Wie geht es den Betroffenen?
Eine ungeimpfte Patientin von mir, die im Pflegebereich arbeitet, ist nach wie vor voller Angst, dass sie ein Betretungsverbot bekommt, ihr gekündigt wird und was sonst noch alles. Die Angst ist geblieben, obwohl sie einen Anwalt befragt hat. An ihrer Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, änderte die Angst nichts. Eher im Gegenteil. Das erlebe ich im Augenblick häufig: Druck ist nicht das richtige Mittel, um jemanden zu überzeugen. Kann man sich eigentlich auch denken. – Und dass diese Frau nicht die einzige ist, die eher mit Reaktanz als mit „Klein-Beigeben“ reagiert, weiß ich.
Ich kann ihr selbstverständlich auch keine Garantie geben, aber ich beruhige zunächst mal: „Das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“
So schnell geht’s dann auch nicht!
Das kann ich begründen mit einer ganzen Reihe von Meldungen: Zum Beispiel: Der Bericht auf Tagesschau.de vom 30.03.2022. Dieser wird mit einem Rückblick eingeleitet
„Als sie im Dezember vergangenen Jahres beschlossen wurde, schien die einrichtungsbezogene Impfpflicht nur die Vorhut einer allgemeinen Impfpflicht zu sein. Inzwischen sind Monate ins Land gegangen, die allgemeine Impfpflicht wird immer noch diskutiert […] “
Wohl wahr! Ich bin gespannt, wie nächste Woche im Bundestag die Abstimmungen ausgehen.
Zwischenbemerkung: Wenn Seriosität zweitrangig wird
Am 31.03.2022 schrieb die Süddeutsche Zeitung: Was Experten zur Corona-Viertimpfung ab 60 Jahren sagen:
„Eine vierte Corona-Impfung schon für ab 60-Jährige: Dafür wirbt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seit einigen Tagen und beruft sich auf neue israelische Daten. Auch auf EU-Ebene dringt er dazu auf eine entsprechende gemeinsame Linie.
Welche Erfahrungen hat Israel mit dem zweiten Booster gemacht?
„Daten zu mehr als 560.000 Menschen zwischen 60 und 100 Jahren, die teils nur dreimal, teils bereits ein viertes Mal geimpft wurden, sind vor einigen Tagen als Preprint erschienen – also noch ohne die bei Studien übliche externe Begutachtung. Ergebnis: Die Sterblichkeit durch Covid-19 sei in der vierfach geimpften Gruppe um 78 Prozent verringert gewesen, verglichen mit der Gruppe der nur Geboosterten. Darauf berief sich Lauterbach.“
78% ! Das klingt sehr beeindruckend! Ist aber nur ein beeindruckendes Beispiel für „Lügen mit Statistik“. Okay, die Zahl 78 % ist an sich korrekt, aber schauen wir uns das Ganze mal näher an:
„Ein genauerer Blick in die Daten zeigt: Die Unterschiede zwischen den verglichenen zwei Gruppen aus drei- beziehungsweise vierfach Geimpften sind minimal, wie der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Reinhold Förster, sagte: ‚Beide Gruppen haben bei Omikron ein sehr geringes Sterberisiko durch Covid-19.‘ Die Angaben zur verringerten Sterblichkeit basierten daher auf relativ kleinen absoluten Zahlen. Bei den 60- bis 69-Jährigen zum Beispiel starben laut Preprint fünf der rund 111.800 vierfach Geimpften und 32 der rund 123.800 dreifach Geimpften.“
Also, die 78% verringertes Sterberisiko bedeuten in absoluten Zahlen: Statt fünf Menschen von 111 800 Menschen, die vierfach geimpft wurden, starben 32 Menschen von 123 800, die nur dreimal geimpft wurden. Das sieht doch etwas weniger beeindruckend aus. Aber das sind nicht die einzigen Fragezeichen. Zum Beispiel:
„‘Es ist ja die Frage, inwieweit die beiden Gruppen vergleichbar sind. Manche dreifach geimpfte Vorerkrankte dürften sich nicht zur Viertimpfung aufgerafft haben, was die Unterschiede bei der Sterblichkeit zum Teil erklärten könnte‘, sagte Förster. Darüber hinaus weist das Autorenteam selbst darauf hin, dass sie nur auf eine relativ kurze Zeitspanne von 40 Tagen blicken. Bei der erfassten Todesursache Covid-19 in Krankenhäusern könnten zudem auch Fälle enthalten sei, in denen ein positiver Test ein Nebenbefund ist. […]“
Zum Glück für Herrn Lauterbach lesen oder hören die meisten Menschen nur die beeindruckende Zahl „78 %“. Aber ich weiß nicht, ob das langfristig wirklich ein Glück ist oder letztlich den Beitrag zur Zerstörung des Vertrauens: so wie der Präsident der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln, meinte: „Man kann das ganze Volk eine Zeit lang täuschen, und man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen, aber man kann nicht das gesamte Volk die ganze Zeit täuschen.“
Wer sich belogen fühlt, der erinnert sich an das Sprichwort: „Wer einmal lügt dem glaubt man nicht, und wenn auch die Wahrheit spricht.“
Aktueller Stand bei der Umsetzung der Teilimpfpflicht
Zurück zur Teilimpfpflicht: Bis zum 16. März so heißt es in dem oben schon zitierten Bericht der Tagesschau, wären in Baden-Württemberg 17.052 Beschäftigte den Gesundheitsämtern gemeldet worden. Inzwischen sind es wohl so ungefähr 25 000.“ Alle Beteiligten arbeiten mit großem Engagement an der Umsetzung“, sagt der „Amtschef für Pandemiebedingungen“ im Stuttgarter Sozialministerium. Das ist schön (genauso schön wie der Titel, den der Herr trägt). Wie es bundesweit aussieht – da empfiehlt sich ein Blick in die Glaskugel:
Sachsens Gesundheitsämter zum Beispiel – so teilt das Ministerium mit – erstatten erstmals Ende April überhaupt Meldung, Nordrhein-Westfalen will schneller sein, da sollen die Zahlen Mitte April kommen.
