Prolog
Anfang der Nuller-Jahre gab es eine sehr unterhaltsame ARD-Serie mit Namen „Berlin Berlin“. Die junge Protagonistin Lolle zog vom beschaulichen Malente ins bunte Berlin und lernte dort das Leben kennen. Es gab auch mal eine Folge, die mit „Stuttgart Stuttgart“ überschrieben war, und in welcher Lolle des Berufs wegen gen Süden zog. Aber diesen Ausrutscher hat sie schnell korrigiert: in der übernächsten Folge war sie wieder in der Hauptstadt.
Zwanzig Jahre später, Mitte Juni 2020, war ich nun einmal wieder in Berlin und diese Episode könnte man sehr gut mit „Corona Corona“ betiteln. Auch wenn die Covid-19-Erkrankung nicht mehr ganz so präsent war, als zu der Zeit als man sich in Berlin noch nicht einmal alleine auf eine Parkbank setzen durfte; das Virus wurde dennoch allgegenwärtig gehalten, wenn auch manchmal nur im Subtext.
Die vielfältigen, mit dieser Reise zusammen hängenden Erfahrungen begannen bereits im März als mich unser Gastgeber Mark angesichts des eben verhängten Lockdowns unschuldig fragte, ob ich denn davon ausginge, dass wir in drei Monaten tatsächlich bei ihm aufschlagen würden. Eigentlich wollte er nur ein „ja“ hören. Aber er bekam eine ausführliche Nachricht, die unter Punkt 2 folgendes Statement enthielt: „Die aktuellen Maßnahmen sind sehr radikal und lassen sich nur rechtfertigen, wenn sie auch einen durchschlagenden Effekt haben. Wenn sich dieser nicht bald zeigt, kann man sie auch lassen. Und wenn er sich zeigt, ist es wiederum an der Zeit, dass man sich vernünftig überlegt, wie man die Maßnahmen sinnvoll modifiziert.“ Ich finde es immer wieder interessant nachzulesen, was ich zu den unterschiedlichen Zeitpunkten so gedacht habe und finde es immer wieder wohltuend, festzustellen, wie vernünftig ich auch damals gedacht habe. Gleichzeitig ist es jedoch auch erschreckend, wie falsch ich teilweise mit meinen Schlussfolgerungen und Prognosen gelegen habe. Was ich völlig überschätzt habe war die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein der handelnden Personen einschließlich der Presse.
Die Anreise
Die Anreise erfolgte umweltfreundlich mit der Bahn. Allerdings – das muss ich gestehen – nicht völlig freiwillig, sondern weil Easyjet unseren und auch alle anderen Flüge gestrichen hatte. Mir graute vor der sechseinhalbstündigen Zugfahrt, nicht nur aber auch wegen der Maskenpflicht. Die positive Erfahrung war: die Reisenden legten diese Vorgabe sehr großzügig aus. Ab Fulda hatte ich die meine vollständig abgelegt und befand mich damit in bester Gesellschaft. Die negative Erfahrung war: Das Buchungssystem der Bahn hatte einen Hau gehabt und etliche Familien mit quengelnden Kleinkindern in den Ruhewagen platziert. Dieser konnte deshalb seinem Namen nun wirklich keine Ehre machen. Ich befand mich in einer Zwickmühle: Normalerweise spreche ich Störquellen im Ruhewagen sehr schnell an. Aber in diesem Fall fiel es mir schwer, bzw. war mir moralisch unmöglich. Die selbstwertdienliche Erklärung ist: Ich hatte Mitleid mit den Kindern und ihren Eltern, die wochenlang unter den schweren Corona-Einschränkungen zu leiden hatten. Da ist ja wohl ein bisschen Nachsicht angebracht. Die eher zutreffende Erklärung lautet hingegen: Ich hatte Angst, dass meine Bitte um Einhaltung des Ruhe-Gebots mit Verweis auf mein Nichtbefolgen der Maskenpflicht retourniert werden würde. So übte ich mich also in Toleranz und fühlte mich als edler Mensch: verständnisvoll und rebellisch zugleich!
