Mein Grundgesetz, das unbekannte Wesen
Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes in diesem Jahr startete der Deutschlandfunk eine Serie „Mein Grundgesetz“. Die Hörerinnen und Hörer waren gefragt, den Grundgesetzartikel zu nennen, der ihnen persönlich besonders wichtig ist und das begründen. In den Spots, die für die Teilnahme warben hörte man auf die Reporterfrage Gekicher, verlegenes Rumgestakse. „Keine Ahnung, da frage ich meine Schwester, die ist Juristin.“ Ich schämte mich, denn ich hätte auch gestakst. „Die Würde des Menschen ist unantastbar…. Äh… und wie geht es weiter?“
In den folgenden Wochen wurde wenigstens ein kleiner Teil meiner erbärmlichen Wissenslücke geschlossen. Angesichts der Berliner Kampagne gegen die Wohnungsbaugesellschaft Vonovia und andere („Miethaie zu Fischstäbchen“) wurde ich mit den Artikeln 14 und 15 GG konfrontiert Die sind wohl den meisten nicht geläufig gewesen. Was womöglich in der Tradition jener Aussage von Minister Höcherl (CSU) steht, der sich 1963 dagegen verwahrte, dass seine Beamten den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen sollten. Was aber eigentlich gar nicht das Begehr war und insofern am Kern der Sache vorbeiging.
Auf alle Fälle scheint mir die weitgehende Unkenntnis dieser beiden Grundgesetzartikel 14 und 15 eine Erklärung für den empörten Aufschrei „Das ist Sozialismus“, mit dem jeder und jede bedacht wurde, die das E-Wort in den Mund nahmen.
Beispiel gefällig?
Auf dem Weg in die DDR 2.0
Die Diskussion um die Enteignung von Immobilienkonzernen ist nur die letzte Volte in einem seit Jahren bestehenden Trend. Lauthals den angeblichen Neoliberalismus beklagend, marschiert die Republik schon lange in Richtung einer Neuauflage des real existierenden Sozialismus. DDR 2.0 – wir kommen!
Dass der Autor Daniel Steer seinen Artikel mit “Meinungsmache“ überschreibt, soll wohl ironisch sein.
Was das Grundgesetz zu Eigentum und Enteignung sagt
Nun, ich habe nachgelesen: Dazu muss ich noch nicht mal ins Internet. In Griffweite von meinem Schreibtisch stehen zwei Ausgaben des Grundgesetzes. Eine von 1953 und eine von 1994.
Art. 14 GG
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.
Art. 15 GG
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt in Gemeineigentum oder in andere Form der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 13 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.
Klitzekleiner historischer Rückblick samt anschließender Überlegung
Dieser Text wurde auf dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee 1948 formuliert, der vom 10. bis zum 23. August tagte. Das heißt: Innerhalb von zwei Wochen wurde von den dreiunddreißig Männern, denen täglich eine halbe Flasche Wein und drei Zigarren zugestanden worden waren (https://www.sueddeutsche.de/politik/grundgesetz-verfassungskonvent-herrenchiemsee-1.4095629), eine komplette Verfassung formuliert. Und zwar eine, die wirklich was taugt! Chapeau!
Ich möchte wetten, dass es bis zur Ausformulierung des „Rindererkennungszeichnungs- und Rindfleischettikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz (RkReUAÜG)“ länger gedauert hat. Schon allein, sich einen solchen Namen auszudenken und dann auch noch drauf zu einigen, lässt Zeit ins Land gehen.
Eigentum verpflichtet – gerade auch die öffentliche Hand
„Eigentum verpflichtet – aber wen, und wozu?“, fragte jemand. Das ist ganz gewiss nicht einfach zu klären. Aber wenn man den Satz unter „Verfassungslyrik“ abheftet, wird es auch nicht einfacher.
Was mich freut: wenigstens vereinzelt setzt sich inzwischen die Erkenntnis durch, dass der Satz „Eigentum verpflichtet“ auch für den Staat gilt:
2004 verkaufte der Berliner rot-rote Senat 65 000 Wohnungen an einen US-Investor. Das würde man heute nicht mehr machen. Nicht nur in Berlin. Mir geht immer noch das Messer im Sack auf, wenn ich an jene kaum verflossenen Jahre denke, wo jeder für blöd gehalten wurde, der dagegen war, dass die Städte ihr Tafelsilber verscherbelten. Weg ist weg. Aber es war ja kürzlich volks-betriebswirtschaftlich und überhaupt so sonnenklar, dass die Privaten alles besser und billiger können. Es schien ja auch so. Uns wurde zum Beispiel vorgerechnet, wie teuer ein Krankenhaus in kommunaler Trägerschaft sei und zum Vergleich gab es die Zahlen für Kliniken in privater Trägerschaft. Das war beeindruckend und man schimpfte auf die schwerfällige Bürokratie und Beamtenmentalität und und und. Es brauchte Zeit, bis ich kapierte: Erstens muss ein kommunales Krankenhaus jede und jeden aufnehmen, kann nicht – wie es die Privaten tun – selektieren nach lukrativen und weniger attraktiven Fällen. Zweitens sind kommunale Träger an Tarife gebunden. (Eine Krankenschwester erzählte mir damals, sie habe sich bei einer privaten Krankenhausgesellschaft beworben und ein Gehaltsangebot bekommen. Irritiert habe sie gefragt: „Sie meinen netto?“ „Nein, das ist das Bruttogehalt“. Gut, das mag sich inzwischen geändert haben, ich bin ja auch nicht gänzlich dagegen, die Gesetze des Marktes wirken zu lassen.).
