Scheitern der Impfpflicht wäre „unermesslicher Triumph“ der Impfverweigerer – ist das etwa ein Argument?
„Die Impfpflicht gerät ins Wanken“. So die Headline der Süddeutschen Zeitung am 7.1.2022. Was natürlich zu einer aufgeregten Reaktion in derselben Zeitung am nächsten Tag führte: In dem Kommentar „Corona – man müsste mal…“, der keineswegs nur doof ist, fand ich den Satz: „Zweitens würde ein Scheitern der Impfpflicht den Impfverweigerern einen unermesslichen Triumph bescheren.“ Also, wenn sowas eine Rolle spielt, wenn es um die Entscheidung geht, was die beste Lösung ist – dann wären wir wirklich tief gesunken. Denn das hieße nichts anderes, als sich nicht von besseren Argumenten leiten zu lassen, sondern sich genau von der Gruppe abhängig zu machen, gegen die man wettert. Nach dem Motto: ‚Fritz ist doof und findet Wollsocken gut. Deshalb werde ich niemals Wollsocken tragen, lieber friere ich.‘
Ich hoffe auf die Souveränität: Meine Entscheidung treffe ich aus vernünftigen Gründen, und wenn halt andere jubeln „haben wir es nicht schon immer gesagt!“, dann halte ich das aus.
Sündenböcke sind praktisch
Vor ein paar Tagen las ich noch im Spiegel-Forum zu dem Artikel, in dem über die wieder und wieder verschobenen Krebsoperationen und deren (teils tödliche) Folgen berichtet wurde ziemlich unisono Stimmen nach Sündenbock-Manier: Daran sind die Impfverweigerer schuld, denen sollte man doch einfach….
Sündenböcke sind einfach eine praktische Einrichtung. Sie vereinfachen so viel! Und allzu viele sind anscheinend nicht über das simple Reiz-Reaktions-Niveau des Pawlowschen Hundes gelangt.
Was sind Gründe für den (partiellen) Meinungsumschwung?
Ich lasse hier die Grundsatzdiskussion zwischen „Verantwortung und Freiheit“, „Recht auf körperliche Unversehrtheit versus Pflicht zum Schutz anderer“ weg. Sondern beschränke mich auf die Doppel-Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Impfpflicht den gewünschten Erfolg bringt? Und wie wahrscheinlich ist es, dass sie dabei milderen Mitteln deutlich überlegen ist? Als gewünschten Erfolg definiere ich: A. Die Corona-Pandemie stellt für das Gesundheitssystem kein wirkliches Problem mehr dar. B. die Erkrankungen halten sich in Zahl und Schwere ungefähr auf dem Grippe-Niveau.
1. Inzidenz und Prozentzahl der Geimpften in Bremen
Am 07.01.2022 meldete die Tagesschau: „Omikron in Bremen: Höchste Inzidenz trotz Impfrekord“
Ich habe mir die Zahlen heute nochmal angeschaut: Bremen hat eine 7-Tage-Inzidenz von 1100,4 bei einer Erstimpfungsrate von 87.7% (deutschlandweit: 74,5%).
Nun, es kommen die üblichen Erklärungen: In Städten verbreite sich Omikron halt mehr als auf dem Land. Ich schaue nach: Berlin hat heute eine Inzidenz von 685,7; München von 450,8. Nicht sehr überzeugend! Auch dass viele böse Holländer zum Weihnachtsmarkt nach Bremen gekommen sind… ich weiß nicht, ich weiß nicht, wie sehr mich das beeindrucken kann.
Natürlich darf auch das Argument nicht fehlen: Ohne Impfung wären viele viel schwerer erkrankt. Das kann sein, aber da möchte ich doch deutlich mehr Zahlen haben. Sehr überzeugend scheint mir das nicht: Die Hospitalisierungsrate (Krankenhausaufnahme wegen Corona pro 100 000Einwohner) beträgt in Bremen aktuell 15,18. In Berlin 3,96 .
München meldet (ich glaube es kaum!): 0 intensivmedizinisch behandelte Corona-PatientInnen und folgerichtig 0 beatmete PatientInnen sowie 0% Anteil Covid-19 Patienten an Intensivbetten.
Diese Zahlen müssen erstmal halbwegs verstanden werden und halbwegs überzeugend erklärt werden. Mal abgesehen davon: wenn in München trotz einer Inzidenz von 450,8 kein Mensch wegen Corona auf einer Intensivstation liegt, dann stellt auch das die Frage nach der „Notwendigkeit“ einer Impfpflicht.
2. Kontroverse Debatte: Ärzteverbände uneins über Impfpflicht
Dies meldete die Tagesschau am 7.1.22. Uneins heißt: Es gibt Verbände (z.B. der Verband der Kinder- und Jugendärzte), die sind entschieden für eine Impfpflicht. Gegen eine Impfpflicht macht sich z.B. der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Gassen, stark: Impfen sei zwar „das wirksamste Instrument im Kampf gegen das Virus“, sagte er der „Rheinischen Post“. Von einer Impfpflicht halte er aber „nicht viel“. Es gebe allein zu viele organisatorische Hindernisse, um dieses Vorhaben in kurzer Zeit starten zu können – etwa für ein mögliches Impfregister. „Wer soll das unter Wahrung des Datenschutzes erstellen, wo soll es gepflegt werden?“, fragte Gassen. „Bis wir dies alles erarbeitet haben, ist die Corona-Gefahr vermutlich wirklich vorbei.“
Gut, der Datenschutz ist in diesen Zeiten für viele kein Argument, das zieht. (Und man glaubt doch tatsächlich, dass man in der Nach-Corona-Zeit oder auch in anderen Bereichen selbstverständlich zum Zustand a.C. zurückkehren werde. Ach Leute!)
