Wir sind alle interessengeleitet. Oder: Wie baut man Brücken in Zeiten von Corona?

Alte Kontroversen

Mein langes Leben bringt es mit sich, dass ich viele politische und gesellschaftliche Kontroversen erlebt habe. Aber ich kann mich an keine erinnern, die so grundsätzlich, so scharf und unversöhnlich geführt wurde, wie die um Corona.

Ja, ich erinnere mich an Sätze gegenüber Menschen, die nicht alles am Sozialismus schlecht fanden oder für Abrüstung waren „geht doch nach drüben!“ „Ausweisen sollte man euch!“. Sätze zu 68-er „Gammlern“ (erkennbar an langen Haaren), „euch hat der Hitler vergessen zu vergasen“. Ich weiß, wie der „Radikalenerlass“ von 1972 zu einer Hetzjagd auf „Extremisten“ führte und Existenzen vernichtete (um ein Haar auch die unseres Landespatriarchen Kretschmann!). Umgekehrt die „klammheimliche Freude“ die in einem „Nachruf“ auf die Ermordung von Buback durch die RAF geäußert wurde – und keineswegs eine Einzelerscheinung war. Ich weiß, mit welcher Wut „die Grünen“ nicht nur als Spinner, sondern auch als Staatsfeinde diffamiert und behandelt wurden.

Corona spaltet radikaler

Aber Corona wirkt umfassender, spalterischer, radikaler. Freundschaften, Familien zerbrechen, Nachbarn grüßen sich nicht mehr, es gibt keine Gesprächs-Brücken. Es gilt häufig nur noch „wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Diese giftige, vergiftende Radikalität bemerke ich auch an mir – wo gerade ich doch von Beginn der Pandemie an für „Verhältnismäßigkeit“ kämpfte. Einen Teil dieses Affekts kann ich entschuldigend mit dem über Monate währenden Ausgegrenzt-Werden erklären: Zweifel waren nicht erlaubt. Weder an der Einschätzung von Herrn Drosten und Compagnie, noch an den beschlossenen Maßnahmen der Politik. Die Bösartigkeit, mit der „Abweichler“ bedacht wurden (und auch noch werden) bleibt unverzeihlich; die Bitterkeit darüber ist noch in mir und manches will und werde und darf ich nicht vergessen.

Auch wenn ich ziemlich weit davon entfernt bin, anzunehmen, die Pandemie käme „der Politik“ gerade recht, um Freiheitsrechte dauerhaft auszuhebeln, einen „anderen Staat“ zu schaffen (hier bin ich eine Anhängerin von „Hanlons Rasiermesser“: Was durch Dummheit zu erklären ist, sollte man nicht durch Bösartigkeit erklären) – die Leichtfertigkeit mit der „die Gewählten“ nicht nur den Gesprächsfaden zu Andersdenkenden abreißen ließen, sondern Ängste schürten und sich dieser Ängste bedienten: Das werde ich in der mir verbleibenden Lebenszeit nicht vergessen und macht mich dauerhaft besorgt.

 

Gerade deshalb: Es ist Zeit, Brücken zu bauen

Trotzdem – oder gerade deshalb: Es ist Zeit, Brücken zu bauen. Eine klare Position zu haben und für sie zu werben, ist das eine. Aber (auch wenn es mir im Moment noch sehr, sehr schwer fällt): ich will VertreterInnen einer anderen Sicht mit Achtung begegnen, will hinhören, will darauf vertrauen, dass sie respektable Gründe für ihre Überzeugung haben. Deshalb – auch wenn es mir  wie gesagt ziemlich schwer fällt – höre ich nicht nach wenigen Zeilen bei der Lektüre eines Artikels auf, der nicht in mein Weltbild passt, sondern lese zu Ende. Selbst wenn mir „das Messer im Sack aufgeht“.

„Interessengeleitet“ sind wir alle – das müsste sich so allmählich rumgesprochen haben. Weil es „die Wahrheit“ nicht gibt, sondern nur meine, deine, seine, ihre subjektive, fehlerbehaftete Erkenntnis, muss jeder und jede innehalten, mit der Möglichkeit rechnen: „ja, ich habe sicher gute Gründe für meine Überzeugung – aber ich kann mich täuschen.“

 

Aber wer macht den Anfang????

Und damit bin ich bei Herrn Lauterbach und Herrn Altmaier. Ersterer hat (laut Deutschlandfunk am 14.4.) die von seiner Sicht abweichende Äußerungen von Aerosol-Fachleuten („Aerosolforscher warnen Politik vor symbolischen Corona-Maßnahmen“) zu zweifelhaften Wirkung von  Ausgangssperren als „Meinungsposition“ kritisierte. Wenn da nicht das Wort „kritisieren“ gestanden hätte und wenn Herr Lauterbach seinen eigenen Standpunkt auch als „Meinungsposition“ gekennzeichnet hätte – wäre das in Ordnung gewesen.

Herr Altmaier wiederum gab kund: „Überall auf der Welt, wo eine Infektionswelle erfolgreich gebrochen wurde, hat man das mit dem Instrument eines harten Lockdowns geschafft“. Die von keinem Zweifel angekränkelte Absolutheit dieser Aussage lässt mich antworten: Tja, in Frankreich sind wir seit dem 1. April beim dritten harten Lockdown angekommen (Empfehle zur genaueren Information, was das in Frankreich heißt). Mit dem Ergebnis: am 1.4.21 betrug die Inzidenz (die ja nach wie vor als der Maßstab gilt… wobei sich zweifelnde Stimmen mehren) in Frankreich 390,4; heute, am 18.4.21 beträgt sie 468,8; Letalitätsrate 1.89%. (zum Vergleich: das mit seinem lockdownfreien „Sonderweg gescheiterte“ Schweden hatte am 18.4.21 eine Inzidenz 423.2; Letalitätsrate 1,53%.

Na da habe ich doch mal wieder hübsch die Kurve gekriegt und der Ball liegt im Spielfeld von Drosten, Lauterbach, Altmaier usw. Hm… war es das, was ich meinte mit „Brücken bauen“? Muss mal drüber nachdenken.

3 Comments

  1. Marion Batt
    24. April 2021

    Vielen Dank! Sehr gut! Eben kam im dlf ein Interview mit einer Politikwissenschaftlerin die für einen verbesserte Dialogkultur und einen „3. Weg“ im Nachdenken über die Anti-CV-Maßnahmen spricht. So nach dem Tenor: Nicht der Mund, der eine Aussage macht, sollte beurteilt werden, sondern die Aussage, die er macht.

    LGr, Marion

    Antworten
  2. Otto
    30. April 2021

    Sie sprechen mir aus der Seele. Gerade, weil ich Einiges an Gedanken nicht in die treffenden Worte umwandeln konnte.
    Gerade der spitzfindige und geniale Vergleich mit Hanlons Rasiermesser trifft es bei mir auf den Punkt.

    Ihr Schreib-Stil gefällt mir außerordentlich gut.

    Viele Grüße
    M. Otto

    Antworten
    1. Ursula
      30. April 2021

      Vielen Dank, das hat mich sehr gefreut!

      Antworten

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