Essen gehen
Gleich am ersten Abend luden wir unseren Gastgeber zum Essen ein. Er führte uns zu seinem Lieblingsitaliener in Schöneberg. Giovanni (der vermutlich Luigi oder Gianluca heißt) begrüßte uns mit Corona-Faustschlag, verscheuchte – wie man es aus Filmen kennt – ein paar andere Gäste (ich gebe zu: es war sein Bruder und dessen Frau) um uns die Premiumplätze zuzuweisen. Die Pizza war prima, die Carbonara ebenso und der Digestiv auf Kosten des Hauses schmeckte überraschend gut. Was fehlte war das Protokollieren unserer Kontaktdaten. Wir waren verwundert, erklärten uns dies aber durch den Umstand, dass Mark persönlich bekannt war. Am nächsten Tag jedoch in Potsdam in einem wunderschönen Café in der Orangerie im Neuen Garten wurden wir ebenfalls nicht notiert. Unseren Nebensitzern wurde wenigstens die Möglichkeit dazu eingeräumt (die sie dankend ablehnten). Wir meinten zu hören: Im Lande Brandenburg darf der Gast entscheiden, ob er seine Daten preisgeben möchte, oder nicht. Das ist in meinen Augen nur konsequent, denn wer weiß denn schon, ob ich tatsächlich korrekte Angaben mache. Wenn ich mit Lieschen Müller unterschriebe, fiele dem aufmerksamen Beobachter die Unwahrheit höchstens durch Abweichungen hinsichtlich des Geschlechts auf. Zurück in Berlin war das Bild kaum einheitlicher: Im einen Lokal wollte man Telefonnummer UND E-Mail-Adresse wissen, im anderen konnte man wählen, das dritte wiederum interessierte sich überhaupt nicht dafür (und zwar ohne persönliche Bekanntheit). Und überhaupt frage ich mich, wie bei dieser Zettelwirtschaft im Fall der Fälle tatsächlich irgendetwas nachvollzogen werden soll.
Hysterische Personen – Teil 1
An unserem zweiten Tag in Berlin fuhren wir – ich deutete es bereits an – nach Potsdam. Wir wussten es morgens noch nicht, aber wir würden an diesem Tag 24 Kilometer laufen: Glienicke Park, Neuer Garten, Holländisches Viertel, Park Sanssouci, bis dann am späten Nachmittag ein Besuch bei meiner Freundin Anorte mit Kaffee und Kuchen auf dem Programm stehen würde. Aber soweit waren wir noch nicht – wir mussten erst einmal nach Potsdam kommen. Das ist gar nicht so leicht, wenn man von der U-Bahn-Haltestelle Wilmersdorfer Straße in einen Regionalzug ab Bahnhof Charlottenburg umsteigen muss. Wir hatten nicht viel Zeit und sprangen dementsprechend völlig außer Puste auf den schon fast abfahrenden Zug auf. Wir hatten unsere Masken bereits umgeschnallt, deswegen galt das Bellen des Penners im Eingangsbereich „Hier herrscht Maskenpflicht!“ auch nicht uns, sondern dem Mann vor uns. Andreas fühlte sich dennoch bemüßigt ihn mit (nicht wirklich freundlichem Tonfall) darauf hinzuweisen: Wenn er schon andere dumm von der Seite anmache, dann solle er doch bitte schön selber seine eigene Maske auch über die Nase ziehen. Es ist für mich sehr interessant, wie unterschiedlich man mit einer solchen Situation umgehen kann. Ich pflege in solchen Situationen einfach gar nichts zu machen. Selbstwertdienlich formuliert: Ich strafe den anderen mit Missachtung. Andi beißt zu. Vermutlich liegt der ideale (aber unrealistische) Weg in der Mitte: Ein freundliches, wertschätzendes In-Kontakt-Treten mit dem Gegenüber durch senden von Ich-Botschaften: „Ich sehe, dass Sie durch Ihren Hinweis einen Mitreisenden freundlich unterstützen wollen, eine Vorgabe, die Ihnen ganz offensichtlich sehr wichtig ist, umzusetzen. In meinen Augen könnten Sie dies noch überzeugender tun, indem Sie die Maske selbst ordnungsgemäß tragen würden.