Corona und mein Kleiderschrank

Die Bekleidungsfirma Adler hat Insolvenz angemeldet. Ob ihr Ableben nun mit oder durch Corona eintrat, sei dahingestellt: Dieser Kette – spezialisiert auf Damen meines Alters – ging es schon vor Corona nicht prickelnd. Vielleicht wäre die Insolvenz auch so gekommen. Aber im Moment ist es ganz praktisch: Alles, wirklich alles lässt sich auf Corona schieben. Wenn was nicht funktioniert, etwas nicht rechtzeitig zugestellt wird, Ehekrisen und finanzielle Schieflagen. Auch der Tinnitus, der sich ein Vierteljahr nach überstandener Covid-19-Infektion einstellt – was soll das sein, wenn nicht eine Spätfolge?

In dem kurzen Radio-Bericht über die Firma Adler wurde die Lage der Bekleidungsindustrie insgesamt als desolat dargestellt. Weil es „normal“ sei, dass Kleidung der letzten Saison unverkäuflich ist: Die Kundschaft wolle die neue Kollektion. „Normal“ scheint auch zu sein, dass man aus dem Laden, in dem man ein Paar Socken kaufen wollte, mit einem neuen Pullover zusätzlich rausgeht. Obwohl der Kleiderschrank überquillt.

„Normal?“, dachte ich. Der Soziologe Hartmut Rosa kam mir in den Sinn – der dazu ein intellektuelleres Beispiel gibt: Seit Jahren werden in Deutschland immer mehr Bücher gekauft – und immer weniger werden gelesen. „Rasender Stillstand“, nennt er das. Unser System funktioniert nur mit Wachstum. Es muss mehr produziert und mehr gekauft werden. Ob das Gekaufte überhaupt konsumiert werden kann, ist belanglos, ob man es „braucht“ erst recht. Um auf einer Rolltreppe, die nach unten fährt, wenigstens auf derselben Höhe zu bleiben, müsse man ununterbrochen vorwärts. Es gibt nur die Wahl zwischen Wachstum und Rezession. Ohne Wachstum Absturz. Warum eigentlich?

Gibt Corona uns die Chance, aus dieser Verrücktheit herauszukommen? Wann ist genug genug? Oder gibt es das nicht: es reicht, es ist genug?

300 Millionen unverkaufte Kleidungsstücke

So berichtete die Tagesschau:  Die Zahlen gelten für Deutschland, wohlgemerkt:

Quer durch die Branche bleibt Ware liegen: bei den großen Ketten, den Mittelständlern mit wenigen Filialen und den kleinen, inhabergeführten Geschäften. Der Lockdown hat den gesamten Wirtschaftszweig schwer getroffen.

Allein seit Anfang Dezember sind etwa 300 Millionen Teile liegen geblieben, schätzt der Branchenverband BTE Textil. „Die Umsatzverluste des gesamten Winter-Lockdowns dürften sich bis Ende Januar auf rund zehn Milliarden Euro summieren“, prognostiziert BTE Textil-Hauptgeschäftsführer Norbert Pangels.“

300 Millionen Teile seit Anfang Dezember (jetzt haben wir knapp Mitte Januar)! Das bedeutet: vier Teile für jeden Bürger jede Bürgerin Deutschlands. Vom Säugling bis zum Greis! Sind wir denn alle verrückt geworden?

Das darf so nicht weitergehen, sagte ich mir. Aber bevor ich beschließen konnte „Was ich wirklich brauche, darüber bestimme ich ab heute selbst!“, mache die Rundfunkmoderatorin darauf aufmerksam: Wenn wir nicht weiter brav kaufen, hat die Arbeiterin in Bangladesch kein Einkommen. Kaufen als moralische Verpflichtung. Gerade in Zeiten wie diesen?

3 Comments

  1. Karin
    15. Januar 2021

    Wer oder was bringt uns eigentlich dazu, Mode-Lemminge zu sein und die Kollektion aus der vergangenen oder noch weiter zurückliegenden Modesaison für untragbar zu erachten und dem jeweils neusten Modeschrei zu folgen? Sind alle die „gestrig“ Gekleideten, Geschminkten und Frisierten oder gar Ungeschminkten und ungestyltes Haar Tragenden tatsächlich ohne Chic und Charme?
    Mir jedenfalls ist jemand, dessen altmodische Kleidung Persönlichkeit verrät, allemal lieber als die neuste Jedermann/Jedefrau-Mode-Jeans, deren Austauschbarkeit uniformiert statt kleidet.

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  2. Gerd
    16. Januar 2021

    Super. Satire und mehr.

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  3. Klaus Huber
    16. Januar 2021

    Es ist ein Drama, wie unausgewogen manche Corona-Maßnahmen sind !!!
    Ganze Branchen ringen um Ihre Existenz . Manche Politiker müssten „den Mut des ADLERS „, haben um Tälerund Tiefen der Unzulänglichkeit zu überfliegen

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