Aber lassen wir das mal so stehen. Wichtiger ist das Argument:
„Ein weiteres Problem sei die nachlassende Wirksamkeit des Impfstoffes: ‚Man kann den Leuten nicht ernsthaft eine Impfpflicht auferlegen und dann feststellen, dass die Wirkung des Impfstoffes immer nur ein paar Monate hält‘, sagte Gassen. Durch die Impfpflicht werde ‚letztlich keine relevante Erhöhung der Impfquote im Vergleich zu einer intensiven Impfkampagne, flankiert von Maßnahmen wie 2G‘ erreicht.“
Also: Gassen meint: Eine „intensive Impfkampagne“ (ich füge hinzu: mit etwas mehr Intelligenz und Einfallsreichtum als bisher) bringe nicht viel weniger als eine Impfpflicht. Das ist m. E. ein starkes Argument. Denn ein zentraler juristischer Grundsatz heißt (gilt aber eigentlich auch in der Medizin, Pädagogik etc. ???) „Im Zweifel muss das mildere Mittel gewählt werden“.
Aber in meinen Augen durchschlagend ist das Argument: Wie soll etwa eine Impfpflicht im Halbjahrestakt oder so realisiert werden? Lebenslänglich? Und wer verfügt sie?
Ich zitiere hier Heribert Prantls Kommentar „Richtig falsch“ in der Süddeutschen Zeitung vom 08.01.2022 , in dem er eine interessante (aber mich nicht überzeugende) Alternative ins Spiel bringt: „Eine Impfpflicht muss daher mit der begründeten, verbindlichen Aussicht auf das Ende dieser Freiheitsbeschränkungen verbunden sein. Ein Junktim also. Ohne Junktim keine Impfpflicht.“ Während ich seiner Schlussfolgerung also nicht so recht zustimme, sieht es bei folgenden Sätzen anders aus: „Gewiss: Impfen schützt – aber bei Corona, anders als bei Pocken oder den Masern, schützt Impfung nur relativ und begrenzt. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit von Infektion, Erkrankung, schwerem Verlauf und Übertragung sinkt, für eine gewisse Zeit jedenfalls. Mehr nicht. Aber immerhin. Lässt sich mit diesem „Immerhin“ eine Impfpflicht begründen. Und was heißt ‚begründen‘ in einer Situation, in der der Grund eher einem Sumpf gleicht, wenn Prognosen von gestern heut nicht eintreffen und man ahnt, dass Erkenntnisse von heute morgen überholt sein werden.“
3. „Omikron-Variante weitgehend resistent gegen aktuelle Antikörper“
Aber wie ist das, wenn sich dieses „Immerhin“, von dem Heribert Prantl schreibt, noch weiter relativiert? Wie ist das, wenn die Omikron-Variante (und danach die Pi-Variante, die Tau-Variante bis zur Omega-Variante – die Sache ist ja mit Omikron nicht ausgestanden!) die Wirkung der Impfstoffe unterläuft? Okay: für den Moment ist auch ein relativer Impfschutz eine gute Sache. Aber eben eine relative! Wobei in der unter Federführung des Deutschen Primatenzentrums GmbH –Leibniz Instituts durchgeführten Untersuchung (soweit ich sehe) nicht untersucht wurde (und auch noch gar nicht untersucht werden konnte) wie sich der grundsätzlich recht schnell nachlassende Impfschutz auswirkt.
Ich zitiere:
„[…] Das Team konnte zeigen, dass Antikörper von Genesenen die Omikron-Variante kaum hemmen. Eine Hemmung durch T-Zellen, die sich nach der Infektion bilden, ist noch zu untersuchen.
Auch die nach zweifacher BioNTech-Pfizer Impfung gebildeten Antikörper wiesen gegen die Omikron-Variante eine deutlich geringere Wirksamkeit als gegen die Delta-Variante auf. Eine bessere Hemmung wurde nach dreifacher BioNTech-Pfizer-Impfung ebenso wie nach Kreuzimpfung mit Oxford-AstraZeneca und BioNTech-Pfizer beobachtet. Außerdem konnte das Team zeigen, dass die meisten der in der Studie untersuchten therapeutischen Antikörper, die für die Behandlung von COVID-19 eingesetzt werden, nicht gegen die Omikron-Variante wirksam sind. Die Ergebnisse deuten jedoch auch darauf hin, dass eine dritte Immunisierung mit dem BioNTech-Pfizer Impfstoff (Booster) sowie eine Kreuzimmunisierung mit Oxford-AstraZeneca und BioNTech-Pfizer gut gegen die Omikron-Variante schützen könnten (Cell).“
„Gut gegen die Omikron-Variante schützen könnten“ – das ist ja nicht nichts. Aber erstens steht das im Konjunktiv und zweitens wird eine Kreuzimmunisierung mit dem Impfstoff AstraZeneca empfohlen, der doch eigentlich megaout war. Heißt das, bei einer Impfpflicht wird auch noch die genaue Mischung vorgeschrieben – und wieder: Wer schreibt vor?
Fußnote: Immerhin scheinen die Forscherinnen in einer anderen Studie von der in Medwiss.online am 23.12. berichtet wurde: SinoVac-Impfstoff: Ineffektiv gegen Omikron.
Bei dieser Gemengelage aufs Tempo zu drücken, mit „Gefahr-im-Verzug“- Blaulicht-Tatütata – da kann ich nur jene Ärztin zitieren, die zu Söders Einführung von Testungen der Reiserückkehrer an Autobahnen nach irgendwelchen Ferien (auch so was, was kläglich gescheitert ist und woran sich niemand mehr erinnert) lapidar meinte: