Im Sommer fuhr ich durch die französischen Alpen. Bergauf –bergab. Mir gleich taten es (anders als noch vor wenigen Jahren) unendlich viele Radfahrer. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob man diese durchtrainierten, stylisch gedressten Leute auf ihren high-tech-Rädern mit der Bezeichnung „Radfahrer“ nicht beleidigt. Manchmal, wenn es bergauf ging und ich die verzerrten Gesichter sah, war ich versucht anzuhalten und zu anzubieten „Soll ich Sie bis oben mitnehmen?“ Aber das wäre nicht gut angekommen. Man kann natürlich streiten, ob eine Fahrt mit dem Auto einem der Alpenwelt tatsächlich nahe bringt. Aber ich sah die Berge, die Gebirgsbäche und oben parkte ich und marschierte eine Weile, bewunderte Alpenrosen, Enzian, Anemonen, Wiesen voller Storchenschnabel, Knabenkraut. Ich möchte wetten, dass keiner der Radler etwas davon wahrgenommen hat. Oben stiegen sie zwar kurz ab, tranken etwas, vermutlich einen Energy-Drink, und machten ein Selfie. Nicht etwa: „Ich und das Alpenpanorama“. Sondern „Ich und das Schild mit der Passhöhe“, das wurde sicher umgehend mit der „community“ „geteilt“. Dann in einem Höllentempo nach unten, so dass ich manchmal um die Unversehrtheit meines Kofferraums fürchtete. Ach, was waren doch die Biker noch für naturverbundene Burschen!
Ich hatte Muße, meinen Gedanken nachzuhängen. „Von der Selbstverwirklichung zur Selbstoptimierung“ dachte ich – darüber muss ich mal was schreiben.
Die 1968er ff. – ich habe sie gerade mal eben erwachsen erlebt. So ganz ergriffen war ich nicht von dem damaligen Trend zur Selbstverwirklichung. Dazu war ich zu konservativ und als angehende Theologin sicher noch empfänglich für das Verdikt, „Selbstverwirklichung“ sei dem Irrtum der „Selbsterlösung“ nahe, wo – wie jedermann weiß – Erlösung etwas ist, was man bestenfalls geschenkt bekommt. Außerdem führe Selbstverwirklichung zu Egoismus und Rücksichtslosigkeit.
Keine Frage, mit „Selbstverwirklichung“ lässt sich alles Mögliche und Unmögliche rechtfertigen. Der Mann, der Weib und Kind zurückließ, weil er sich in einem indischen Ashram verwirklichen musste (so wie es ein paar Jahre zuvor den heiligen Klaus von der Flüe von der kinderreichen Familie weg in die Schweizer Berge zog). Oder die Dämchen und Herrlein, die auf ihre angepassten, autoritätsgläubigen Eltern hinuntersahen, sich aber von diesen in schamloser Selbstverständlichkeit ihre Selbstverwirklichungs-Kapriolen finanzieren ließen. Es gibt nichts, was nicht missbraucht werden kann.
Solche Beispiele wurden von kirchlicher Seite (aber keineswegs von ihr allein) nicht nur genüsslich aufgespießt, sondern die Zerrbilder stellten angeblich das wahre Wesen der Selbstverwirklichung dar.
