Noch bringt die Süddeutsche mit der Rubrik „Die Corona-Pandemie im Überblick“, eine Zusammenstellung von aktuellen Kennzahlen in Deutschland, aber auch von einer ganzen Reihe anderer Staaten. Lange Zeit gehörte Schweden dazu – und dann plötzlich nicht mehr. Das fiel mir auf. Denn Schweden galt ja lange als Beispiel einer lässigen Coronapolitik, wie sie schlimmer nicht sein kann.
„Schweden gescheitert“ – das war sicher wie das Amen in der Kirche…
Zur Erinnerung: Im April 2020 schrieb ich
„[…] dass Focus online am 5.4. titelte: „Präsident warnt vor Tausenden Toten. Regeln werden verschärft: Schwedens Corona-Strategie fällt in sich zusammen“. Die von mir so geschätzte Süddeutsche Zeitung hatte am 6. April unter der Überschrift „Schweden steht am Ende des Sonderwegs“ genauso von einer Kursänderung gewusst wie die Tagesschau.de am selben Tag „Mehr Corona-Infektionen: Schwedens Regierung plant Kursänderung“.“
…Oder doch nicht?
„Der Kurs“ wurde nicht geändert, bestenfalls marginal und mit einiger Verwunderung stellte das ZDF am 25. November 2021 fest:
„Die Impfquote ähnelt der in Deutschland. Einen Lockdown gab es nicht, Masken waren nur zeitweise Pflicht. Trotzdem bleibt eine neuerliche Corona-Welle in Schweden bislang aus.“
Genauer:
„In der ersten Welle: Appelle statt Verbote
Während in der ersten Welle der Lockdown überall Standard war, blieb in Schweden alles, wie es ist: Geschäfte und Schulen geöffnet, keine Maskenpflicht – dafür der Appell der Gesundheitsbehörde und ihres Chefs Anders Tegnell, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Abstand, Home-Office, wo immer es geht. Ein Modell, das die Schweden gerne annahmen.
Doch die erste Corona-Welle im Frühjahr 2020 hat dennoch tiefe Spuren hinterlassen […] Allein bis Juli 2020 des Jahres starben 5.500 Menschen, im Vergleich mehr als in allen anderen europäischen Ländern.
[…] In Schweden mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern brauchen derzeit „nur“ rund 30 Covid-19-Patienten intensivmedizinische Betreuung. Seit Sommer bleiben die Zahlen niedrig. Mit rund 60 Neuinfektionen hat das Land derzeit die niedrigste Inzidenz der EU.
Warum das so ist, ist noch nicht genau geklärt. An der Impfquote liegt es wohl nicht. Sie ist mit knapp 69 Prozent kaum höher als in Deutschland. Allerdings ist in Schweden die Zahl der Menschen, die bereits mit Corona infiziert waren, mit knapp zwölf Prozent beinahe doppelt so hoch wie in Deutschland.
2G oder gar 3G ist in Schweden nicht geplant
Ende September sind zwischenzeitlich eingeführte Corona-Maßnahmen und Empfehlungen wieder aufgehoben worden. In Clubs, Kinos, Bars und Restaurants darf jeder rein. Personendaten werden nicht erfasst, es gibt keine Abstände zwischen den Tischen – bisher ist das Vorzeigen eines Impfzertifikats nicht nötig. Angesichts dessen ist keine 3G- oder gar 2G-Regel geplant.“
Das passte gut ins Konzept: Hohe Todeszahlen in Schweden – Klar! Bei der laxen Politik!
Ja, es ist wahr, die Fälle der an oder mit Corona gestorbenen Menschen war in Schweden in der ersten Welle sehr hoch, deutlich höher als in den anderen skandinavischen Ländern. Nur ist es zu einfach, das auf den „laxen“ Corona-Kurs der Regierung zurückzuführen. Sondern (und das ist bei uns nicht anders) auf die Ausrichtung des Gesundheitssystems und der Pflege an dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit oder sagen wir es korrekt: sie sollen gewinnorientiert arbeiten. Irgendwo las ich neulich, wie wir es wohl fänden, wenn solche Maßstäbe bei Polizei und Feuerwehr angesetzt würden.
Schweden ist in der Altenpflege genau diesen Irrweg gegangen. Wenn dann ein Virus dazukommt…
Genauer hinschauen: Gewinnorientierte Altenpflege. So sieht’s aus!
Die Todesfälle – mit oder an Corona gestorben – traten ganz überwiegend in Altenheimen auf. Dazu gab es – wie heise online am 18.12.2020 berichtete einen Untersuchungsauschuss:
Covid-19-Todesfälle: Untersuchungsausschuss setzt Schwedens Regierung unter Druck
„[…] In Schweden wurde auf Privatisierung der Altersheime gesetzt und innerhalb von zwanzig Jahren dreißig Prozent der kommunalen Altersheime abgeschafft, die Menschen, die eingeliefert werden, sind darum weitaus gebrechlicher und kränker.