“ So irgendwie. Da keine Aussicht auf ein fürstliches Coaching-Honorar bestand, ging ich weiter und trottete verschwitzt hinter Andi her. Der Zug war voll, zwei Plätze nebeneinander waren weit und breit nicht zu finden, also hielt Andi schließlich vor einer Vierersitzgruppe, welche durch eine ältere Dame, sowie ihre Handtasche und ihren Regenschirm vollständig in Beschlag genommen waren. „Dürfen wir uns hier hinsetzen?“ frage Andi und ich schwöre, dass er wirklich höflich und freundlich war. „Nein“, entgegnete die Frau kurz angebunden. Andi war irritiert und das merkte man sicher auch an seinem Tonfall. „Und warum nicht?“ „Weil wir Abstand halten müssen und nicht in einem gemeinsamen Haushalt wohnen“, war die Antwort. Ich kann nicht beschwören, ob hier noch ein weiterer Wortwechsel folgte, aber wenige Augenblicke später hatte die Dame ihre Tasche und ihren Stockschirm in der Hand und Andi und mich sich gegenüber sitzen.
Das alleine war für mich schon eine Erkenntnis! Auch so kann man dieses Problem lösen: Durch energisches, wenngleich etwas übergriffiges Handeln. Ich hingegen hätte zu 100% die Erklärung der Frau widerwillig zur Kenntnis genommen, mich innerlich aufgeregt und wäre weiter gegangen. Ich war stolz auf meinen Freund – wenngleich ich nicht verhindern konnte, dass mir die Frau ein wenig leid tat: Möglicherweise machte sie sich ja wirklich Sorgen und hatte Angst. Andererseits sagte ich mir: Von mir erwartet sie, dass ich mich irgendwo hinquetsche und mich beispielsweise im vollen Eingangsbereich einem (aus meiner Sicht auch nicht wirklich vorhandenen) Ansteckungsrisiko aussetze. Sie ist also mindestens genauso egoistisch und rücksichtslos wie sie denkt dass ich es bin, wenn ich mich auf den freien Platz ihr gegenüber setze.
Umarmungen unter Freunden
Es ist schon lustig: Im Juni 2020 geht mir jedes Mal das Herz auf, wenn ich sehe, dass sich zwei Menschen umarmen oder sich die Hand schütteln. Der Handschlag ist nicht mehr nur Ausdruck der Begrüßung, sondern signalisiert auch: Ich habe ein Gehirn und gebrauche es auch eigenverantwortlich. Plus – leider aktuell nicht ganz selbstverständlich – ich habe auch den Mut dies öffentlich zu zeigen.
Die Begrüßung durch Umarmung mit Mark, unserem Gastgeber, am ersten Abend war wie selbstverständlich erfolgt. Bei Anorte einen Tage später in Potsdam vollzog sich hingegen ein mir mittlerweile schon bekanntes Ritual: Wir standen uns gegenüber und schauten uns an. Anorte ging auf mich zu und öffnete ihre Arme leicht um eine Umarmung anzudeuten, hielt dann in der Bewegung inne und meinte „Ach! Corona?!“ Und daraufhin ich: „Ach komm!“ und umarmte sie. Ich bin ernsthaft am überlegen, ob ich mir nicht einen Button zulegen soll auf dem „Ich umarme dich trotz Corona!“ oder so etwas steht, oder ob ich das Prozedere nicht im Vorfeld klären soll indem ich eine Mail verschicke in der sinngemäß steht: „Ich habe keine Berührungsängste, respektiere es aber wenn du/ Sie lieber Abstand halten willst/ wollen.“
Besonders schön fand ich natürlich die spontanen Umarmungen ohne viel Aufhebens. Ich habe während der Tage in Berlin gleich zwei Bekannte aus Stuttgart – an unterschiedlichen Stellen in Stadt – getroffen und beide freudig und ohne viel nachzudenken umarmt.
Die Ironie bei dieser Sache ist: Eigentlich sollte ich Corona ja fast dankbar sein. Ich bin nämlich nie ein großer Fan des Sich-Umarmens gewesen. Vor jedem Volleyball-Training vollzog sich dieselbe Prozedur: jeder umarmte oder küsste jeden. Ich hätte am liebsten einfach in die Runde gewunken.
Insgesamt habe ich aber den Eindruck: Freunde wollen sich zur Begrüßung umarmen. In den meisten Fällen tun sie das auch und ich bin sehr optimistisch, dass sie das in Zukunft wieder tun werden, wenn zunehmend offensichtlicher werden wird, dass dies nicht verantwortlich für eine Eskalation der Lage ist.
Shopping auf berlinerisch
Was mich wirklich, wirklich, WIRKLICH nervt, ist die übervorsichtige, ja gar hysterische Auslegung der Vorgaben. Offensichtlich muss man in Berlin nämlich beim Einkaufen gar keine Maske tragen! Oder doch? Es ist verwirrend: Auf der Internetseite der Stadt Berlin steht: „Berliner*innen sind verpflichtet in Laden-Geschäften eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.“ Da stellt sich natürlich schon mal die Frage, ob das für mich als Stuttgarter überhaupt gilt. Ich gebe zu, das ist spitzfindig. Und noch spitzfindiger ist es vermutlich, wenn ich frage, ob es auch ausreichend ist, die Mund-Nasen-Bedeckung auch in der Hand zu tragen. Aber Schlupflöcher dieser Art sind mir im Moment sehr wichtig.
Was ich anhand dieser eigentlich klaren Vorgabe der Stadt Berlin nicht so ganz einordnen kann ist die Erfahrung im KaDeWe an unserem dritten Tag. Dort war zwar der Eingang mit Sicherheitsleuten flankiert, rückblickend bin ich mir aber nicht so sicher, ob deren Job tatsächlich war, zu kontrollieren, ob wir beim Betreten des Kaufhauses eine Maske trugen. Denn drinnen war ich dann überrascht, dass sehr wohl so ziemlich alle Kund*innen eine Maske trugen, aber nur geschätzt gut 50% des Personals. Viele Mitarbeiter*innen liefen „wie Gott ihr Gesicht schuf“ durch die Gegend. Neben der Rolltreppe stand dann auch auf einem Schild mit Corona-Regeln zu lesen: „Bitte bedecken Sie Mund und Nase, wenn sie niesen oder husten.“
„Sonst nicht“ stand dort zwar nicht explizit, aber der Subtext war klar. Ich weiß nicht genau, was ich mir wünschen soll: Klare transparente Verordnungen, oder jede Menge Schlupflöcher innerhalb einer völlig widersprüchlichen Gemengelage. Letztere führt nämlich dann auch zu folgenden Blüten:
Eine Stunde später, andere Ecke der Stadt: Prenzlauer Berg, Kastanienallee. Ein kleiner, eigentlich ein bisschen alternativer Kleidungsladen, dem ich fast jedes Mal, wenn ich in Berlin bin, einen Besuch abstatte. Der Eingang war abgesperrt, man dufte nur einzeln eintreten und erst nachdem man sich a) sein hübsches Mäskchen aufgesetzt, b) seine Hände desinfiziert und c) – und ich schwöre, dass das kein Witz ist! – jeweils einen Spritzer Sagrotan auf die Schuhsolen gespritzt bekommen hatte.
Wo bitte bleibt die Verordnung, die mich vor Schwachsinn bewahrt?
Gastgeber Mark stieß ein bisschen später zu uns und hatte seinen Hund dabei. Ich habe leider vergessen zu fragen, welches Hygieneprogramm diesem auferlegt worden war. Denn schließlich hätte Mark seiner Bonny ja zuvor auf die Pfoten geniest haben können und dieser wäre dann höchstinfektiös durch den Laden gewatschelt…
Überraschung im Parlament
Am vierten Tag stand nach über 10 Jahren mal wieder Besuch im Reichstagsgebäude an. Normalerweise sind die dortigen Führungen wochenlang im Voraus ausgebucht und da ich meine Berlin-Tage für gewöhnlich immer spontan gestalte, ging ich bislang leer aus. Dieses Mal jedoch war ich organisierter und Berlin noch halbwegs frei von Touristen.