Und wenn man die Zahlen dann tatsächlich haben sollte, dann fängt die Arbeit erst richtig an:
„Verfahren könnten Wochen dauern“
„Mitte April bis Mitte Mai würden gemeldete Ungeimpfte aufgefordert, Stellung zu beziehen, eventuell doch einen Nachweis vorzulegen. Erst im Anschluss werde ein Verfahren eingeleitet. Dieses könnte dann bis Anfang August in Kraft treten. In Bayern […] rechnet man sogar mit maximal 24 Wochen, bis das behördliche Prozedere von Aufforderungen, Nachweisen, Anhörungen und Abmahnungen durchlaufen ist.“
Ist es vermessen zu vermuten, dass wir bis dahin ganz andere Sorgen haben werden?
Der Tübinger CDU-Landrat Joachim Walter nannte die einrichtungsbezogenen Impfpflicht schon bei deren Einführung ein „Behördenbeschäftigungsprogramm“: „Wir produzieren eine Menge Arbeit, aber wir haben keinen Nutzen. Ich sehe einfach den Schutzzweck nicht.“
Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit heißt es: „Ein verlässlicher Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 durch eine sehr hohe Impfquote bei dem Personal in diesen Berufen ist besonders wichtig, denn so wird das Risiko gesenkt, dass sich die besonders gefährdeten Personengruppen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren.“
Der Landrat hält dagegen: „Untersuchungen im Kreis Tübingen jedoch hätten ergeben, dass die meisten der Corona-Ausbrüche in dortigen Pflege- und Seniorenheimen nicht durch Ungeimpfte in die Einrichtungen hineingetragen worden seien, sondern durch Menschen, ‚die zweifach geimpft oder sogar geboostert waren‘“.
Da wüsste man gern Genaueres. Zumal ich in meinem persönlichen Umfeld locker zehn Leute nennen kann, die geimpft und geboostert waren, aber in den letzten Wochen an Corona erkrankt sind. Und entsprechend ansteckend waren.
Mancher dürfte sich fragen: Wie kommt man aus der Nummer wieder raus?
Der fragliche Nutzen ist das eine, die absehbaren Folgen einer Umsetzung des Gesetzes sind das andere:
Pflegenotstand haben wir schon lange, aktuell wird er dadurch verschärft, dass viel Personal an Corona erkrankt bzw. aufgrund von Coronafällen in der Familie in Quarantäne ist. So titelte SWR aktuell am 12.02.2022: Mehr Personal in Quarantäne als Corona-Patienten auf Station.
Kritische Lage am Klinikum Ludwigshafen
„Omikron bringt das Klinikum Ludwigshafen an seine Grenzen: Fast 70 Patienten liegen auf den Corona-Stationen, 200 Mitarbeitende sind in Quarantäne.“
Wohlgemerkt: unter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Pflege und Gesundheitsbereich ist die Impfquote deutlich höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.
Interview mit Klinikdirektor Prof. Günter Layer Klinikum Ludwigshafen: „Wir stehen am Rande des Machbaren“
„[…]‘Wir haben in der Omikron-Welle kaum noch Patienten auf der Intensivstation. Aber die andere Seite der Medaille ist: Wir haben eine Vielzahl von Patienten, die auf der Corona-Normalstation sind und zusätzlich eine Vielzahl von Mitarbeitern, die wegen Corona in Quarantäne sind. Auch das kann zu einer Überlastung im Gesundheitssystem führen! Wir stehen seit zwei Wochen am Rande des Machbaren. Und das wird sich bis Ende Februar oder Mitte März noch verschärfen, sagte Layer.“
Wenn dann noch ungeimpfte MitarbeiterInnen gekündigt werden oder ein Betretungsverbot bekommen – dann viel Vergnügen!
