Aufmerksamkeit lenken
Ich habe hier ganz verschiedene Meldungen aus den letzten 14 Tagen zusammengestellt. Mit der Absicht, den Blick zu weiten: es gibt noch anderes, als das von Lauterbach für den Herbst avisierte “Killervirus“.
Die Konzentration auf eine einzige Sache unter Ausblendung von vielen anderen scheint eine menschliche Grundeigenschaft zu sein. Das ist keineswegs nur schlecht – Motto „first things first“: Wenn mir ein Falschfahrer auf meiner Spur entgegenkommt, dann sollte meiner Hauptsorge nicht der Erfassung seines Nummernschildes gelten.
Soweit so gut. Aber öfters – so glaube ich – konzentrieren wir uns auf Nummernschilder und missachten Gefahren. Nicht nur bei Corona, sondern generell. Wir erleben das gerade auch beim Ukrainekrieg: als hätte es in den letzten Jahren nicht andauernd Kriege und Terror gegeben und als wäre der jetzige Krieg der Ukraine der einzige. Immer treten wichtige, ja wichtigere Dinge in den Hintergrund, weil unsere Aufmerksamkeit einseitig gefangen genommen ist. Noch relativ am Anfang der Coronakrise schrieb ich zu dem Satz „energy flows where attention goes“.
Es ist also nicht das erste Mal, dass ich vermute: unsere Neigung, wichtige Dinge auszublenden, wird auch ganz gezielt ausgenutzt. Ich wünsche mir, dass wir immer ein bisschen kritisch reflektieren: Wohin geht unsere Aufmerksamkeit, worauf wird sie gelenkt?
Zum Beispiel: Heute Morgen kam in den Nachrichten die Meldung, dass in Ostafrika die größte Dürre seit 40 Jahren herrsche, eine entsetzliche Hungerkatastrophe. Ich hatte keine Ahnung davon.
Who cares? Wenn ich keine Ahnung habe, kann ich mich auch nicht drum kümmern. (Nun gut… für mich war die Suche nach dem Link Anlass für eine Spende. Vielleicht wirkt das ansteckend?)
Todeszahlen – weltweit. Mit und ohne Corona
Jährlich sterben ungefähr 56 Millionen Menschen.
Nun gibt die WHO an, dass 2020 und 2021 ca. 15 Millionen Menschen mehr gestorben seien, als statistisch zu erwarten gewesen wäre. Das würde bedeuten: in jedem dieser beiden Jahre starben 7,5 Millionen Menschen mehr. Aber Vorsicht: das heißt keineswegs, dass 7,5 Millionen Menschen 2020 und 2022 an Corona gestorben wären. Ein bisschen legt sich diese Assoziation ja nahe, wenn man die Meldung liest – oder sie wird nahegelegt.
Aber exakte Zahlen zu Covid-Todesfällen lassen sich schon allein aufgrund der unterschiedlichen Erfassung in verschiedenen Ländern sowieso nicht angeben. Da muss man gar nicht an gezielte „fehlerhafte“ Zählung beispielsweise in China und Korea denken… Hinzu kommt, dass die WHO teilweise (das gilt etwa für Deutschland) von einer zu niedrigen zu erwartenden Sterberate ausgegangen ist, weshalb die „Übersterblichkeit“ zu hoch angegeben wurde. („Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation: WHO berechnete Corona-Übersterblichkeit für Deutschland falsch“ Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 2022)
Die Zahl der weltweiten Todesfälle aufgrund von Corona gibt die Tagesschau am 04.06.22 mit insgesamt 6.292.749 an. Das ist mir jetzt ein bisschen zu exakt. Aber es stimmt zum Beispiel mit den Angaben der österreichischen Gesellschaft für Pneumologie vom 21.03.22 überein „Die COVID-19-Pandemie hat seit Beginn weltweit rund 6 Millionen Menschenleben gefordert.“
Ich nehme diese Zahl jetzt mal so wie sie da steht und hinterfrage nicht, bei wie vielen Todesfällen Corona nicht Ursache, sondern nur der letzte Auslöser war . Das heißt also: Die Pandemie dauert jetzt zweieinhalb Jahre. Damit wären pro Jahr 2,4 Millionen Menschen auf der Welt an Corona gestorben. Das ist viel – zu viel.
Aber es ist in Relation zu setzen mit anderem!