Im Laufe der Zeit musste die erste Verteidigungslinie der Diffamierung aufgegeben werden. Es folgte die Vereinnahmung. Vielleicht auch unter dem Eindruck der Erfolge buddhistischer Gurus bei den eigenen Schäfchen, reklamierten dann christliche Akademien, Pfarrer, Bischöfe die Selbstverwirklichung für sich. Das klingt dann etwa so: „Gerade wo wir uns verschenken und verbrauchen, gerade wo wir uns weggeben, geben wir uns in die Hände dessen, der allein uns verwirklicht, in die Hände des Vaters. Denn es gibt keine andere Selbstverwirklichung als die nach dem Bild Christi durch seinen Geist vom Vater her.“ (Bischof Klaus Hemmerle, Was heißt Selbstverwirklichung christlich? 1983. Wer sich den ganzen verschwurbelten Text antun will: http://www.klaus-hemmerle.de/index.php?option=com_content&view=article&id=689&Itemid=34 )
2012 meint der Basler Kardinal Kurt Koch (Gedanken zur christlichen Spiritualität des Gehorsams) „Gehorsam ist kein Gegensatz zu Selbstverwirklichung und Freiheit, sondern ihre Reinigung und Befreiung von der Eigenmächtigkeit. Während Selbst-Verwirklichung oft genug zur Ich-Verwirklichung verkommt und damit um sich selbst kreist, ist Gehorsam immer dialogisch und bewährt sich in personalen Beziehungen… In der Nachfolge Jesu sind auch wir Christen berufen, durch Glaubensgehorsam immer freiere Menschen zu werden und befreiende Verhältnisse zu ermöglichen.“ (http://www.gehorsam.org/Vortraege/Gehorsam-als-gereinigte-Freiheit-Gedanken-zur-christlichen-Spiritualitaet-des-Gehorsams/). Konsequent zu Ende gedacht: Wahre Selbstverwirklichung besteht in Selbstaufgabe. “Selbstverhaftung führt zu Selbstvernichtung, selbstbewusste Selbstlosigkeit zur Selbstverwirklichung“ wusste ein Pfarrer (http://www.kath.de/predigt/kuhlmann/selbst.htm)
Dies ist kein Theologen-, kein Kirchen-Bashing. Bei den Kirchenleuten lassen sich lediglich die hübschesten Zitate finden. Aber tatsächlich waren die Kirchen nicht Opinion-Leader im Kampf gegen die Selbstverwirklichung. Sie waren nicht mehr und nicht weniger als das weihrauchgeschwängerte Sprachrohr all jener, die von Selbstverleugnung, Aufopferung, Unterordnung und Gehorsam profitieren: Politik, Militär, Wirtschaft, Vorgesetzte, Eltern. Die Kirchen (und Religionen überhaupt) wurden/werden instrumentalisiert, lassen sich instrumentalisieren zur Begründung und Rechtfertigung von Unterdrückung. Sie ließen und lassen es sich gut bezahlen.
Wenn ich Wikipedia trauen darf, ist der Humanismus „die erste Philosophie der Selbstverwirklichung des Menschen“. Nach meiner Definition (es gibt gescheitere und tiefer durchdachte) hat „Selbstverwirklichung“ zu tun mit sich ernst, wichtig zu nehmen, neugierig zu sein auf sich, sich entfalten wollen. Was und wer bin ich wirklich – und was ist antrainiert, andressiert? Es ist der freundliche, wohlwollende, aber durchaus selbstkritische Blick mit dem man sich selbst anschaut. Es ist Arbeit an der eigenen Emanzipation. Oder „der Kern des Glücks – der sein zu wollen, der du bist“. Das sagte einer, der schon ziemlich lange tot ist: Erasmus von Rotterdam. Humanist und katholisch – geht doch!
Damals, in den Selbstverwirklichungs-Hochzeiten sah man den Feind viel weniger in der Religion als im kapitalistischen System: „‘Ich will doch nur dein Bestes‘ sagte der Chef – ‚Und sehen Sie, genau das will ich Ihnen nicht geben‘“ – so damals ein geflügelter Spruch.
Aber irgendwann kippte es und die feindliche Übernahme gelang. Eine klitzekleine Verschiebung, unmerklich war man von der Selbstverwirklichung weg und bei der Selbstoptimierung angekommen.
Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass ein Team-Kollege des gerade schwächelnden Radprofis Jan Ullrich, diesen mit dem Satz „Quäl dich, du Sau!“ bedachte, konnte ich es mir nicht anderes vorstellen, als dass Jan Ullrich vom Rad gestiegen wäre und ihm eine runtergehauen hätte. Weit gefehlt! Man kann noch heute T-Shirts mit diesem Satz kaufen. Sicher, das hätte einen Hauch von Selbstironie, mit so was rumzulaufen. Aber es verweist vielleicht doch auch darauf, dass nichts so wirksam ist, wie internalisierte Gebote und Verbote. Gegen Autoritäten, die „mein Bestes“ wollen, kann ich mich wehren. Der Feind ist ein Gegenüber. Aber was, wenn das Gebot in mir ist, von mir bejaht wird? Wenn ich es für das Resultat meines freien Willens, meiner Souveränität halte?
Selbstoptimierung – das bedeutet ein anderer Blick auf sich selbst. Das ist nicht wohlwollend wie bei der Selbstverwirklichung, sondern es ist ein kühler, kritischer Blick. Ich mache mich selbst zum Objekt, bin mein eigenes Werkstück, das optimiert werden soll und muss. Wo kann ich „besser“ werden, wo kann ich „mehr“ aus mir rausholen?
