Der Bundestag strömte zusammen, um mit der „Einrichtungsbezogenen Impfpflicht“ ein Gesetz zu schaffen, damit „besonders gefährdete vulnerable Menschen vor einer Infektion“ geschützt werden. Vor allem gilt das Augenmerk den BewohnerInnen von Alten- und Pflegeheimen.
Meine Rührung über so viel Fürsorge hält sich in Grenzen. Dazu habe ich zu viele PatientInnen, die in der Pflege tätig sind, und von denen ich z.B. erfahre, wie viel HeimbewohnerInnen eine Fachkraft in der Nachtschicht zu versorgen hat.
Die ganze Verlogenheit solcher Impf-Aktionen möchte ich aber noch ein bisschen unterfüttern.
Am 07.02.2022 titelt die Ärztezeitung
Nur jede dritte Pflegeeinrichtung zahlt nach Tarif
„Ab Herbst soll die Tarifpflicht für Altenheime und Pflegedienste kommen. Eine Abfrage der Pflegekassen zeigt: Aktuell zahlt lediglich knapp ein Drittel der Pflegeeinrichtungen nach Tarif.“
Ein knappes Drittel zahlt den Tariflohn – und die restlichen zwei Drittel entlohnen sicher nicht übertariflich!
[….] der durchschnittliche Stundenlohn über alle Beschäftigtengruppen hinweg – also Pflegebeschäftigte mit und ohne einjährige Ausbildung sowie examinierte Pflegekräfte [liegt] – bundesweit bei 18,95 Euro. Es zeigen sich jedoch große Unterschiede zwischen Ost und West: Während die Entlohnung im Osten im Schnitt bei 17,98 Euro pro Stunde liegt, sind es im Westen 20,19 Euro.“
Leute, so viel könnt Ihr von den Balkonen herunter gar nicht klatschen, um so viel Arbeit für so wenig Geld zu würdigen.
Ich habe meine jüngste Gärtner-Rechnung zur Hand genommen und festgestellt: Ich zahle für eine Gärtnerstunde zwischen 35.60 € und 39.80 €. Gut, da fällt sicher noch was für den Chef ab. Aber Nachtschicht, Wochenenddienst gibt’s bei den Gärtnern meines Wissens nicht. Meine Blümchen sind mir das Geld wert und sie gedeihen. Was ist die Pflege alter Menschen wert? Nicht ganz so viel, will mir scheinen.
Tarifpflicht: Private Pflegeanbieter ziehen vor das Verfassungsgericht
Ab 1. September 2022 soll das zwar anders werden, da soll tarifliche Entlohnung Vorschrift sein. Aber warten wir’s ab:
Aus „Angst vor Existenzverlust“ (!… naja, bei jährlichen Renditen von bis zu vier Prozent, kann man die Sorgen der Pflegeanbieter ja schon nachfühlen!) sind die Privaten Pflegeanbieter schon im letzten September vor das Verfassungsgericht gezogen.
