Zuerst ein Interview, dann ein Spiegel Leitartikel, dann ein Appell von Ärzten und Ärztinnen:
Das Interview:
Als nächstes der Spiegel-Leitartikel vom 17.4. (leider kostenpflichtig)
Wir brauchen keine Lockerung, wir brauchen viel härtere Maßnahmen
DER SPIEGEL-Leitartikel von Rafaela von Bredow Die Ungeduld der Menschen wächst, die Politik debattiert über Lockerungen. Wissenschaftlich betrachtet ist das fatal, der Shutdown müsste sogar noch verschärft werden – bis wir viel mehr über das Virus wissen. 17.04.2020, 18:00 Uh rhttps://www.spiegel.de/politik/corona-und-wege-aus-dem-lockdown-wir-brauchen-noch-viel-haertere-massnahmen-a-00000000-0002-0001-0000-000170518540#
„Solange wir ein Inferno wie in Italien oder Spanien verhindern wollen, müssen wir eine Isolierung, wie wir sie bisher hatten, aufrechterhalten. Dass wir bis 2022 damit leben müssen, ist keine Panikmache, sondern ein realistisches Szenario. Forscher um den Harvard-Professor Stephen Kissler haben das jetzt für die USA berechnet. Die zugrunde liegenden Zahlen unterscheiden sich von den deutschen, aber die Dynamik dürfte sich ähneln.
Kisslers Kurven zeichnen das Katastrophenszenario eines Alltags im Shutdown, der immer wieder neu verhängt werden muss, sollten die Regierungen zwischenzeitlich Lockerungen wagen. Je nach Verlauf müssten die Bürger bis zu einem Dreivierteljahr in Isolation verbringen, um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Noch im Jahr 2024 könnte die Seuche erneut aufflammen…..“
Ein Appell deutscher Ärzt*innen:
https://www.aerzteinnenvorort.de/services
Das Modell der liberalen Demokratie schlägt sich in der Pandemie überraschend gut. Es gilt, Leben zu schützen und dabei schonend mit den Grundlagen der freien Gesellschaft umzugehen.
Wir Ärzt*innen fordern von Politik und Wissenschaft einen verantwortlicheren Umgang mit der Corona-Krise:
Frau Dr. Merkel, Herr Spahn, Verantwortliche in Politik und Verwaltung,
Kehren Sie zurück zum angemessenen Umgang mit der Bevölkerung, den Menschen und unseren Patienten
Die massiven Beschränkungen sollten nicht fortgeführt werden ohne das Votum von (wissenschaftlich tätigen) Hausärzt*innen, Ethiker*innen, Jurist*innen, Epidemiolog*innen, klinischen Pulmolog*innen, Historiker*innen. Statistiker*innen, und Hausärztlichen Funktionär*innen sowie Vertreter*innen aus Industrie und Handel sowie der besonders betroffenen Gastronomie- und Unterhaltungsbranche zu hören.
Die Zeit drängt, die bisherige Strategie zu überdenken
Waren die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der CoViD-19-Epidemie aufgrund der Zahlen aus Italien Anfang März vielleicht nachzuvollziehen, stellt sich die Situation vier Wochen später in wesentlichen Aspekten anders dar. Die medizinische Versorgung unserer Patienten in Deutschland wird durch die angeordneten Maßnahmen nur an wenigen Stellen sicherer, in vielen anderen Bereichen wird sie schlechter. Erfreulicherweise hat sich der massive Anstieg von Covid-19-Patienten deutlich verlangsamt, zeitgleich leidet aber die Versorgung weiter Teile der Bevölkerung durch Erlasse, die aus medizinischer Sicht keine sichere Grundlage (mehr) haben.
Sorgen Sie für eine nutzbare Datenlage zur tatsächlichen Bedrohung und Durchseuchung der deutschen Bevölkerung
Der Aufruf zu ungezielten Massentests mit unsicheren Testergebnissen und Tests ohne vorhandene Gütekriterien war verantwortungslos. Selbst die Frage, ob durch Tests ein gezielter Schutz von vulnerablen Patientengruppen und gefährdeten Kontaktpersonen überhaupt möglich ist, bleibt bis heute unbeantwortet. Längst hätte aber der Mehrwert, den diese Tests aus Sicht vieler Ärzte darstellen, wissenschaftlich untersucht und dargestellt werden müssen. Es ist auch jetzt noch nicht zu spät, Testverfahren für bestimmte Fragestellungen gezielt einzusetzen! Insbesondere durch den Einsatz von Antikörpertests, die seit kurzem erhältlich sind, ist es möglich, mit Stichprobenuntersuchungen die Durchseuchung der Bevölkerung darzustellen, Informationen über eine Herdenimmunität zu erhalten und eine realistische Einschätzung für verschiedene Gruppen der Bevölkerung abzugeben.
