter wissen es.

     

Inzwischen schreiben wir 2016. Die Architektin schiebt alles auf das Amt für Denkmalschutz: Dort läge der Antrag auf Einbau einer neuen Toilette. Für den Rentner kommt (noch) nicht in Frage, dort anzurufen. Wegen der Peinlichkeit einerseits, andererseits würde eine solche Anfrage doch Misstrauen gegenüber der Architektin und dem Vermieter ausdrücken. Und man ist schließlich ein braves Kind, unterstellt der Autorität nichts Böses.

2018 (!) befreit er sich. Ein Anruf beim Amt für Denkmalschutz ergibt, dass dort gar kein Antrag vorliegt. Darauf wendet er sich an den Mieterverein. Der Anwalt des Vermieters teilt dem Mieterverein mit, der Mietvertrag beinhalte keine eigene Toilette. (!) Aber jetzt ist die Angst überwunden. Der Rentner lässt sich mit Unterstützung des Mietervereins zunächst auf eigene Kosten eine Toilette einbauen – und erhält knapp ein Jahr später vom Vermieter eine Überweisung für die Kosten. Aber keine Antwort auf die Frage, wieso das Klo 2014 überhaupt entfernt wurde.

 

Ein Lehrstück. Sicher ein extremes. Aber bevor wir die Augen verdrehen, sollten wir uns fragen, ob uns  all diese Mechanismen nicht aus eigener, aus ureigenster Erfahrung recht vertraut sind. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ – das sagt sich so leicht.

In der Wendezeit 1989 gab es mal eine Karikatur. Darunter stand: „Das Kaninchen vor der Schlange“. Das Bild zeigte ein Riesenkaninchen – nämlich „das Volk“ (das damals noch nicht skandierte „wir sind ein Volk“) und eine zum Wurm geschrumpfte Schlange – die DDR-Regierung. Klappt doch mit dem Sich-Wehren! Tja. Hinterher ist man klüger. Die Studenten von Tieananmen sind es auch.

 

 

 

 

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