Achja und dann jene Mode der Private-Public-Partnership (PPP oder deutsch: ÖPP), die als Stein der Weisen zur Sanierung öffentlicher Haushalte gepriesen wurde. Es gibt sicher Beispiele, wo es Sinn machte und macht. Fällt mir nur gerade nichts ein. Vielleicht kann mir jemand helfen?
In Wikipedia lese ich zum Beispiel über die Erfahrungen im Vereinigten Königreich, das puncto PPP Maßstäbe setzte, eher Ernüchterndes:
Die weitaus meisten ÖPP-Projekte werden in Großbritannien realisiert. 2002 startete das Prestigeprojekt für die Sanierung und den Betrieb der Londoner U-Bahn. London sollte innerhalb von 30 Jahren insgesamt 45 Mrd. Euro an Mieten an die Investoren zahlen. Doch bereits 2007 gingen die Investoren in die Insolvenz. London musste die Verpflichtungen der Investoren übernehmen und unter eigener Regie von vorn beginnen.[10] Bei Schulprojekten stellten sich bauliche Mängel heraus, bei Krankenhäusern und Gefängnissen wird so an Personal gespart, dass häufig die Qualität der Versorgung, der Sicherheit und des Essens gefährdet wird. Oft verkaufen die Erstinvestoren die Verträge an andere Investoren weiter, die auf höhere Renditen setzen. Ein Ausschuss des englischen Parlaments kam 2011 zu dem Schluss, dass keine Belege für die Vorteilhaftigkeit des ÖPP-Verfahrens gefunden werden konnten. Die lange Laufzeit mache die Verträge inflexibel, die Auftragsvergabe sei teuer. Die langfristig vereinbarten Mieten seien in Wirklichkeit eine verdeckte Kreditaufnahme, die im öffentlichen Haushalt aber nicht ausgewiesen werden.[11]
Schweife ich ab? Nein, im Gegenteil, meine ich. Denn bevor dem Einzelnen, meinetwegen auch den Wohnungsbaugesellschaften der Satz „Eigentum verpflichtet“ unter die Nase gerieben wird, sind Kommunen, Länder, der Bund verpflichtet, diesem Satz Rechnung zu tragen. Vielleicht gehört es zur menschlichen Spezies, auf jeden Zug aufzuspringen, jeder Mode der Wirtschaftswissenschaftler hinterher zu hecheln, besonders wenn mit dem Versprechen auf satte Gewinne gewedelt wird. Dass dann nicht mehr auch nur die Frage gestellt wird „cui bono?“. Eigentum verpflichtet – mindestens zum Nachdenken. Im wohlverstandenen Eigeninteresse.
Überlegungen zur Frage, warum manche Enteignungen normal sind und andere Teufelszeug
Dass es in Deutschland im Übrigen seit Beginn der Bundesrepublik guter Brauch ist, zu enteignen, mindestens damit zu drohen und sein Gegenüber mit dieser Drohung weichzuklopfen, sollte nicht vergessen werden (https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/enteignung-wo-sie-laengst-ueblich-sind-a-1261854.html:
Genannt seien Abbaugebiete z.B. für den Braunkohletagebau, Flächen für Messen, Flughäfen, Straßen oder die Bahn. Ohne Frage macht das Sinn, allerdings gewiss nicht in jedem Einzelfall. Teilweise, so scheint es mir, wurde da auch Recht gebeugt. . Aber solange wir nicht persönlich betroffen sind, regen wir uns darüber überhaupt nicht auf. Ein normales Verfahren. Wohl kaum jemand würde das mit „Sozialismus“ in Verbindung bringen. Ich habe den Verdacht, hier ist ein ähnliches Muster am Werk wie bei der Bewertung vom Diebstahl eines Pfandbons durch eine Kassiererin oder dem Sozialhilfebetrug eines Harz IV-Empfängers einerseits und Steuerhinterziehung, rücksichtslose „Gewinnmaximierung“ durch einen Konzern: Es scheint was anderes zu sein, wenn es um „kleine Leute“, „Otto Normalverbraucher“ geht oder um „was Großes“. Das Unrechtsempfinden scheint nur bei Beträgen bis zu – na sagen wir mal – 1800 Euro zu greifen.
Enteignung einzelner Grundbesitzer, Bauern für einen Flughafen oder eine Autobahn – das leuchtet jedem ein. Enteignung einer Investmentfirma, eines gewinnmaximierenden Wohnbauunternehmens, damit die Menschen ihre Miete bezahlen können – das ist anscheinend „was ganz anderes“.
Wien, Wien nur Du allein sollst stets die Stadt meiner Träume sein….
Blicken wir zum Abschluss nach Wien, das zum zehnten Mal zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde. Wie immer man zu diesem Ergebnis gekommen sein mag. In Wien sind anscheinend 60% der Wohnungen in kommunaler Hand, die Mieten erschwinglich.
Als dies bei Maybrit Illner ins Feld geführt wurde, entgegneter Minister Altmaier, den ich auch schon mal mehr geschätzt habe, dort gebe es aber auch zahlreiche Skandale und man müsse Mitglied in Parteien oder Gewerkschaften sein, um an die begehrten Wohnungen zu kommen. Darauf konterte jemand ironisch: „Ach, zwei Drittel der Wiener sind Parteimitglieder? Interessant.“ (https://www.spiegel.de/kultur/tv/maybrit-illner-ueber-mieten-und-enteignungen-mit-peter-altmaier-und-boris-palmer-a-1262435.html)