Und so sieht’s aus: „Pflegbedürftig“ – eine Dokumentation der Süddeutschen Zeitung
Am 21.01.2022 brachte die Süddeutsche eine ausführliche Dokumentation mit dem Titel „Pflegebedürftig“
Einleitung:
Über „Abgemagerte Bewohner, verzweifeltes Personal, profitgierige Konzerne: Nicht erst seit Beginn der Pandemie herrscht in Deutschlands Altenheimen der Notstand. Über den Irrsinn im System.“
Aufhänger – aber eben nur Aufhänger – sind die Vorgänge in einer inzwischen geschlossenen „Seniorenresidenz“ am schönen bayerischen Schliersee:
„Als die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Anfang Mai 2020 ausrücken, sind sie mit einem Faltblatt auf ihren Sondereinsatz vorbereitet. „Verschlusssache“ steht auf der Vorderseite. Sie müssten damit rechnen, „mit belastenden Situationen konfrontiert“ zu werden, mit Kranken und Toten. Um das Erlebte zu bewältigen, empfiehlt das Faltblatt unter anderem besondere Atemübungen. Das Einsatzziel ist nicht Afghanistan oder Mali, sondern Schliersee […] Die S.O. Nursing Homes GmbH, eine deutsche Tochtergesellschaft des italienischen Konzerns Sereni Orizzonti, betreibt das Heim, in dem 65 Mitarbeiter die alten Menschen versorgen – allerdings nur auf dem Papier. Tatsächlich sind dort im Frühjahr 2020 nur etwa 30 Beschäftigte im Dienst. Sie sprechen kaum Deutsch, sind mit der Situation heillos überfordert.[…] bis auf die Knochen abgemagerte Bewohnerinnen und Bewohner […] mit zentimeterlangen Finger- und Fußnägeln, mit eitrigen und blutenden Wunden. Würtz fotografiert Aufenthaltsräume, in denen Bewohner nach vorn gekippt in ihren Rollstühlen sitzen, die sich nicht aus eigener Kraft aufrichten können. Manche Zimmerwände sind mit Exkrementen verschmiert, Böden voller Flecken von Urin, Blut und Erbrochenem. Bei einem Bewohner ist seit Wochen der Urinbeutel nicht ausgewechselt worden, die Flüssigkeit hat sich braun verfärbt, ist flockig. […] Würtz‘ Berichte lösen den Bundeswehreinsatz aus. Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten desinfizieren Zimmer, entsorgen Müll, der sich schon in den Fluren türmt, 40 Kilo abgelaufene Lebensmittel – und tote Mäuse aus der Küche.“
Ja, das ist ein Extremfall. Aber erstens nicht der einzige und zweitens ist es nur die logische Konsequenz des Systems. Eines Systems das gesetzlich gewollt die Pflege (wie das Gesundheitswesen überhaupt) unter marktwirtschaftliches Diktat gestellt hat. Ein System, in dem der Medizinische Dienst, der zum Pflege-TÜV kam, bundesweit Traumnoten gab. Im Durchschnitt irgendwas mit Einskommairgendwas. Eine hübsch gestaltete Speisekarte und eine üppige „schriftliche Dokumentation“ was angeblich alles zum Wohl der HeimbewohnerInnen erfolgt sei, reichte zur guten Bewertung aus. Die Seniorenresidenz in Schliersee erhielt bei seiner letzten Begutachtung die Note 1,2.
Und die Heimaufsicht? „Hinter vorgehaltener Hand erzählen viele Pflegekräfte wie auch Heimleiter aus verschiedenen Regionen Deutschlands, dass die Kontrollen oft oberflächlich verliefen. Häufig fände nicht einmal eine Plausibilitätsprüfung statt, ob die in den Unterlagen angegebenen Leistungen mit dem vorhandenen Personal rechnerisch überhaupt zu schaffen sind.“
Die einen klatschen, andere haben einen an der Klatsche – und die meisten kümmert’s nicht
„Während der Pandemie erhöhte sich der gesellschaftliche Stellenwert des Berufsstands. Menschen standen abends auf den Balkonen und klatschten für die Pflegekräfte. Politikerinnen und Politiker aller Parteien waren sich schnell einig, dass die Beschäftigten der von der Pandemie so schwer getroffenen Branche einen Bonus verdienten. Die positive Wirkung dieser Geste verpuffte allerdings bald, weil ein Gefeilsche um die Höhe der Sonderzahlung einsetzte, ob nun 1000 oder 1500 Euro angebracht seien. Im zweiten Corona-Jahr schlug der Arbeitgeberverband Pflege vor, den Bonus nur an Geimpfte auszuzahlen, was unter den Pflegenden für weiteren Verdruss sorgte.
Aktuell warten viele vergebens auf die Auszahlung, nachdem der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach anregte, die Prämie nur an Beschäftigte in Heimen und Krankenhäuser auszuzahlen, die durch die Pandemie besonders stark belastet waren. Berufsverbände und die Gewerkschaft Verdi waren von Anfang an nicht sonderlich angetan von der Idee der Einmalzahlungen. Sie fordern dauerhafte Verbesserungen der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften. […] Seit Jahrzehnten werden dieselben Missstände beklagt, geändert hat sich wenig. […] In Sachsen-Anhalt, erzählt sie (Annemarie Fajardo, Mitglied im Vorstand des deutschen Pflegerates), erlaube eine Verordnung den Pflegeeinrichtungen, dass in der Nachtschicht nur eine einzige Fachkraft 100 alte Menschen versorgt.