Zudem war das Gesundheitsamt nicht in der Lage, die Pflegekräfte zu testen und mit Schutzausrüstung zu versorgen. Auch waren die Pfleger zu einem großen Teil schlecht bezahlte Migranten, die in beengten Verhältnissen wohnen, wo sich das Virus rasch ausbreiten kann. Oft ließen diese sich nicht krankschreiben, da sie auf den Lohn angewiesen waren.“
Schon mehr als ein halbes Jahr zuvor . nämlich am 19.5.20 berichtete der RBB (Radio Berlin-Brandenburg)
Pflegepersonal kann nicht zu Hause bleiben
Der Grund für die hohe Zahl an Todesfällen in Pflegeheimen sind nicht die Angehörigen, die seit dem 1. April ohnehin nicht mehr zu Besuch kommen dürfen, sondern das Personal. Ein wichtiger Pfeiler der schwedischen Corona-Strategie ist es, zu Hause zu bleiben, wenn man sich krank fühlt. Selbst kleinste Anzeichen einer Erkältung reichen.
Doch Lisa Pelling zufolge haben die Behörden nicht verstanden, dass die Menschen, die in der Pflege arbeiten, diesem Rat nicht folgen können, weil viele nur stundenweise beschäftigt sind und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bekommen. „Wenn sie nicht zur Arbeit erscheinen, bekommen sie kein Geld.“
In Göteborg sei kürzlich das Personal eines Altersheims untersucht worden. Von 57 Pflegerinnen und Pflegern, die an diesem Tag arbeiten gehen wollten, hatten demnach 40 Prozent Krankheitssymptome wie Husten, Halsweh oder sogar Fieber, mit denen sie, wenn sie den Anweisungen der Gesundheitsbehörde gefolgt wären, eigentlich zu Hause hätten bleiben müssen.
Vier der Pflegenden seien sogar positiv auf Covid-19 getestet worden, so Lisa Pelling. In anderen Untersuchungen hätten viele angegeben, dass sie zur Arbeit gehen, weil die äteren Leute sie brauchten, selbst wenn sie als Pflegende einen Schnupfen haben. Durch den Personalmangel, der ohnehin schon so groß ist, gehen sie zusätzlich aus purer Solidarität zur Arbeit. „Sie wollten ihren Kollegen das nicht antun, dass diese doppelt so viel arbeiten müssen.“
„Altenpflege hat schwächste Lobby“
[…] Eine Untersuchung über die Budgets der Gemeinden für die Alterspflege des Thinktanks „Arena Idé“ (erschienen in März 2020) habe dies bestätigt. Danach hatten 96 Prozent der schwedischen Gemeinden vor, das Budget in der Alterspflege im Jahr 2020 zu kürzen. Zudem werde seit 20 Jahren in diesem Bereich kontinuierlich gespart. Als Begründungen werden Effizienz und neue Arbeitsmethoden genannt, wie Lisa Pelling erklärt. „Es gibt eine Menge Umschreibungen für Kürzungen. Man sagt es nur nicht deutlich.“
Ich wünschte, Corona würde zu der Erkenntnis beitragen, dass Wirtschaftsliberalismus tötet. Im Gesundheitswesen allemal. Aber nicht nur dort.
Bitte vergleichen: Corona-Inzidenz und Corona-Letalität in Schweden und anderswo
Zurück zum Anfang. Wieso ließ die Süddeutsche die schwedischen Zahlen plötzlich unter den Tisch fallen? Ich schaute selbst nach. Und – Surprise! Surprise! – die Inzidenz in Schweden betrug am 19.2.22 251,2. In Deutschland 1350,4. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Ich verschweige nicht: Am 31.1.22 betrug die Inzidenz in Schweden 2819,4, sie war damit mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland mit 1323,1. Aber z..B. Frankreich konnte an diesem Tag locker mithalten mit 3586,8 (heute, am 19.2.22: 960,7).
Nun ist die Inzidenz nur eine Kennzahl und zwar eine durchaus umstrittene .
Deshalb als Stoff zum Nachdenken und als Argument gegen allzu einfache Ursachenzuschreibung („unsere Maßnahmen waren erfolgreich“ – „euer Unterlassen ist schuld…“ die Letalitätsrate für Corona in verschiedenen Ländern (Stand 19.2.22). (vgl. auch ).
Ein bisschen mehr Sorgfalt und (Selbst-)kritik wäre schon schön.
Letalitätsraten („an oder mit Covid gestorben“) ausgewählter Länder:
Belgien: 0,9%
Dänemark: 0,2%
Deutschland: 0,9%
Finnland: 0,4%
Frankreich: 0,6%
Italien: 1,2%
Niederlande: 0,4%
Norwegen: 0,1%
Österreich: 0,6%
Polen: 2,0%
Portugal: 0,9%
Schweden: 0,7%
Schweiz: 0,5%
Spanien: 0,9%
Tschechien: 1,1%
USA: 1,2%