Tatsächlich ist diese Stadt in gewisser Weise wieder ein wenig zweigeteilt: In Mitte merkt man sehr, dass insbesondere die internationalen Touristen fehlen: Es gelang uns beispielsweise ohne Probleme am helllichten Tage ein Foto vom Brandenburger Tor (fast) ohne Leute zu machen. In den Kiezen – in K’berg, in P’berg, in Neukölln etc. sah es vor einem Jahr nicht anders aus. So gesehen eine ideale Kombination: Freie Bahn für touristische Aktivitäten kombiniert mit Berliner Lebenslust. Die Schlange vor dem „Besucherzentrum“ vor dem Reichstagsgebäude schlängelte sich nicht mehrfach über den Vorplatz, sondern bestand lediglich aus den geschätzt 20 Leuten, die auf die nächste Führung warteten. Wir wurden alsdann nochmals unterteilt und bildeten mit einer vierköpfigen Familie aus dem Ruhrgebiet eine Kleingruppe. Bei der Sicherheitskontrolle mussten wir die Maske erst auf- dann zwecks Identifizierung wieder ab- und dann zum Verlassen des Sicherheitsbereichs wieder aufsetzen – um sie endgültig wegpacken zu können: Keine Maskenpflicht in den Gebäuden des deutschen Bundestages. Ich war nachhaltig verwirrt. Ich bin es jetzt immer noch! Bislang hatte ich öffentliche Einrichtungen als besonders hysterisch erlebt. Im Stuttgarter Bürgerbüro muss man Wochen im Voraus einen Termin ausmachen, weil angeblich nur so sichergestellt werden kann, dass sich im Dienstleistungsbereich nicht mehr als soundso viel Menschen aufhalten. In der Stuttgarter Stadtbibliothek besteht selbstredend eine Maskenpflicht, die Toiletten sind geschlossen obwohl dort mehr als ausreichend Platz ist und „Kinder unter 12 Jahren sind an der Hand zu halten!“ Verordnung 2, § 5, Absatz 1b regelt vermutlich, was zu tun ist, wenn einen mehr als 2 Kinder begleiten.
Und hier waren wir nun, an dem Ort, der sich für Monate selbst aus dem Verkehr gezogen hatte und sang- und klanglos alles absegnet, was andere für zwingend geboten oder auch nur für evtl. nicht nachteilig hielten und konnten frei atmen. Abstand halten mussten wir allerdings dennoch, darauf bestand der freundliche Führer aus Nürtingen dann doch. Allerdings, das war ihm wichtig zu betonen, nicht, weil er das in unserem Fall für sonderlich sinnvoll hielt, sondern weil überall Kameras hingen. Als er uns jedoch später am Seitenausgang verabschiedete, kamen wir denn auch an den Überwachungsmonitoren vorbei. Daneben, eng beieinander stehend, mindestens sechs Sicherheitsmenschen, sich fröhlich unterhaltend und scherzend auf die Schulter klopfend. Ohne Mundschutz.
Das sind die Dinge, die mir dann wieder Hoffnung geben.
