„Sozial erwünscht“ und „sozial unerwünscht“ – kleinere Verschiebungen wahrnehmbar

Ich mach grad da weiter, wo ich am 25.8. aufgehört habe: Ich reg mich immer noch über die dilettantische Befragung zum deutschen „Coronaverhalten“ auf. Wobei ich mich schon frage: Was ist handwerklicher Fehler und was ist beabsichtigt, um zu bestimmten Ergebnissen zu kommen. Dass diese kontinuierlich wiederholte Untersuchung (wie gesagt: durchgeführt von der Uni Erfurt unter Schirmherrschaft des RKI und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung u.a.) strukturelle Mängel aufweist, ist so offensichtlich, dass es keineswegs eines Psychologiestudiums bedarf (das ich habe), um dies zu erkennen.

Teil 1: Die Corona-Warn-App

Ich beschränke mich auf das, was jeder studentischen Hilfskraft hätte auffallen müssen, wenn sie die Prozentzahlen zum angeblichen Download der Corona-Warn-App gelesen hätte: 40% Downloads in der Befragung bei tatsächlichen 16% – das lässt nur eine Erklärung zu: Hier hat der Faktor „soziale Erwünschtheit“ zugeschlagen. Und zwar kräftig.

Nun sind etliche Tage ins Land gegangen. Ich gestehe: aus Blutdruckgründen habe ich mir die aktuellen Befragungsergebnisse nicht angetan. Sondern ich fragte mich, was das dröhnende Schweigen zu der fantastischen Corona-Warn-App zu bedeuten hat. Ich fragte mich bis der Artikel „Ob das wirklich was bringt?“ vom 4.9. in der Süddeutschen erschien. Weil er leider kostenpflichtig ist (https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/corona-warn-app-coronavirus-covid-19-1.5020243) referiere ich hier ein paar Zahlen:

  • Downloads aktuell 17,8 Millionen (aus anderer Quelle: das soll ca. 27% aller Smartphonebesitzer entsprechen)
  • Meldungen von Neuinfektionen an die betroffenen Infizierten über die App: 3,3%, bis 3,5% aller positiven Testergebnisse
  • Anteil der daraufhin tatsächlich über die App gewarnten Menschen, die Kontakt mit den Infizierten hatten: selbst bei sehr optimistischen Annahmen vermutlich „im niedrigen einstelligen Bereich“
  • In Bussen und Bahnen sind aufgrund metallener Oberflächen keine aussagekräftigen Abstandsmessungen möglich (Versuche fanden nur im „offenen Raum“ statt).
  • Keine digitale Anbindung aller Labore an die Warn-App („Nur wenn diese gegeben ist, bekommt man sein Testergebnis direkt auf das Smartphone und kann es dann über die App teilen.“)
  • Inzwischen erwarten nur noch 23% der Befragten (Juni: 29%), dass die App was bringt.

Aber immerhin, eins ist sicher: 7 Millionen Euro wurden an SAP für die Entwicklung gezahlt, die Telekom hat bislang 5,4 Millionen Euro in Rechnung gestellt.

Teil 2: Die bislang „Sozial Unerwünschten“ kommen (ein bisschen) zu Wort

Jagoda Marinic machte am 4.9. mit ihrem Kommentar „Das Schweigen“ https://www.sueddeutsche.de/politik/kolumne-das-schweigen-1.5019477 einen Anfang: „Es mangelt in Deutschland an sachlicher Kritik an der Corona-Politik. Dabei gäbe es viel zu beanstanden. Dafür muss man nicht Verschwörungstheoretiker werden“ Ich möchte korrigieren: Es mangelt in Deutschland nicht an sachlicher Kritik an der Corona-Politik, die gibt es schon seit Monaten. Sondern Kritik war/ist unerwünscht. Und das ist eine sehr, sehr freundliche Beschreibung. Für ihren Schlusssatz würde ich der Autorin gern einen Kuss geben. Aber ich werde mich hüten! Sie schreibt: „In normalen Zeiten würde jeder Diskurs solide Medienkritik enthalten, die auch das Schüren von Ängsten kritisiert. Doch seit Monaten riskieren nur wenige Denker fundierte Gegenpositionen, als wäre jede Kritik eine Leugnung der Gefahr. Dabei sollte man gerade jetzt Kritik an den Zuständen nicht den Irrationalen überlassen.“

Am nächsten Tag macht die Süddeutsche tatsächlich ernst und lässt TeilnehmerInnen an der Berliner Demo, die nicht mit „Extremisten gleichgesetzt werden“ wollen zu Wort kommen. (leider wieder kostenpflichtig: https://www.sueddeutsche.de/politik/berlin-demo-corona-extremisten-1.5021173?reduced=true)

Und siehe da. Es sind gar nicht so wenige: „Die Süddeutsche Zeitung hat an dem Wochenende und den Tagen danach Hunderte Zuschriften von Teilnehmern der Demonstration und Kritikern der Corona-Politik bekommen. Manche waren rüde, gar diffamierend und bedrohlich im Ton, aber dies war eindeutig die Minderheit. Viele der Leser, die sich meldeten, waren vor allem irritiert, manche richtiggehend verärgert: ‚Wie kann man nur Menschen, die den gesunden Menschenverstand noch nicht abgelegt haben, die den Diskurs suchen, die sich nicht einfach Verordnungen – von wem auch immer und hauptsächlich zur Verstärkung von Angst – unterordnen, ohne je mit ihnen gesprochen [zu] haben, so behandeln?‘, fragte eine Leserin. Ein anderer sagt „Ich habe mit denen [das heißt: den Rechten] nichts zu tun. Ich werde aber nicht zu Hause bleiben, weil auf der Demo auch mal ein Reichsbürger ist.“ Ein dritter: „Es mag 10% Idioten ge(ge)ben haben bei dieser Demonstration. Diese aber als den größten Teil zu bezeichnen ist schlicht – eine Lüge.“

Mir tut es gut zu lesen: ich bin nicht so allein, wie man mir manchmal glauben machen wollte.

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