Schutz geht auch anders!
Die Schließung von Schulen und Betrieben sollte unter Auflagen von Hygienemaßnahmen umgehend aufgehoben werden. Durch breit angelegte Programme – sichergestellt durch hausärztliche Praxen, durch wiederkehrende betriebsärztliche Kontrollen durch konsequente Schutzmaßnahmen in Alten- und Pflegeheimen – können regionale Maßnahmen der physischen Distanzierung rasch erneut implementiert werden, wenn ein regionales Wiederaufflammen der Epidemie erkennbar wird. Der generelle Shut-Down ist in Anbetracht der vorliegenden Gesamtsituation jedenfalls nicht mehr zu rechtfertigen.
Ärzt*innen vor Ort 13.4.2020
Fakten, Stand 10.4.2020
Covid-19 und respiratorische Erkrankungen im Frühjahr
– Die jährlich wiederkehrende, insbesondere im März zu beobachtende „Welle respiratorischer Erkrankungen“ bisher scheint auch dieses Jahr durchaus in etwa der anderer Jahre zu entsprechen.
– Besonderheiten, welche der Virus „SARS-CoV-2“ mit sich bringt, ist eine Erkrankung mit hoher Kontagiosität, die bei insbesondere Hochbetagten zu massiven Hypoxien und dramatischer Verschlechterung des Allgemeinzustandes führt. Das vollständige Krankheitsbild, genannt Covid-19, ist ein weiterhin sehr seltenes, aber bedrohliches Krankheitsbild.
– Leider ist es hier wie auch in den meisten anderen Ländern verpasst worden, die tatsächliche Infektionsrate der Bevölkerung zu bestimmen und eine insbesondere alters- und risikoadaptierte Letalitäts- und Morbiditätsrate zu ermitteln.
– Die CFR (Case Fatality Rate) stellt das Verhältnis der Zahl der gemeldeten verstorbenen Fälle zur Zahl der gemeldeten Fälle in einer Population dar. Sie unterscheidet sich in den Ländern. Sie scheint in Deutschland unter der von Italien oder Österreich zu liegen. Die Ursache dafür bleibt bisher spekulativ.
– Die meisten Schätzungen gehen von einer CFR wahrscheinlich zwischen 0,8 und 0,1 aus, welche damit im Bereich der Influenza oder leicht darüber liegt (die CFR der Influenza lag 2017/18 in Deutschland bei 0,5, im langjährigen Mittel eher bei 0,1). Basierend auf den Zahlen des RKI liegt die CFR am 10.4.2020 bei 0,21.
– Insbesondere wegen der fehlende Herdenimmunität stellt diese Pandemie ohne Zweifel eine ernst zu nehmende Bedrohung dar.
nationaler Kontext
– Deutschland hat zwar einen Pandemieplan, vorbereitet auf eine Pandemie ist es aber nicht gewesen. Die fehlende Auseinandersetzung mit repräsentativen Stichprobenerhebungen und Modellberechnungen vor allem auf gesamtgesellschaftliche Auswirkungen einzelner Entscheidungen ist ein nicht nachvollziehbarer Fehler der Entscheidungsträger.
– Ob wirklich genug Kriterien erfüllt waren, dermaßen weit reichende Entscheidungen zu treffen, ist es wert zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert zu werden
– Diese Erkrankung einerseits, die bisher eingeleiteten Maßnahmen andererseits führen mancherorts zur Dekompensation des Gesundheitssystems.
– Da bis jetzt keine spezifischen Therapeutika gefunden wurden, es zur Entwicklung eines Impfstoffes Zeit braucht und die Gefahr eines Massenanfalls von beatmungspflichtigen Patienten zu befürchten ist, wurde die Strategie des Containments favorisiert.
– Diese Strategie, sollte sie erfolgreich sein, birgt gleichzeitig auch längerfristig die Gefahr wiederholter Infektwellen, da diese bis zum Vorhandensein einer Herdenimmunität bei jeder Lockerung des Containments erneut auftreten müssten.
– Präzisiert: Gelingt keine Ausrottung des Virus, ist die Notwendigkeit für ein Containment um so länger geboten, je erfolgreicher es ist. Die Anzahl der möglichen schweren Verläufe wird durch das Containment alleine nicht gesenkt, lediglich werden Komplikationen mit dann hoffentlich selteneren Todesfällen zeitlich verzögert – „gleichmäßiger“ – auftreten. Die gefürchtete Überforderung einzelner Beatmungszentren der Kliniken, wie sie in anderen Ländern in diesem Frühjahr beobachtet wurden, wären damit vermieden.