David – der U-Bahn-Rebell
In einigermaßen großem Kontrast zur Stockschirm-Damen-Erfahrung auf unserer Potsdam-Reise steht für mich die Situation in den Verkehrsmitteln der BVG, der Berliner Verkehrsbetriebe. Wobei ich das „für mich“ betonen muss, denn Andi hat da eine andere Wahrnehmung gehabt. Vielleicht ist das Ganze auch einfach ein Beispiel für selektive Wahrnehmung: man sieht, was man sehen will oder zu sehen erwartet. Ich jedenfalls hatte den Eindruck, von Mal zu Mal mehr Leute in Bus und U-Bahn wahrzunehmen, die keine Masken trugen. Ich nehme einen großen Zusammenhang zwischen einerseits Kiez und anderer Uhrzeit, sowie eine große Interaktion von beidem wahr, aber alleine war ich als Maskenloser nie. Am Anfang hatte ich sie noch vorsichtshalber in der Hand und einmal, als Sicherheitspersonal die Bahn betrat, war ich darum sehr froh und hatte sie, schwupps, aufgezogen. Aber als ich dann sah, wie die beiden Wachleute einem Maskenlosen in der Bahn hilfsbereit erklärten, wie er am schnellsten nach Wedding käme, kam ich mir reichlich albern vor. Fortan blieb meine Maske in meiner Tasche. Tatsächlich wuchs ich langsam aber stetig an dieser Herausforderung des nonkonformen Verhaltens. Sich sichtbar dem Mehrheitsverhalten zu wiedersetzen gehörte bislang nicht zu meinen Paradeübungen. Danke, Corona! für diese Weiterentwicklung meiner Persönlichkeit!
Übrigens bin ich in Berlin kein einziges Mal auf das Nicht-Tragen der Maske angesprochen worden. Natürlich habe ich mir durchaus die Frage gestellt, was ich in einer solchen Situation wohl tun würde. Genau weiß ich es immer noch nicht, aber eigentlich möchte ich mich nur freundlich für den sicherlich gut gemeinten Hinweis bedanken und meinen Gegenüber ansonsten höflich ignorieren.
Corona und die Kunst
Am letzten Tag unserer Berlinreise traf ich mich mit Constantin. Später stieß auch noch sein Freund Felix hinzu. Constantin ist Schauspieler und ein feiner Kerl. Als die Krise begann und er plötzlich ohne Engagements dastand, beantragte er anders als ich keine staatliche Unterstützung, weil er der Meinung war, dass andere diese nötiger hatten, sondern half ehrenamtlich bei der Wilmersdorfer Tafel. Natürlich ist Constantin kein Härtefall, er wohnt mit seinem Partner in einer sehr schönen Altbaueigentumswohnung und konnte in der Vergangenheit für schlechte Zeiten vorsorgen. Aber an diese Rücklagen muss er jetzt halt ran, da er aktuell höchstens vereinzelt mal einen kleinen Job als Synchronsprecher bekommt. Und nicht nur das, er kommt auch in moralische Konflikte: Für November hatte er sich für eine Theaterproduktion verpflichtet. Gleichzeitig hat er nun ein vielversprechendes Angebot für eine Fernsehserie, wobei die Aufnahmen genau in den Zeitraum der Theaterproduktion fallen. Der Fernseh-Auftrag ist sowohl sicher als auch lukrativ. Bezüglich der Theaterproduktion kann ihm keiner sagen, ob diese tatsächlich stattfindet. Der Veranstalter meint „ja, auf jeden Fall!“. Gleichzeitig sind schon die meisten Veranstaltungen bis ins nächste Frühjahr abgesagt worden. Constantin fühlt sich seinem Vertrag verpflichtet. Eigentlich kommt es für ihn nicht in Frage, sich aus ihm zurückzuziehen – ob er es tatsächlich kann, steht noch auf einem völlig anderen Blatt. Aber er sieht es kommen, dass er am Ende völlig ohne Engagement dasteht. Und ich fürchte, wenn er nicht selber die Reißleine zieht, wird er damit recht haben. Sein Freund ist als angestellter Musiker und Professor für Klarinette in einer ungleich komfortableren Position: Auf Kurzarbeit ist aber auch er. Und als Professor muss er für jede einzelne Unterrichtsstunde einen Antrag schreiben, wobei er nicht weiß, wer diesen nach welchen Vorgaben bearbeitet. Außerdem darf er erst nach 12:00 Uhr unterrichten. Vermutlich weil danach das Virus Mittagspause macht. Kein Mensch kennt den Hintergrund dieser Vorgabe und natürlich hält sich auch keiner dran – auf dem Antrag steht dann einfach eine andere Uhrzeit.
Ich komme nicht umhin mich zu fragen: Wird einer der Kollateralschäden von Corona sein, dass wir zukünftig generell Vorgaben großzügiger auslegen oder auch ganz ignorieren? Und wäre das eher gut oder eher schlecht?