Corona und Tuberkulose
Auf den gerade zitierten Satz „Die COVID-19-Pandemie hat seit Beginn weltweit rund 6 Millionen Menschenleben gefordert.“ der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie folgt ein weiterer:
„In derselben Zeit sind rund 3 Millionen Menschen an Tuberkulose gestorben.“
Das eine hat dabei durchaus mit dem anderen zu tun:
„Eigentlich hatte es laut Weltgesundheitsorganisation WHO gute Fortschritte im globalen Kampf gegen Tuberkulose (TB) gegeben, doch durch die Corona-Pandemie wurden diese zunichte gemacht und um Jahre zurückgeworfen. Seit Ausbruch der Pandemie werden zwar weltweit bedeutend weniger Tuberkulosefälle diagnostiziert – aber nicht, weil es nun tatsächlich weniger an Tuberkulose Erkrankte gäbe. Die Menschen suchen nur seltener einen Arzt* auf – aufgrund von Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen oder der Sorge, sich in Gesundheitseinrichtungen mit COVID-19 anzustecken. Das wird nicht ohne Folgen bleiben, so die Experten der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie, ÖGP, anlässlich des Welttuberkulosetages am 24. März. Denn wenn an Tuberkulose Erkrankte nichts von ihrer Krankheit wissen, bleiben sie unbehandelt. Dies hat Konsequenzen für ihre Lebenserwartung, denn die Heilungschancen stehen nur bei rechtzeitiger und kontinuierlicher Therapie sehr gut. Darüber hinaus werden Familienmitglieder und andere enge Kontakte ebenfalls angesteckt. Die Infektionsketten werden immer länger und die Gefahr, dass sich multiresistente Formen der Tuberkulose ausbreiten, gegen die immer weniger Medikamente wirksam sind, wird größer. Eine bedrohliche Entwicklung, da Tuberkulose als „Killer“ unter den Infektionskrankheiten gilt. So liegt der weltweite Therapieerfolg bei einer multiresistenten Tuberkulose bei nur rund 50%.“
Das klingt jetzt etwas eurozentristisch: ich glaube nicht, dass in Entwicklungsländern Lockdown oder die Angst, sich beim Arzt anzustecken eine zentrale Rolle spielt. Deshalb noch eine Ergänzung aus dem Ärzteblatt vom 27.10.21:
„Nach Schätzungen der WHO leiden derzeit etwa 4,1 Millionen Menschen an einer nicht erkannten und gemeldeten Tuberkulose. Dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr dar, als nur 2,9 Millionen Erkrankungen unerkannt blieben.
Den größten Anteil am weltweiten Rückgang der Meldungen hatten Indien (41 Prozent), Indonesien (14 Prozent), die Philippinen (12 Prozent) und China (8 Prozent). Auf diese und 12 weitere Länder entfielen 93 Prozent des weltweiten Rückgangs der Meldungen.
Auch die Zahl der Präventionsbehandlungen ist gesunken. Die WHO rät allen HIV-Infizierten sowie Familienangehörigen von Patienten mit einer offenen Lungentuberkulose sowie einigen klinischen Risikogruppen zu einer vorsorglichen Behandlung. Im Jahr 2020 konnten nur 2,8 Millionen Menschen darauf zugreifen, 21 % weniger als im Jahr zuvor.“
Who cares?
Corona und Malaria
Am 6.12.21 – zugegeben, das ist schon ein halbes Jahr her, aber ebenfalls zugegeben: seither dürfte sich nichts geändert haben – titelte der Spiegel: Corona-Pandemie führt zu Tausenden zusätzlichen Malaria-Toten.
„Im vergangenen Jahr sind erstmals seit 2000 wieder deutlich mehr Menschen an Malaria gestorben. Im Vergleich zum Vorjahr verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 69.000 zusätzliche Todesfälle. Rund zwei Drittel davon seien auf Unterbrechungen von Malaria-Programmen wegen der Coronapandemie zurückzuführen, berichtet die WHO in ihrem jährlichen Malaria-Report. Der Welt sei es allerdings auch vor der Pandemie schon nicht mehr gelungen, die Malaria-Zahlen wie geplant zu senken.
Laut den Schätzungen der WHO erkrankten 2020 weltweit 241 Millionen Menschen an Malaria, 14 Millionen mehr als im Vorjahr. Die geschätzte Zahl der Todesfälle stieg demnach auf 627.000 an. Rund 96 Prozent der Todesfälle ereigneten sich in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. In diesem Gebiet ist Malaria die häufigste Todesursache von Kindern – rund 80 Prozent der Gestorbenen waren unter fünf Jahre alt. Weltweit macht Malaria laut einer neuen Berechnungsmethode der WHO 7,8 Prozent der Todesfälle bei Kindern in dieser Altersgruppe aus. Bislang waren die Fachleute von 4,8 Prozent ausgegangen.“
Ich wiederhole: „rund 80 Prozent der Gestorbenen waren unter 5 Jahre alt.“
Who Cares?
Corona und Tabak
In der Süddeutschen vom 31. Mai 2022 lese ich:
Wegen Corona wieder mehr Raucher in Deutschland
„[…]Während der Corona-Pandemie haben einer Erhebung zufolge mehr Menschen in Deutschland zu Zigaretten gegriffen als zuvor. Mittlerweile rauchen fast 33 Prozent der Menschen über 14 Jahre, wie aus der repräsentativen Langzeitstudie „Deutsche Befragung zum Rauchverhalten“ (Debra) hervorgeht. Unmittelbar vor der Pandemie lag der Anteil der Raucherinnen und Raucher in Deutschland noch bei etwa 26 bis 27 Prozent.