– Ob nicht andere Faktoren dazu führen könnten, dass es zu einem Stillstand der Infektionsrate kommt, wie man sie von anderen Infektionen auch kennt, ist unverändert Gegenstand der Diskussion.
– Die derzeit gängige Praxis, ateminsuffiziente Personen frühzeitig zu intubieren und zu beatmen hingegen ist Gegenstand der Diskussion. Ein Teil der Spezialisten empfiehlt vermehrt auf nicht invasive Therapieverfahren zu setzen, da diese mit besseren Ergebnissen assoziiert wären. Insbesondere die Sorge um Beatmungsplätze wäre damit nicht mehr relevant.
Testverfahren
– Es ist ein Segen, dass es die Möglichkeit gibt, durch Tests Infektionsketten nachverfolgen zu können und somit die Möglichkeit besteht, selbige zu unterbrechen um die Ausbreitung zu verlangsamen.
– Ob die vergleichsweise vielen Tests, die in Deutschland durchgeführt werden, nicht auch dazu geführt haben, dass Ergebnisse oft viel zu spät eingetroffen sind und Maßnahmen für Nichtbetroffene und An- und Zugehörige, z.B. in Heimen zu spät ergriffen wurden, ist nicht bekannt.
– Die Art des Testens in Deutschland hat enorme Ressourcen z.T. für die eigentlichen Tests (130-180€/je Test), z.T. für die notwendig gewordenen Strukturen, wie z.B. den Aufbau von „Abstrichambulanzen“ verschlungen. Diese hätten für strukturierte Erhebungen wesentlich besser genutzt werden können. Ein umgehendes Verbot von Tests, die keine unmittelbar klinische Relevanz oder im Rahmen von strukturierten Erhebungen (Surveillance) erhoben werden, sollte dringend ausgesprochen werden.
– Auch sollte sofort erörtert werden, wie man den Einsatz von Antikörper/Immunglobulin-Tests sinnvoll gestaltet, die ansonsten ebenfalls unkontrolliert in der Versorgung eingesetzt werden, obwohl die meisten Experten*innen vor vorschnellen Schlüssen aus den Ergebnissen von Test mit unklarer Güte abraten und der Einsatz ohne Kenntnis der A-priori-Wahrscheinlichkeit gefährlich werden kann, wenn falsche Schlüsse aus einem positiven Test-Ergebnis selbst bei extrem guten Testqualitäten gezogen werden, von dem man zur Zeit ausgehen darf, dass es in nur einem von zwanzig Fällen richtig ist.
Mögliche Implikationen in naher Zukunft
– Die Verantwortlichen haben reagiert und insbesondere das Angebot der Beatmungsplätze erweitert und spezialisierte Covid-Krankenstationen aufgebaut. Ersteres kann auch kritisch gesehen werden, denn nicht zuletzt fehlt es vor allem an Personal und Material, diese Beatmungsplätze zu besetzen. Letzteres scheint ein probates Mittel zu sein, noch fehlt aber die eigentliche Struktur, ggf. Patienten mit Pneumonien auch ambulant zu behandeln, sollte es wirklich zu einem massiven Anstieg im Sinne eines exponentiellen Zuwachses der Fallzahlen kommen.
– Aussagen wie „fast die Hälfte der Intensivbetten sind frei“, zeugt von Unverständnis, was exponentielles Wachstum für ein Krankensystem binnen weniger Tage bedeuten kann!
– Nicht nur die Versorgung der stationären, sondern auch die der ambulanten Strukturen muss suffizient geplant werden. Hierzu wird die hausärztliche Expertise bisher anscheinend ignoriert.
– Bereits jetzt werden auf Länderebene oder regional Entscheidungen getroffen, die nicht mit den Versorgern vor Ort abgesprochen werden und diese zu Widerständen veranlassen.
– Insbesondere die Sicherheit der Pflege in Krankenhäusern und Altenheimen muss primär angegangen werden.
Fazit
– Anstelle innezuhalten und sich klar zu machen, dass die Erkrankungswelle als Gefahr für medizinisches Personal und Betreuer*innen außerhalb von Hotspots nicht anders zu bewerten ist, als die Jahre zuvor, als man sich an anderen Infektionen, darunter auch Corona-Infektionen ebenso hat anstecken können, beschäftigt sich eine kopflos gewordene Gesellschaft mit irrelevanten Fragen. Medizinische Evidenz für viele der ergriffenen Maßnahmen fehlt.
