Wie kam es eigentlich zu Schulschließungen in Deutschland?
Eigentlich wollte ich der Frage schon länger nachgehen, aufgrund welchen Artikels von 2007 Herr Drosten sich im März 2020 zum Befürworter von Schulschließungen zu wandeln. Aber man kann nicht nach jeder Muck schlagen.
Damals (ich empfehle meine ausführliche Kolumne vom März: https://ursula-neumann.de/darf-muss-man-das-glauben-wie-kam-es-zu-den-kindergarten-und-schulschliessungen/) – genauer bis zum 11.3.20 meinte Drosten (laut Spiegel) hätte er zu Schulschließungen gesagt: „das bringt nicht so viel“. Aber dann hätte er einen Artikel von 2007 über die Spanische Grippe 1918 bis 1919 in 43 amerikanischen Städten gelesen. Und Herr Drosten war bekehrt. Und die Ministerpräsidenten der Länder gleich mit. „Plötzlich mussten sich nicht mehr die rechtfertigen, die schließen wollten, sondern die, die dagegen waren“ zitierte ich damals einen, der wohl dabei war.
Ich fürchte, wir waren/wir sind nicht allzu weit weg von der Satire von Sascha Lobo vom 14.10.20 im Spiegel „Hurra, die neuen Corona-Maßnahmen sind da“ https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-hurra-die-neuen-massnahmen-sind-da-eine-satire-von-sascha-lobo-a-751484ad-6fac-4655-b116-6059f7befcd6
„In seinem Podcast erwähnt Christian Drosten in einem Nebensatz eine mittlerweile zurückgezogene Unterstufen-Hausarbeit (Bio LK) von 1987. Darin stelle Lisa (13) die laut Drosten durchaus plausible These auf, dass Türklinken und Wasserhähne zu den wichtigsten Virenübertragungsorten zählen. Das Kanzleramt verbietet noch in der Nacht Wasserhähne, Türklinken und durch einen Übermittlungsfehler zunächst auch Hausarbeiten.“
Inzwischen habe ich den Artikel von 2007 – also einer Zeit fernab der Corona-Pandemie – gefunden.: Nonpharmaceutical Interventions Implemented by US Cities During the 1918-1919 Influenza Pandemic von Howard Markel et al.
Ich sage nicht, dass das nicht bedenkenswert ist, was drin steht (soweit ich das mit meinem Schulenglisch verstehen konnte). Wobei es keineswegs nur um Schulschließungen geht, sondern ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die vor über 100 Jahren ergriffen worden ist. Und – nota bene – in dem Artikel steht auch:
“History is not a predictive science. There exist numerous well-documented and vast differences between US society and public health during the 1918 pandemic compared with the present. We acknowledge the inherent difficulties of interpreting data recorded nearly 90 years ago and contending with the gaps, omissions, and errors that may be included in the extant historical record….. When examining the 1918 pandemic, however, it is important to recognize the numerous social, cultural, and scientific differences that do exist between that period and the present. For example, the legal understanding of privacy, civil, and constitutional rights as they relate to public health and governmentally directed measures (such as mass vaccination programs) has changed markedly over the past 9 decades. In addition, public support of and trust in these measures, along with trust in the medical profession as a whole, has shifted over time. Finally, other features of the modern era that need to be considered when applying lessons from history to the present era include the increased speed and mode of travel, above all high-volume commercial aviation; instantaneous access to information via the Internet and personal computers; a baseline understanding among the general population that the etiologic agents of infectious diseases are microbial; and advances in medical technology and therapeutics that have expanded considerably the options available for dealing with a pandemic.”
Auf der sehr empfehlenswerten Seite https://infekt.ch/ ist der jüngste Artikel dem Thema „Schulschließung“ gewidmt.
Schulschliessung während Pandemie: Bildungshistorische Sicht
Oct 17, 2020 02:29 pm | Wolfgang Sahlfeld
Wolfgang Sahlfeld schreibt:
„Ich bin ein Bildungshistoriker, kein Mediziner. Ich werde hier nicht diskutieren, ob und wieweit Kinder ansteckend sind, oder ob Schulen “Infektionscluster” sein können oder nicht. Dies ist nicht mein Metier. “Nicht pharmazeutische” Massnahmen zur Eindämmung einer Epidemie haben aber immer auch soziale, nicht nur medizinische Auswirkungen. Sie bedürfen daher einer Risikoabwägung und sorgfältigen Bilanz unter ausdrücklicher Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Kriterien. Historisches Wissen kann dazu beitragen, und einen solchen Beitrag möchte ich hier leisten.