„Besser“ und „mehr“ sind nicht an sich negativ, das ist ja das Vertrackte. Auch bei der Selbstverwirklichung geht es darum. Es kommt darauf an, wie „besser“ und „mehr“ definiert wird. Und damit: WER definiert?
Bin das wirklich ich, die sagt, meiner Nase täte eine Begradigung gut und Fettabsaugen an den Oberschenkeln könnte auch nichts schaden? Wobei – dieser Trend zu Schönheitsoperationen, Schlankheitsidealen etc. sind eine Petitesse im Vergleich zu all den Bereichen, in der Selbstoptimierung gesagt und Leistungsoptimierung gemeint ist.
Erinnerung an ein Filmchen kurz vor der Finanzkrise: Man sah Investmentbanker lustvoll an ihren Computern Transaktion um Transaktion tätigten. Dahinter Masseurinnen, die sich um ihren verspannten Schulter-Nackenbereich kümmerten. Wären sie gefragt worden, was sie vom Abbau von Überstunden, von einem Spaziergang hielten, hätten sie nur verständnislos geschaut. Sie wollten nichts anderes, dieses Leben war Erfüllung für sie. Für vorübergehende Schwäche, Müdigkeit gibt es Hirn-Doping, Neuro-Enhancement. Quäl dich, du Sau!
Kein Sklaventreiber hätte mehr Leistung aus ihnen herauspressen können. Gut, sie sind auf die Schnauze oder den Hintern gefallen und vermutlich mussten sie die entsprechenden Körperteile ganz alleine massieren. Das macht es nicht besser. Denn inzwischen ist die Gleichung „Selbstoptimierung ist Leistungsoptimierung“ weitgehend anerkannt. Eine neue Moral wird installiert. Eine Moral, zu deren Verkündung und Durchsetzung es keine Kanzeln und keine Beichtstühle braucht.
Dabei geht es nicht nur um Leistungsoptimierung im Bereich von Arbeit und Fitness. Auch das Vergnügen lässt sich optimieren, muss optimiert werden. Aber das nur nebenbei.
In dem Artikel „Ein perfekter Tag“ (Süddeutsche Zeitung vom 26/27.8.2017) schildert Eva Wolfangel den tristen Tagesablauf eines Selbstoptimierers, der jedem Trappistenmönch zur Ehre gereichen würde. So viel Askese macht deutlich: Der Geist des Kapitalismus kann inzwischen recht gut ohne die protestantische Ethik auskommen: „…Nach dem Frühstück… ist für Schumacher schon vieles erreicht. Er hat zwischen fünf und sieben Uhr… einen Vortrag über Selbstvermessung vorbereitet, Ausdauer und Muskelaufbau trainiert und seine erste Ration Eiweiß… zu sich genommen…. 20:00. Recherche Blutwerte…Insgesamt verfolgt Schumacher circa 50 Blutwerte, die er über die Ernährung optimiert.“ Alles unter Kontrolle, kein Pulsschlag entgeht ihm, kein Anstieg des Blutdrucks, kein Schwanken der Cholesterinwerte, er dokumentiert, wann und wo er gelegen, gesessen, gelaufen ist. Kann man sich mehr Selbstentfremdung vorstellen? Selbstentfremdung im Namen der Selbstoptimierung.
Eine Firma wirbt für ein Fitness-Band, das mit einer App verbunden ist „um dir anzusehen, wie gut du geschlafen hast, deine Schlafentwicklung zu beobachten und Schlafziele zu setzen, um deine nächtliche Routine zu verbessern.“ (https://www.fitbit.com/de/app). Selbst feststellen, ob man gut oder schlecht geschlafen hat – das war gestern. (Gefunden habe ich dieses Zitat zunächst bei Andreas Bernard, Komplizen des Erkennungsdienstes – Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt 2017, S. 144. Dieses Buch möchte ich jedem und jeder ans Herz legen.)