Hysterische Personen – Teil 2
Nach insgesamt 6 Tagen Berlin ging es nun wieder heimwärts. Möglicherweise das letzte Mal vom Flughafen Tegel. Angeblich soll BER im Herbst ja nun tatsächlich öffnen und Tegel endgültig schließen.
Beim Rückflug hatten wir Glück gehabt. Zwar hatte Eurowings unseren eigentlich für Montagabend geplanten Flug zwei Wochen zuvor gestrichen; wir konnten uns jedoch auf den Dienstagabendflug umbuchen lassen und freuten uns so über einen weiteren Tag in der Hauptstadt.
Der TXL-Bus war so leer, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Normalerweise würde er durch jede noch so lax ausgestaltete „Tierwohl-Zertifizierung“ durchfallen, heute konnte man die Personen an einer bis maximal zwei Händen abzählen. Ich gebe zu, dass es Macht der Gewohnheit war und wir nicht weiter darüber nachgedacht hatten, als wir uns auf zwei freie Plätze mit Beinfreiheit direkt vor einer älteren Dame setzten. Ich habe ihr zickiges Genuschel hinter ihrer Maske gar nicht verstanden, aber laut Andi hat sie wohl so etwas gesagt wie: „So viel zum Thema Abstand halten!“ Damit war Andi seinem Element und revanchierte sich. Ich saß verstört und sprachlos daneben. Ich hatte den Anfang des Disputs verpasst und fühlte mich ohne Maske in einer reichlich unkomfortablen Situation. „Ach, was sind alle doch mittlerweile so aggressiv!“ beendete die Frau den Wortwechsel.
Aggressiv und sprachlos. Und traurig.
Abschied von Berlin
„Sehr verehrte Damen und Herren, aktuell befinden wir uns gerade über Erfurt. Beim Anflug auf Stuttgart werden wir an einem schweren Gewitter vorbeifliegen und in Turbulenzen geraten. Wir bitten Sie daher, angeschnallt zu bleiben und die Waschräume nicht mehr aufzusuchen.“ Das Gewitter kam nicht und die Turbulenzen noch weniger. Dafür hat sich sicherlich irgendwo in Reihe 10 jemand in die Hosen gemacht.
Bevor wir aber erst einmal in der Luft über Erfurt waren und später wohlbehalten in Stuttgart landeten und dort sogar am Flughafen ein Car2go ergattern konnten, mussten wir in Berlin erst mal durch den Flughafen:
Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, mittlerweile war es 16 Uhr und da ich bei diesem Berlin-Besuch entgegen der Tradition noch keine einzige Currywurst gegessen hatte, entschied ich, dies am Flughafen Tegel nachzuholen. Direkt vor dem Flughafengebäude steht ein alter, zu einem Schnellimbiss umfunktionierter alter S-Bahn-Wagen, der ganz passable Würste verkauft. Die Vorfreude war vergebens. Er hatte geschlossen. Geschlossen hatten auch sämtliche Geschäfte im Flughafen, inklusive der Apotheke. Ich bin mir nicht sicher, ob dies an irgendwelchen Vorgaben lag oder ob sich das Öffnen für die Geschäfte einfach wirtschaftlich nicht rentierte. Bei der geringen Anzahl von Flügen Reisenden kann ich mir letzteres sehr gut vorstellen.
Das Abflugterminal bot ebenfalls einen skurrilen Anblick: Überall bestand Maskenpflicht (die von den Reisenden mehr oder weniger strikt interpretiert wurde). In der Mitte der großen Halle jedoch eine Oase: Hier war ein Imbisstand und Tische drum rum und hier durfte man sich ohne Maske aufhalten, während keine 3 Meter weiter die Menschen dieselbe Luft durch Stoff- oder Papierfetzen einatmen mussten.
Mit einer Verspätung von 15 Minuten, die man bei der Deutschen Bahn als unverschämte Frechheit bezeichnen würde, wurden wir zum Boarden gebeten. Auf der Treppe zum Flugzeug unter freiem Himmel in reinster Berliner Luft stauten sich die Passagiere – wie gewöhnlich.