Als Bildungshistoriker war ich diesen Frühling entsetzt, mit welcher Leichtfertigkeit in fast allen Ländern der Welt (mit der löblichen Ausnahme Schwedens) [Hervorhebung U.N.] zur flächendeckenden Schliessung der Schulen gegriffen wurde, einer Massnahme, die in der Schulgeschichte der letzten 200 Jahre (!) noch nie Anwendung gefunden hatte. Die UNESCO hat das Phänomen in seiner Enormität über eine Web-Anwendung eindrücklich dokumentiert (link).
….Immer wieder wird bei der Diskussion über Covid-19 und die nicht pharmazeutischen Eindämmungsmassnahmen die Spanische Grippe bemüht. In der Tat ist diese Thematik, besonders in den Vereinigten Staaten, hervorragend studiert (www.influenzaarchive.org)…..
…..Bereits im Pandemieplan Schweiz wurde auf andere, vergleichbare Studien und Ergebnisse aus den USA verwiesen. Aus historischer Sicht ein Anhaltspunkt dafür, dass der Bundesrat im März gut beraten war, schnell und entschlossen zu handeln. Heisst dies aber, dass die Schliessung der Schulen eine sinnvolle Entscheidung war? Die Lektüre der zitierten Studie wirft Zweifel auf. In New York und Chicago gingen die Schulen nicht zu, aber die Epidemie-Bilanzen (lies: Grippetote pro 100.000 Einwohner) waren am Ende bei weitem nicht die schlechtesten. Beide Städte situieren sich, auch dank rasch getroffenener Massnahmen (Verschiebung der Arbeitszeit für die öffentlichen Angestellten zwecks U-Bahn-Entleerung, Belüftung in den grossen Bahnhöfen, Pflicht zur Benutzung von Nastüchern beim Schneuzen, Maskenpflicht), sogar im oberen Mittelfeld. In einer anderen Studie (Stern et al, 2009) haben Alexandra M. Stern, Martin S. Cetron und Howard Markel explizit Schulschliessungen untersucht. Zu den Schlussfolgerungen dieser Studie gehört, dass Schulschliessungen während der Spanischen Grippe in den USA:
- weit verbreitet waren,
- lokal sehr unterschiedlich gehandhabt wurden und
- je nach Art der Durchführung sehr unterschiedliche Ergebnisse hatten, weil die Art der Durchführung der Massnahme fast wichtiger ist als die Entscheidung zur Massnahme an sich.
Angst als Motor politischen Handelns
Warum also sind 2020 weltweit ganze Bildungssysteme praktisch über Nacht verriegelt worden? …..Eine politikwissenschaftliche Studie aus Schweden und der Schweiz (Sebhatu et al, 2020) zur Corona-Politik der OECD-Staaten ergab Erstaunliches: Die Lockdown-Entscheide korrelierten am besten mit politisch-kommunikativen Faktoren und zeigten keine Korrelation mit epidemiologischen Daten, Auslastung des Gesundheitssystems oder politischer Stabilität. Der wichtigste politisch-kommunikative Faktor, insbesondere in gut funktionierenden Demokratien, war der bereits in den Nachbarstaaten getroffene Entscheid. [Hervorhebung U.N.] Anders ausgedrückt: Während 1918 (und auch 1957) die Heterogenität lokaler Situationen zu unterschiedlichen lokalen Strategien führte, setzte sich 2020 eine Art “Corona-Mainstream” durch. Es wurde in extrem unterschiedlichen Kontexten Massnahmen ergriffen, die vom Zeitpunkt und der Art der Durchführung auffallend ähnlich waren. Aus Angst vor selbständiger Entscheidungsfindung (und Verantwortung) übten sich die meisten Regierungen in der Nachahmung. Diese Dynamik hat auch bei den Schulschliessungen eine Rolle gespielt.“
Inzwischen mehren sich die Stimmen, die z.B. davon ausgehen, dass die Schulschließungen im Frühjahr/Sommer diesen Jahres gerade bei den Kindern aus „bildungsfernen“ Familien zu Defiziten führt, die nicht mehr aufholbar sind.
