Jeden Tag gehe ich auf den Markt, wo Lügen verkauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein unter die Verkäufer.“ (Bertolt Brecht)
Meine russische Krankengymnastin
Einmal in der Woche bin ich bei einer Krankengymnastin. Sie kommt aus Russland, ist sehr gebildet Ich kann mich mit ihr über Dostojewski oder Guy de Maupassant unterhalten, sie erzählt von den Konzerten, die sie gerade besucht hat, hört Tschaikowsky und Skrjabin. In ihrem Leben ist sie viel weiter herumgekommen als ich.
Aber sie ist ein Putin-Fan und erklärte mir wortreich, dass die Amerikaner in Kasachstan usw. Fabriken und Labore für Biokampfstoffe errichtet hätten. Das sei die reine Wahrheit und bewiesen. Ich habe ihr schon früher gesagt „Frau X, Sie sehen zu viel ‚russia today‘“ und erklärte, es sei wohl besser dieses Thema auszuklammern, sonst würde ich von der Liege hopsen.
Vor dem Ukraine-Krieg war sie ein paar Wochen weg und ich war gespannt, ob sie davon sprechen wird und wenn ja, wie. Zunächst redeten wir über dies und das, ich glaube, wir vermieden beide diese heikle Thematik. Bis sie plötzlich sagte: „Sie wissen hier überhaupt nicht, dass in der Ukraine alle Nazis sind.“ Ich machte energisch klar, dass ich das anders sehe und dass ich darüber nicht weiter reden möchte.
Unbeirrbar an Propagandalügen festhalten – das ist keine Frage der Nationaliät
Wie kann eine so intelligente Frau so dumm sein, auf Propagandalügen hereinfallen und nichts, aber auch gar nichts ist imstande, dass sie ihre Meinung überdenkt? Das war und ist eine Frage, die ich mir stelle. Unfassbar!
Doch dann stieß ich auf eine Notiz: 1967 glaubten noch fast die Hälfte der Deutschen, der Nationalsozialismus sei „im Prinzip“ eine gute Sache gewesen. 1967! 22 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs! Ich erinnerte mich an meine Kindheit und Jugend. An die Sprüche meiner biederen Mutter, die ganz gewiss keine Nationalsozialistin gewesen war: „der Hitler hat viel Gutes gemacht, wenn er nur nicht größenwahnsinnig geworden wäre!“ Oder Aussagen wie: „der Hitler hat die Autobahnen erfunden und die Engländer die Konzentrationslager.“
Ein paar Vermutungen, warum das so ist
Wenn man erst mal von etwas überzeugt oder überzeugt worden ist, dann hält sich das hartnäckig. Es hat den Anschein, dass sich ganz viel dagegen wehrt, die eigene Überzeugung auch nur zu überprüfen, denn dann bestünde das Risiko, sie korrigieren zu müssen. Worum geht es dabei? Will man sich von der beschämenden Einsicht schützen „da habe ich mir aber wirklich ein Bären auffinden lassen!“ Oder schlimmer noch: „ich habe mein Leben nach falschen Prinzipien ausgerichtet!“? Spielt die Angst mit, den sicheren, besser den sicher geglaubten Boden unter den Füßen zu verlieren, abzustürzen? Fühlt man sich zur Treue verpflichtet und käme sich als Verräter, also prinzipienlos vor? Wahrscheinlich spielt alles mit.
„Sollen wir die menschliche Gesellschaft auf den Zweifel begründen und nicht mehr auf den Glauben?“
Ich denke an Bertolt Brechts Galileo Galilei, der die Florentiner Gelehrten bittet, durch sein Fernglas zu schauen, damit sie die Bewegung der Jupitermonde erkennen – womit das kopernikanische Weltbild bewiesen und das herkömmliche, kirchliche falsifiziert wäre.
Galilei: „Meine Herren, ich ersuche Sie in aller Demut, Ihren Augen zu trauen. […] Ich schlage euch vor: schaut hindurch! Was sind alle Spekulationen über Himmel und Erde, lasst sie fahren, wenn ihr ein Zipfelchen der Welt wirklich sehen könnt!“
Die Gelehrten weigern sich, auch nur einen Blick durch das Fernglas zu tun. Sie berufen sich auf Aristoteles und die kirchliche Lehre. Die eigene Wahrnehmung wird so gering geschätzt, dass man noch nicht mal Gebrauch von ihr machen darf.