„ABSTAND HALTEN! ABSTAND HALTEN!“ brüllte der Mensch vom Sicherheitspersonal uns an. Was ist die Welt doch anders geworden! Vor ein paar Monaten wären wir höflich gebeten worden, rasch aufzuschließen. Niemand störte sich daran oder nahm Notiz davon.
Der Flieger war fast ausgebucht und wir saßen eine gute Stunde lang dicht an dicht und flogen über Erfurt an einem nicht stattfinden wollenden Unwetter Stuttgart entgegen.
Epilog
Am nächsten Vormittag saß ich mit Ralf zusammen, dem Geschäftsführer einer Firma mit der ich zusammenarbeite. Die Hälfte unserer Besprechung redeten wir über Corona und die Maßnahmen. Gleich beim Smalltalk hatten wir uns durch vorsichtige Bemerkungen zu verstehen gegeben, dass wir in dieser Sache Brüder im Geiste waren. Ich outete mich als Grüner, er als überzeugter CSU-Wähler. Wir hatten aber dieselbe Sicht auf die Corona-Situation und man konnte merken, dass es uns beiden gut tat, mit jemandem zu sprechen, der so dachte, wie der andere.
Gegen Ende unseres Austauschs stellte mir eine Frage, die mir aktuell gerade viele stellen – und ich weiß nicht, ob sie sie generell häufig stellen, oder aus irgendwelchen Gründen gerade mir: „Was denkst du, David. Wie wird sich die Situation weiter entwickeln?“ Ich denke nach, registriere die praktisch nicht vorhandenen Fallzahlen und die zunehmend beruhigenden Erkenntnisse bezüglich der Übertragungswege und der Mortalität bei adäquater Behandlung. Ich mache mir bewusst, was mittlerweile an Wirkweisen und Gefahren der vielen eigentlich zur Eindämmung einer katastrophalen Epidemie gedachten Maßnahmen bekannt ist und rufe mir das aktuellste Interview mit Professor Streeck in Erinnerung. Ich öffne den Mund um zu sagen, dass es aus meiner Sicht keinen Grund gibt, warum wir nicht schnell zu einer weitreichenden Normalität zurückkehren können. Ich schließe den Mund wieder, denke an die nach wie vor beklemmend einseitige Berichterstattung in Qualitätsmedien und höre im Geiste die Aussage meines Ministerpräsidenten – dessen Wiederwahl ich nicht mit meinem Kreuz unterstützen werde, das habe ich mittlerweile beschlossen, auch wenn ich es irgendwie grotesk finde, als Mitglied der Grünen nicht Grün zu wählen: „Das Tragen der Maske muss uns in Fleisch und Blut übergehen.“ Ich denke an meine Erkenntnis, dass ich Vernunft und Verantwortungsbewusstsein vieler meiner Mitmenschen völlig überschätzt habe. Ich öffne meinen Mund und sage: „Ich kann es dir nicht sagen!“
Nachtrag der Mutter: Kretschmann kann auch ohne!
Ganz ausnahmsweise greife ich auf die Bild-Zeitung zurück: https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/in-berln-tegel-hier-sitzt-kretschmann-ohne-mundschutz-am-flughafen-71396314.bild.html
(Wer es gern etwas ausführlicher hat: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/winfried-kretschmann-ohne-corona-maske-am-flughafen-100.html )
Wenn mein Sohn nur ein kleines bisschen gewartet hätte, dann hätte er in Tegel mit Herrn Kretschmann zusammen auf das Boarding gewartet und sein Groll gegen den grünen Ministerpräsidenten wäre womöglich verflogen. Der kann nämlich auch anders – wie man sieht.
Vom Staatsministerium hörte man dies und das, dass es nämlich nur ganz kurz gewesen sei (dem wurde widersprochen) und weil der Herr Ministerpräsident was gegessen habe und man ja nicht mit Maske essen könne… und was man halt so sagt. Wenn der Chef literweise Wasser gepredigt hat und selber Wein trinkt….