Die OECD – also nicht gerade im Verdacht abseitig-exzentrische Einzelmeinungen zu vertreten, warnte bereits am 8.9.20 vor den langfristigen Folgen der Schulschließungen
„Die monatelangen Schulschließungen im ersten Halbjahr 2020 könnten für Schüler lebenslang negative Auswirkungen haben…In vielen Ländern der Erde konnten Schüler wegen des Coronavirus lange nicht zur Schule gehen
‚Die Lernverluste während der Schulschließung können für die Corona-Generation ein Minus von drei Prozent beim Lebenseinkommen bedeuten und sich bis zum Ende des Jahrhunderts auf Hunderte Milliarden Euro an Verlusten summieren‘, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher bei der Vorstellung der Studie ‚Bildung auf einen Blick 2020‘. ‚Der Lernverlust wird zu einem Verlust an Fähigkeiten führen‘, argumentiert die OECD. Fähigkeiten stünden aber in Beziehung zu der Produktivität von Menschen.
….In ihrem Bericht warnt die OECD in diesem Zusammenhang auch vor einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland bei Personen mit niedrigem Bildungsabschluss, denn diese dürften am wenigsten von Telearbeit profitieren.“
Gut, das sind langfristige Perspektiven, mit dem Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung. Da ist vieles noch ungewiss. Aber immerhin: Diese Meinung sollte man wenigstens zur Kenntnis nehmen.
Näher an der Gegenwart ist der Bericht über eine Umfrage unter KinderärztInnen: „Schulschließungen: Lehren aus der ersten Welle“ in der Süddeutschen Zeitung
„Die Infektionszahlen steigen rasant – müssen bald auch wieder Schulen schließen? Eine Umfrage unter Kinderärzten kommt jedenfalls zu einer klaren Empfehlung.
Kitas und Schulen zuzusperren dürfe nur das letzte Mittel bei der Pandemiebekämpfung sein, lautet eine Lehre der Corona-Krise. Keine Weisheit, die sich gleich jedem aufdrängte, schon gar nicht der im März vom Virus überrumpelten Politik. Es ist vielmehr die bittere Einsicht in die Folgen wochen- und monatelanger Schließungen…. Dass die harten Maßnahmen in der ersten Welle Kindern mehr schadeten, als sie der ganzen Gesellschaft nützten, hat man erst sukzessive gelernt.
Jetzt rollt die zweite Welle, und eine Umfrage unter Kinderärzten, durchgeführt im Juni und Juli im Auftrag der Krankenkasse Pronova BKK, erinnert an die erste: 80 Prozent bemängeln, dass das Kindeswohl bei den Einschränkungen sowie den Lockerungen zu wenig beachtet worden sei. 90 Prozent gehen von einer hohen Dunkelziffer an häuslicher Gewalt gegen Kinder aus. Und ebenfalls neun von zehn Ärztinnen und Ärzten sprechen sich gegen eine abermalige Schließung von Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen aus. Zwei Drittel plädieren dafür, den Betrieb mit Hygieneauflagen eingeschränkt aufrechtzuerhalten, ein Drittel lehnt sogar jegliche Einschränkung ab.
….In rund vier Monaten Homeschooling und Beschränkung sozialer Kontakte haben die Ärzte gesehen, dass sich Symptome ihrer Patienten verstärkten. 37 Prozent der Mediziner registrierten mehr körperliche Beschwerden. Neun von zehn diagnostizierten mehr psychische Beschwerden, vor allem bei den ab Sechsjährigen. Jeder Zweite meldet eine Zunahme von Verhaltensänderungen, Angststörungen, Reizbarkeit und Aggressivität…“
Ich will nur hoffen, dass diese warnenden Stimmen gehört werden.. Menschen sind eigentlich lernfähig, auch PolitikerInnen. Eigentlich.
Aber wenn ich Schiller lese… dann fürchte ich einerseits: er hat recht. Andererseits hoffe ich, dass er nicht recht behält.
„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn.
Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.
….
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.
Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“ (Demetrius)