Im aktuellen Heft der Stiftung Warentest (Dezember 2017, S.42-47) werden Fitnessarmbänder getestet. „Hochmodern, aber extrem neugierig“ seien sie. Bei der Datenschutzerklärung von Apple heißt das zum Beispiel: „Apple gibt personenbezogene Daten an Unternehmen weiter, die Dienstleistungen erbringen, wie zum Beispiel Kreditgewährung.“ Stiftung Warentest schreibt dazu: „Besitzer der Apple Watch erhalten später vielleicht einen überteuerten oder gar keinen Kredit und wissen nicht einmal warum.“ Denkbar wäre etwa, dass eine Bank aufgrund der Daten auf Disziplin oder Gesundheitszustand des potentiellen Kunden schließt.
Aber derlei Daten sind für Versicherungsunternehmen von viel größerem Interesse. Daher wundert es nicht, dass sie ihre eigenen Fitnessbänder und entsprechende Programme entwickeln. Beispiel „Generali Vitality“ (https://www.generali-vitalityerleben.de/#Schritte ) von Generali-Versicherungen. Hier werden die vom Fitness-Armband erhobenen Daten an die Gesellschaft weitergegeben. „Schritt für Schritt binden Sie immer mehr kleine und große Aktivitäten in ihren Alltag ein. Das fängt schon damit an, einfach mal die Treppe statt des Aufzugs zu nehmen. Denn bei Generali Vitality zählt wirklich jeder Schritt und bringt wertvolle Vitality Punkte. Die bestimmen später die Höhe Ihrer Belohnungen und können jederzeit über die App und online eingesehen werden. Und schon wird sprichwörtlich jeder Schritt zum Fortschritt.“
Gratis dazu gibt es derzeit „drei Tipps für entspanntes U-Bahn Fahren“ oder eine „Geführte Meditation für mehr Gelassenheit und innere Ruhe im Alltag“, an der teilzunehmen sicher auch „wertvolle Vitality-Punkte“ einbringt.
Alles ist völlig freiwillig, selbstbestimmt und Spaß macht es auch: „Generali Vitality hat sich zum Ziel gesetzt, Sie auf Ihrem Weg in ein gesünderes Leben zu begleiten und zu belohnen. Das ist uns wichtig: Ein Partner zu sein, der Sie motiviert und unterstützt. Der Sie dazu begeistert, aktiver zu leben und bewusster zu essen. Ganz ohne Druck und einfach, weil Sie es wollen. Weil Sie sich mit jedem Schritt besser fühlen“.
Motivierende Selbsterfahrungsberichte dürfen nicht fehlen. Wir sind nämlich eine Community und wollen alle dasselbe! „Wir sitzen eigentlich alle im selben Boot. Es kommt nur darauf an, wie wir von diesem Boot heruntergehen.“ Diesen Satz habe ich nicht so ganz verstanden. Meint er ‚langfristig betrachtet sind wir alle tot‘? Wohl eher nicht. Das Weitere ist dann klar: „Ich weiß, dass ihr es schaffen könnt – wenn ihr es wirklich wollt! Schritt für Schritt. Auch ich habe vor drei Jahren zum ersten Mal mein Ziel, einen Halbmarathon zu laufen, verfolgt. Es liefen Tränen, ich hatte keine Kondition und wollte aufgeben. Doch immer, wenn ich mir vor Augen hielt, wie viele andere Menschen ebenfalls diesen Kampf führten, kam meine Motivation wieder.“ (https://www.generali-vitalityerleben.de/generali-vitality-erleben/jeder-schritt-zaehlt.html)
Die Moral von der Geschicht? Hier wird sie offensichtlich. Wie üblich geht es um die Guten und die Bösen. Die Guten, die den mühseligen, schmalen Pfad zum Himmelreich gehen und die Bösen, die den bequemen, breiten Weg wählen, der ins Verderben führt. „Wenn ihr es wirklich wollt“ – es ist Willenssache, ob man körperlich fit ist und bleibt. Wer hinter dem von wem auch immer festgelegten Ziel gesundheitlicher, beruflicher, sozialer Selbstoptimierung zurückbleibt, dem fehlt es eben an Leistungswillen. Sollen die Guten das noch unterstützen? Ist es nicht recht und billig, wenn die Underperformer bei Versicherungsbeiträgen kräftig zur Kasse gebeten werden oder gar keine Verträge bekommen?
Sich gar explizit dem Ziel der Selbstoptimierung zu verweigern – darauf steht die Strafe der Exkommunikation. Wir werden es erleben. Es sei denn, wir wehren uns.
Ursula Neumann