Hintertürchen: „Gesundheitsämter können ungeimpfte Mitarbeiter zunächst befristet weiterarbeiten lassen“
Nun haben wir Anfang April, und es kann sein, dass sich die Situation beim Personal in Krankenhäusern und Pflegeheimen inzwischen entspannt. Vermutlich erst recht bei den Patientinnen und Patienten.
Trotzdem: so locker vom Hocker wird wohl kein Arbeitgeber im Gesundheitsbereich und kein Gesundheitsamt Ungeimpfte nach Hause schicken.
Das Hintertürchen findet sich schon in den Bestimmungen: „‘Gesundheitsämter können ungeimpfte Mitarbeiter zunächst befristet und unter Auflagen weiterarbeiten lassen, wenn sie unersetzbar für die Aufrechterhaltung des Betriebs sind.‘ Bevor es zu Betretungsverboten komme, würden erst einmal Bußgelder verhängt werden.“ sagt Baden-Württembergs Amtschef für Pandemiebedingungen.
Wie das konkret aussehen soll, würde mich schon interessieren. Zunächst? Unter Auflagen? Vielleicht so: Man sagt der ungeimpften Krankenschwester: „Du darfst weiterarbeiten, weil es ohne dich nicht geht, aber bevor du zur Arbeit gehst, hast du dein Bußgeld zu zahlen!“
Meine Fantasie geht mit mir durch. Polizeikontrolle – der Beamte zum LKW-Fahrer: „Steigen Sie aus, Sie haben die Lenk- und Ruhezeiten nicht eingehalten Sie gefährden damit sich und vor allem die anderen Verkehrsteilnehmer!“ Der LKW-Fahrer kramt in seiner Brieftasche und zieht die Bescheinigung seines Arbeitgebers heraus. Darin steht: Es ist zwingend notwendig, dass der Fahrer Y die Ware bis 17:00 Uhr abgeliefert hat. Auf gesetzliche Lenk- und Ruhezeiten kann dabei leider keine Rücksicht genommen werden.“ Der Polizeibeamte legt die Hand an seine Mütze und sagt: „Dann ist ja alles in Ordnung. Sie können weiter fahren!“
„Corona-Fälle nicht mehr flächendeckend erfassen“ – ein Ausweg, um die Teilimpfpflicht zu kontrollieren?
ÖGD-Verbandschef: Corona-Fälle nicht mehr flächendeckend erfassen
In seiner Not und Verzweiflung kommt der Vorsitzende des Ärzteverbands Öffentlicher Gesundheitsdienst in Bayern, Andreas Kaunzner am 31.03.2022 auf die Idee, es wäre gut, wenn die Gesundheitsämter die Coronafälle nicht mehr flächendeckend erfassen müssten. Darüber berichtete der Ärztliche Nachrichtendienst: Das haben sie ohnehin nie getan. Von daher würde sich nichts ändern. Die Datenlage – so Kaunzner selbst – sei „suboptimal“. So kann man es auch nennen.
Jetzt – so wohl seine Idee – sollte man sich auf das Wesentliche konzentrieren, als da etwa sei die Teil-Impfpflicht: „Mit der Teil-Impfpflicht im Gesundheitswesen und den Flüchtlingen aus der Ukraine kämen gleichzeitig zusätzliche Aufgaben auf die Behörden zu – ‚neben all den Aufgaben, die wir schon vor der Pandemie hatten‘“.
Eine Replik
Ich lese eine wütende, aber der Realität entsprechende Reaktion einer bayerischen Ärztin auf diesen Bericht:
„Der ÖGD war nie – zu keiner Zeit – in der Pandemie in der Lage, das Infektionsgeschehen zu erfassen, geschweige denn zum Beispiel Ausbrüche nachzuverfolgen. Und es war grundsätzlich ziemlich egal, ob wir eine hohe oder eine niedrige Inzidenz hatten – nachgekommen sind die Gesundheitsämter eigentlich nie.
[…] Jetzt will man sich also mit der Teilimpfpflicht beschäftigen – ja, klar: Das bringt halt im Notfall auch mehr Kohle in den Staatssäckel, wenn man einem Arbeitgeber im medizinischen Bereich nachweisen kann, dass er seine Meldung zu spät oder gar nicht abgesetzt hat. Ich möchte inzwischen über diesen galoppierenden Amtsschimmel in unseren Gesundheitsbehörden nur noch lachen, wenn ich nicht Angst hätte, dass mir dann das Essen aus dem Gesicht fällt.“
Es gibt in der Pädagogik einen auch hier beherzigenswerten Grundsatz: „Drohe nie mit Sanktionen, die du nicht durchsetzen kannst, es sei denn, du willst dich lächerlich machen!“