– Einzelne Kassenärztliche Vereinigungen beschäftigen sich mit Akut-Programmen ohne hausärztliche Expertise zu nutzen. Dabei werden gewachsene Strukturen missachtet, und stationär tätigen die Tätigkeit in einem ambulanten Bereich übertragen – Ärzt*innen, die in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn bestenfalls im Studium für ein paar Tage die ambulante Versorgung kennen gelernt haben.
– Wie noch nie in 70 Jahren der derzeitigen Demokratie sind Menschrechte beschränkt worden, tatsächlich sind solch weitreichende Erlasse und Kompetenzen zuletzt in der Weimarer Republik rechtskräftig geworden. Die Verhältnismäßigkeit wird von mehreren Seiten angezweifelt.
– Dabei ist nicht auszumachen, ob die bisher eingeleiteten Maßnahmen etwas bewirkt haben. Ebenso wenig ist es möglich vorherzusagen, ob das Beenden der Maßnahmen eine Gefahr bergen würde.
– Auch ist zu klären, was passieren würde, wenn die Empfehlung zur physischen Distanzierung ohne Androhung von Zwangsmaßnahmen, der Shutdown „nur“ im Sinne des schwedischen Vorgehens weitergeführt würde.
– Epidemiolog*innen, die man beauftragen könnte, solche Szenarien zu berechnen, zu „modellieren“, werden dringend benötigt.
– Es ist notwendig, die eventuell positiven gesundheitlichen Effekte des Shutdowns mit den positiven Effekten des „Wiederöffnens von Teilbereichen der Gesellschaft“ abzuwägen. Die entscheidende Frage dabei ist, was also wirklich geschehen könnte, wenn ab sofort der schwedische Weg eingeschlagen würde? Hierzu muss auch modelliert werden, welche gesundheitliche Folgen eine finanzielle Krise bisher unbekannten Ausmaßes für das Gesundheitssystem hat.
Wir Ärzt*innen vor Ort fordern auch klare Ansagen:
– deutschlandweit Sentinels aufzubauen, um die Durchseuchung der Bevölkerung zu erkennen. Die daraus ablesbare Vortestwahrscheinlichkeit hilft, die Aussagen der Testergebnisse zu bewerten.
– Die Gütequalität der angewandten Tests zu ermitteln und prominent darzustellen. Dazu gehört auch, diese so zu erklären, dass auch medizinische Laien sie interpretieren können.
Also keine Testergebnisse zu veröffentlichen, ohne den Zusammenhang zu erläutern
mit der
o Anzahl der Getesteten
o Anzahl der Gestorbenen
o Anzahl der „mit positivem Test“ Gestorbenen versus
Anzahl derjenigen, die an (und nicht mit!) Covid-19 Verstorbenen, wie sie zum Beispiel in Hamburg bereits erhoben werden
o Anzahl der Tage der Verzögerung, die diese Testergebnisse darstellen
– Keine Regeln zur Quarantäne, die dazu führen, dass Menschen mit Infektion lieber weiterarbeiten, als sich untersuchen zu lassen.
– Keine Regeln zum Arbeitsverbot, die dazu führen, dass Menschen mit Infektion lieber weiterarbeiten, als sich untersuchen zu lassen.
– Keine Schließung der Arztpraxen, die dazu führen, dass Ärzt*innen und Personal mit Infektionen lieber weiterarbeiten, aus Angst vor weiteren finanziellen Einbußen
– Es braucht klare einheitliche Absprachen bei den Empfehlungen der Gesundheitsämter, von zentralen Bundesbehörden mit den Ländern abgestimmt und einheitliche Bestimmungen, vor allem auch zur Quarantäne, durch die Gesundheitsämter deutschlandweit.
Auch sollte von der Politik geklärt werden:
– Wer kümmert sich um vernachlässigte Patient*innen, wenn die Betreuer*innen nicht mehr da sind, oder abgezogen wurden („Quarantäne“)?
– Kein Erlass, der nicht von vorneherein auch terminiert ist. Kann die Zukunft nicht vorhergesehen werden, ist dies zu benennen und die Mindestzeit für jede Maßnahme zu nutzen, die nur mit erneuter Begründung verlängert werden kann.
– Klarstellung, wem das Tragen von Schutzanzügen und Masken in der allgemeinen Bevölkerung nutzt und wer diese Utensilien durch wen bekommt.
Wir fordern außerdem:
– Die Erkenntnis der Stunde in naher Zukunft nicht zu vergessen: Stopp der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens: Krankenhäuser und Pflegeheime können in Zeiten wie diesen, nicht wirtschaftlich arbeiten und sollten es auch in Zukunft nur unter geschützten Prämissen müssen.