Das ist nicht nur dumm. Der Inquisitor in Brechts Stück trifft schon etwas Wahres: Sollen wir die menschliche Gesellschaft auf den Zweifel begründen und nicht mehr auf den Glauben? […] Was käme heraus, wenn diese alle, schwach im Fleisch und zu jedem Exzess geneigt, nur noch an die eigene Vernunft glaubten, die dieser Wahnsinnige für die einzige Instanz erklärt!“
„Auf den Zweifel begründen“, das ist allerdings ein wackeliges Fundament! Das muss man erst aushalten können. Ist es nicht verständlich, wenn wir nach einem sichereren Grund suchen? Aber was, wenn es keinen sicheren Grund gibt? Lieber die Illusion eines sicheren Grundes, als damit zu leben: Wähle ich den Zweifel zu meinem Fundament, lebe ich in der Gewissheit: der Boden auf dem ich stehe ist unsicher.
Besonders in der katholischen Kirche – aber keineswegs nur da – gab/gibt es die Forderung nach dem Sacrificium Intellectus, dem Opfer des eigenen Verstandes. Das heißt: gibt es ein Konflikt zwischen der Überzeugung des eigenen Verstandes und dem was die Autorität (heutzutage: „die Experten“) lehrt, so ist es eine Tugend (und eine Pflicht) den eigenen Verstand zu opfern und sich der Autorität („den Experten“) zu unterwerfen.
Wann ist das eine Tugend? Wann ist es vernünftig? Wann ist es eine Schande? Wann ist es Verrat an sich selbst?
Ich glaube durchaus, dass es wichtig ist, sich immer vor Augen zu halten, dass man selbst die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat, dass es Leute gibt, die vermutlich mehr wissen, als man selbst. Auch Skepsis gegenüber dem eigenen Blick durchs Fernrohr, ist gewiss kein Fehler. Denn wer sagt, dass das Fernrohr nicht manipuliert ist und keineswegs die Realität zeigt – so argumentieren auch die Gelehrten gegenüber Galilei. Aber wenn diese Skepsis gegenüber der eigenen Wahrnehmung und der Empirie nicht ergänzt wird durch die Skepsis gegenüber dem, was die Autorität, „die Experten“ verkünden, was Mainstream ist, dann wird es schief und wir verlieren unsere Würde.
Unsere schwierige Aufgabe: Vertrauen und Misstrauen in der Balance
Vertrauen und Misstrauen sind Schlüsselbegriffe. Beides brauchen wir. Wenn ich mich zum Beispiel über etwas informieren will, dann achte ich auf die Quelle. Beispielsweise vertraue ich der Süddeutschen Zeitung mehr als eben Russia today. Ich glaube, wir können nur eine Schneise durch den Urwald der Informationen schlagen, wenn wir die Entscheidung treffen: dieser Quelle vertraue ich mehr als einer anderen.
Aber wenn dieses Vertrauen absolut wird, wenn nicht wenigstens ein Funken Misstrauen dabei ist, dann werde ich einfach nur zur „Gläubigen“.
Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges, heißt es. Nicht nur im Krieg. Wir sind jetzt geneigt (mindestens ich), ausschließlich „den Russen“ Falschmeldung zu unterstellen, während Selensky und Jo Biden nichts als die Wahrheit und die reine Wahrheit sagen.
„Unsere“ Propagandalügen
Der Krieg gegen den Irak, gegen Sadam Hussein wurde durch Lügen gerechtfertigt: der Irak arbeite mit Al- Qaida zusammen, Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen, „die Biowaffen– Lüge über Saddams mobile Anthrax-Küchen, bei denen es sich allerdings um Wasserstofftanks für Wetterballons handelte, hat die US-Regierung sogar dem UN Sicherheitsrat aufgetischt.“ (Heribert Prantl, Vom Großen und vom kleinen Widerstand, S 159)
Die „Brutkastenlüge“
Die sogenannte „Brutkastenlüge“ ist den Älteren von uns noch im Gedächtnis: irakische Soldaten hätten in Kuwait in Krankenhäusern Frühgeborene aus den Brutkästen geholt und sie auf dem Boden sterben lassen.