Der Anstieg war vor allem im Jahr 2021 zu beobachten. Es sei wahrscheinlich eine Corona-Spätfolge, dass die Leute vermehrt zu Tabakprodukten griffen, sagte der Epidemiologe und Debra-Leiter Daniel Kotz von der Uniklinik Düsseldorf. Er nannte die Entwicklung erschreckend und mahnte: „Da gibt es seitens der Politik viel zu tun, wenn Deutschland 2040 tabakfrei werden möchte.[…]“
Ein Anstieg um 6 % … Das wird Langzeitfolgen haben. Und keineswegs nur höhere Einnahmen bei der Tabaksteuer (2021 waren es 14,7 Milliarden €)
Who cares?
Tabak weltweit: jährlich 8 Millionen Tote
Aber schauen wir über unseren deutschen Aschenbecherrand hinaus: Jährlich 8 Millionen Tote gehen auf Kosten des Tabakkonsums. Jährlich: 2019, 2020, 2021,2022 …
Tabak tötet mehr als acht Millionen Menschen jährlich
„Tabakkonsum soll für 8,7 Millionen Todesfälle allein im Jahr 2019 verantwortlich sein. 1,3 Millionen davon gingen auf Passivrauchen zurück. Die weltweite Raucherquote ist zwar gesunken, doch noch immer greift fast jeder fünfte Mensch regelmäßig zu Zigaretten, heißt es in einem Bericht. Die Industrie entwickelt neue Marketingstrategien.[…] der Fortschritt, der durch strengere Schutzmaßnahmen in reicheren Staaten erreicht worden sei, [werde] durch die aktuelle Taktik der Tabakindustrie bedroht. Die Branche konzentriere sich zunehmend auf ärmere Länder mit schwächeren Regulierungen und dort vor allem auf junge Menschen. In 63 von 135 untersuchten Ländern sei der Anteil der jugendlichen Tabakkonsumenten zuletzt gestiegen. Mehr als 50 Millionen 13-bis 15-Jährige nutzen mittlerweile Zigaretten oder andere Tabakprodukte.[…] Die Vermarktung erfolge zudem subtiler, etwa über Produktplatzierungen in Filmen oder Influencer in den schwerer zu regulierenden sozialen Netzwerken.“
„Tabak. Vergiftung unseres Planeten“ (Titel des WHO Berichts)
Aber das ist nicht alles: die Umweltschäden, die die Tabakindustrie verursacht – sei es bei der Herstellung, sei es durch die 4,5 Billionen Zigarettenstummel, die Boden und Meere vergiften, sind laut WHO-Bericht “enorm“. Ich gebe zu, dass ich mir darüber noch gar nicht so viel Gedanken gemacht habe. Wahrscheinlich war meine Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt (worden). Es ist mir ein Bedürfnis, Ihre Aufmerksamkeit auf den Artikel WHO-Bericht Tabak verursacht enorme Umweltschäden der Tagesschau vom 31.05.2022 zu lenken:
„[…] Demnach sei die Tabakindustrie einer der ‚größten Umweltverschmutzer der Welt‘, so die die UN-Organisation.“ Jährlich werden laut WHO für die Tabakindustrie 600 Millionen Bäume gefällt, 200.000 Hektar Land sowie 22 Milliarden Tonnen Wasser verbraucht und rund 84 Millionen Tonnen klimaschädliches Kohlendioxid (CO2) freigesetzt. „Die CO2-Menge entspreche dem Ausstoß von etwa 17 Millionen benzinbetriebenen Autos jährlich, heißt es in dem Bericht mit dem Titel „Tabak: Vergiftung unseres Planeten“. Tabak werde vor allen Dingen in ärmeren Ländern angebaut, wo der Boden nicht nur dringend gebraucht würde, um Lebensmittel anzubauen. Nicht nur das: “Bis zu einem Viertel aller Tabakbauern erkrankten zudem an der so genannten Grüner-Tabak-Krankheit, einer Vergiftung durch das über die Haut aufgenommene Nikotin, erklärte der WHO-Direktor für Gesundheitsförderung, Rüdiger Krech. Landwirte, die den ganzen Tag mit Tabakblättern hantieren, würden täglich das Äquivalent von 50 Zigaretten Nikotin aufnehmen. Besonders besorgniserregend sei dies für die vielen Kinder, die im Tabakanbau tätig sind.[…] Tabakprodukte enthielten mehr als 7000 giftige Chemikalien, die beim Wegwerfen in die Umwelt gelangten, sagte Rüdiger Krech […] Jeder der geschätzten 4,5 Billionen Zigarettenstummel, die jedes Jahr in Ozeanen, Flüssen, Gehwegen und Stränden landen, könne hundert Liter Wasser verschmutzen, so Krech.“
Who cares?
Who cares?
Who cares?
11. Juni 2022
Vielen Dank!!!