Seit Jahrzehnten werden dieselben Missstände beklagt, geändert hat sich wenig.
Als gelernte Altenpflegerin weiß Fajardo, dass in Pflegeheimen viele Menschen umgelagert werden müssen, damit sie sich nicht wundlegen, alle zwei Stunden ist ideal. Wie soll das eine einzelne Pflegekraft schaffen? Und vielleicht noch eine Sterbebegleitung machen? „Das kann nicht funktionieren.“ Das Problem ist: Genau so funktioniert die Pflege. Seit Jahrzehnten werden dieselben Missstände beklagt, geändert hat sich wenig. Deshalb stumpfen Beschäftigte ab. Oder sie versuchen, die Arbeit zu bewältigen, die nicht zu bewältigen ist, und brennen irgendwann aus.
Beides ist gefährlich für Heimbewohner. Oft lassen Beschäftigte ihren Frust an ihnen aus. In der Hälfte der Einrichtungen ist Gewalt gegen Pflegebedürftige ein Problem, schätzt das Berliner Zentrum für Qualität in der Pflege. Und natürlich leidet auch die Pflege selbst, wenn die Heimmitarbeiter im Dauerstress sind. Aus Zeitnot, beschreibt eine Pflegekraft aus München, die anonym bleiben will, komme es vor, „dass man morgens den Bewohner auf die Toilettenschüssel setzt, um Urin und Stuhl auszuscheiden, und ihn nebenbei noch bittet, dass er die Zähne säubern lässt, und beginnt, ihn zu waschen, abzutrocknen und Socken und Unterwäsche anzuziehen“.
„Konsequenz aus Pflegemängeln in Heimen ziehen“ – eine vierzig Jahre alte Forderung
Nach einem ähnlichen Skandal in einem Augsburger Heim Überschrift: (Altenheim in Augsburg:“Wie viele Skandale will die Staatsregierung noch abwarten, bis sie handelt?“) werden Forderungen gestellt. Zum wievielten Mal und wie viele Male noch? Werfen wir einen Blick zurück:
„Die Gewerkschaft ÖTV, die heute Verdi heißt, schrieb bereits im August 1988 in ihrer Mitgliederzeitung: „Gewerkschaft ÖTV fordert Sofortmaßnahmen gegen den Pflegenotstand: Bessere Arbeitsbedingungen und Einkommen sind überfällig“ heißt es indem obigen Artikel „Pflegebedürftig“ der Süddeutschen.
Sofortmaßnahmen! 1988! Die sind gut! So schnell geht das nicht. Alles zu seiner Zeit!
Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben: Deshalb fordert VdK-Präsidentin Bentele 34 Jahre später, nämlich am 11.02.2022 um genau zu sein:
„Die Ursachen für schlechte Pflege dürfen von der Gesellschaft nicht länger ignoriert werden. Sie liegen im System und müssen endlich bekämpft werden“, forderte VdK-Präsidentin Verena Bentele […] Die Gesellschaft darf nicht beide Augen zudrücken, wenn es um das Wohl wehrloser Menschen geht“, betonte Bentele. Profite mit Pflegeeinrichtungen müssten gesetzlich begrenzt werden.“
Einrichtungsbezogene Impfpflicht – das macht doch was her! Und kostengünstig ist sie auch!
Gut gebrüllt Löwe! Ich hoffe, es sind genügend Lutschbonbons gegen Heiserkeit vorhanden. Denn seien wir ehrlich: So eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ist doch Beweis genug, dass wir unsere vulnerablen Alten schützen! Und diese miesen, verantwortungslosen Pflegekräfte, die sich nicht impfen lassen wollen – die können wir nur mit unserer tiefsten Verachtung strafen… und uns moralisch wahnsinnig überlegen fühlen!