Diese grausame Geschichte „hatte Einfluss auf die öffentliche Debatte über die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens zugunsten Kuwaits und wurde unter anderem vom damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush und von Menschenrechtsorganisationen vielfach zitiert. Erst nach der US-geführten militärischen Intervention zur Befreiung Kuwaits stellte sich die Geschichte als Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton heraus. Diese war von der im Exil befindlichen kuwaitischen Regierung bezahlt worden, um eine Rückeroberung Kuwaits mittels Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen…„Die Arbeit der US-Werbeagentur für die Kuwaiter trug also in gewisser Weise die Handschrift des Weißen Hauses. Präsident Bush wurde von Fuller über jeden einzelnen Schritt unterrichtet. Ob er auch seine persönliche Einwilligung für die Baby-Geschichte gab, ist allerdings nicht zu belegen. Was bleibt, ist aber, dass enge personelle Kontakte zwischen der US-Regierung und einer Agentur bestanden, die nachweisbar Lügen in die Welt gesetzt hatte. Dieselbe Agentur wurde im anderen Zusammenhang von der US-Regierung sogar direkt beschäftigt… Die PR-Kampagne gilt als Beispiel für gezielte Medienmanipulation und Desinformation, um Politik, Medien und Öffentlichkeit kriegsreif zu machen (Kriegsanlasslüge). Amnesty International versuchte nach der Befreiung Kuwaits, die Story zu verifizieren, und musste schließlich öffentlich zugeben, einer Fälschung aufgesessen zu sein.[11]
Ich empfehle, den ganzen Wikipedia-Artikel zu lesen, er macht deutlich, dass Desinformation kein Privileg von Schurkenstaaten ist.
Und was die Ukraine angeht – zugegeben die Geschichte ist etwas dilettantischer, trotzdem:
Am 30.05.2018 (also vor vier Jahren) titelte die TAZ
Journalisten-Mord vorgetäuscht: Untot in der Ukraine
„Mit betretenen Gesichtern stehen Reporter, Nachbarn, Polizisten und Kameraleute – vor dem zehnstöckigen Reihenhaus in der Mykilsko-Slobidska-Straße Nr. 6, unweit der Metro-Station „Linkes Ufer“ in der ukrainischen Hauptstadt. Hier also ist ihr Nachbar vor wenigen Stunden ermordet worden, klagt eine Frau. „Er war ein guter Mensch, hat sechs Kinder adoptiert. Er war immer sehr fröhlich.“ Ein Herr in Anzug und Krawatte, der nur Englisch spricht, will einen Strauß Blumen vor der Tür ablegen. „Bitte machen Sie das noch mal“, ruft ihm der Kameramann zu. „Langsamer.“
[…] Der bekannte Putin-Kritiker, der wegen zahlreicher Drohungen Russland vor einem Jahr verlassen hatte, war laut ersten Berichten in einer Blutlache mit dem Kopf nach unten tot aufgefunden worden. Es war die Nachricht des Tages in Kiew. Am frühen Nachmittag bestätigte die Kiewer Polizei offiziell den Tod des Reporters. Mit drei Schüssen in den Rücken sei er im Eingang seiner Wohnung erschossen worden, als er von einem Einkauf zurückgekommen sei. Seine Frau Olga habe den 41-jährigen Journalisten in ihrer Wohnung gefunden. Die Kiewer Polizei gehe davon aus, dass der Mord in direktem Zusammenhang mit der Arbeit des oppositionellen russischen Journalisten stehe.
Kurzfristig beraumte der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU für den Nachmittag ein Briefing an. Da platzte die Bombe: Neben dem Chef des Inlandsgeheimdiestes, Wasili Grizak, präsentierte sich ein aufgeräumter, fast fröhlicher Arkadi Babtschenko – lebend.
Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU habe daran zwei Monate gearbeitet, erklärte Grizak den erstaunten Reportern. Man habe den Mord vortäuschen müssen, weil man erfahren hatte, dass der russische Geheimdienst tatsächlich einen Mordanschlag auf Babtschenko geplant habe. Und um die russischen Täter und Auftraggeber in Sicherheit zu wiegen, habe man den Mord vorgetäuscht.“