Noch mal: „Energy flows where attention goes“ oder: unsere Aufmerksamkeit bestimmt unser Handeln. Wer lenkt unsere Aufmerksamkeit worauf?

Moria

Ich zum Beispiel möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, wer Ihre Aufmerksamkeit wohin lenkt. Gleich schreibe ich schon wieder was im Zusammenhang mit Corona. Aber eigentlich sollte ich, eigentlich müsste ich über Moria schreiben, über unsere Schande, unsere Erbärmlichkeit, unsere Schäbigkeit. Nein, nicht „eigentlich“. Ich sollte, ich müsste. „Kein Essen, keine Toiletten, kein Wasser“ schreibt gerade (13.9.20, 16 Uhr) tagesschau.de über die Notunterkünfte auf Lesbos.

Nein, ich sage nicht, dass da gar nichts Wahres dran ist, oder wenigstens: dran sein könnte an den Argumenten „Wir brauchen eine europäische Lösung“ oder „wenn wir hier nachgeben, ist das eine Aufforderung, andere Flüchtlingslager in Flammen aufgehen zu lassen“ oder „wenn wir in Deutschland initiativ werden, lehnen sich andere Länder zurück.“

Aber wie viele Bedenken würden akzeptiert werden, ohne uns wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar zu machen, wenn der eine oder die andere von uns Zeuge eines Unfalls würde, Zeuge, wenn ein Kind verprügelt, eine Frau bedrängt wird, wennjemandem gerade der Geldbeutel aus der Tasche gestohlen wird und und und…. ? Da gibt es doch durchaus auch viele Argumente, nichts zu tun… sich wegzuducken, mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Jetzt: Kein Aufschrei gegen Seehofer, kein Aufschrei bei oder gegen die Grünen in Österreich, die bei Kanzler Kurz in der Regierung sitzen.  Polen, Tschechien, Ungarn… will irgendwer diese Länder noch ernst nehmen, wenn es um NOT geht?  Ich verbessere mich: Wer will den Regierungen dieser Länder etwas anderes angedeihen lassen als Verachtung. Denn ich bin überzeugt: die Zahl der redlich und human denkenden und handelnden Menschen ist in diesen Ländern genauso hoch ist wie bei uns.

„Hunderttausende sagen: Einer allein kann ja doch nichts machen!“

Ich bitte darum: lassen Sie uns über diesen Satz nachdenken.

Mein Corona-Eurozentrismus

Ja… trotzdem wende ich mich wieder “Corona“ zu. Wobei mir bei diesem Thema auch sehr, sehr bewusst ist, dass ich verdammt eurozentrisch schreibe. Das hat seinen Grund nicht darin, dass ich nichts anderes lese oder dass ich Südamerika, Afrika, Indien ausblenden will. Sondern ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, mir die ergänzenden Informationen zusammenzusuchen, um das solide zu schreiben, was mir durch den Kopf geht. Das ist vielleicht eine ganz blöde Ausrede. Den Vorwurf muss ich mir machen (lassen).

Nachrichtenmeldungen lenken Aufmerksamkeit

Aber jetzt möchte ich (trotzdem) Ihre Aufmerksamkeit auf folgenden Umstand lenken:

In den Nachrichten (mindestens in denen, die ich höre) kommt zuverlässig jeden Tag die Meldung über Corona-Neuinfizierte und Todesfälle „Menschen die mit oder an Corona gestorben sind“ (immerhin: die Wortwahl ist seit April differenzierter geworden – da waren alles „Coronatote“). Die Zahl der neuen Todesfälle beträgt seit mehreren Wochen täglich unter 10. Meistens sogar unter 5.

Solche Meldung tagein-tagaus: das macht was mit uns. Ich zum Beispiel warte schon auf die entsprechende Meldung. Wenn sie nicht unter den ersten fünf erscheint, dann atme ich auf, weil ich weiß: Die Zahlen sind niedrig.

 

Zwischenfrage: Wenn am Wochenende die gemeldeten Corona-Zahlen zu niedrig sind, wieso steigen sie dann am Dienstag nicht entsprechend an?

Kann mir mal jemand eine Erklärung für die Erklärung geben,  die Zahlen gingen am Wochenende deswegen deutlich runter, weil die Gesundheitsämter Samstag/Sonntag die Fälle nicht zuverlässig melden würden. Das leuchtet zunächst ein. Aber nur, wenn die am Dienstag gemeldeten Zahlen deutlich höher wären als die von Mittwoch bis Samstag. Irgendwo müssen die nicht gemeldeten Fälle vom Wochenende ja verbucht werden. Aber merkwürdigerweise gibt es lediglich Sonntag und Montag Ausreißer nach unten, aber an Dienstagen (bislang) keinen Ausreißer nach oben.

 

Bitte um etwas Fantasie: Wie ginge es Ihnen, wenn Sie jeden Tag in den Nachrichten hörten….

Ich habe mir die Mühe gemacht, einige andere Zahlen zu Todesursachen bzw. Gewalttaten  in Deutschland zusammenzusuchen.

Stellen Sie sich bitte vor, was (mit Ihnen, aber nicht nur mit Ihnen) passieren würde, wenn Tag für Tag folgende Meldungen in den Nachrichten kämen:

(Die Zahl der jährlichen Opfer/ Toten wurde von mir zuverlässig durch 365 geteilt; die Quellen habe ich der Übersichtlichkeit am Ende aufgelistet.)  

  • Das Bundesverkehrsministerium meldet: gestern kamen 8 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, darunter ein Mensch bei einem Fahrradunfall; es gab 1052 Verletzte, von ihnen waren 76 Kinder.1
  • Das Bundesgesundheitsministerium meldet: auch gestern starben wieder 202 Menschen aufgrund von Alkoholmissbrauch. Das Bundeskriminalamt meldet 128 Gewalttaten unter Alkoholeinfluss. Vier Menschen starben gestern an illegalen Drogen.2
  • Polizeilich erfasst wurden gestern 43 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, 11 Fälle von Gewalt an Kindern, sowie 32 Fälle von Kinderpornografie.3
  • Das Gesundheitsministerium teilt mit: Gestern starben 331 Menschen an den Folgen ihres Tabakkonsums. Aufgrund der gesetzlichen Maßnahmen zum Nichtraucherschutz gab es gestern keinen Todesfall infolge von Passivrauchen. Insgesamt ist die Zahl der Opfer des Passivrauchens von 400 im Jahr 1994 auf ca. 100 jährlich derzeit zurückgegangen.4
  • 260 Menschen sind nach Mitteilung des Gesundheitsministeriums auch gestern an den Folgen einer Blutvergiftung gestorben. Damit liegt die Rate dieser Todesfälle in Deutschland weiterhin ca. 10 -20% über der Rate anderer Industrienationen wie Großbritannien, USA und Australien.5
  • Das Umweltministerium meldet gestern 328 vorzeitige Todesfälle aufgrund von Feinstaubbelastung, 36 Personen starben vorzeitig durch Verkehrsabgase.6

Lassen Sie die Zahlen auf sich wirken und beantworten Sie für sich die Frage: Wie würden Sie reagieren, wenn Sie diese Meldungen täglich hören würden? Was würden Sie tun? Welche Maßnahmen würden Sie unterstützen und fordern? Was würden Sie selbst tun und was von „der Politik“ verlangen?

Diese Zahlen sind nämlich nicht weniger wahr als die Zahlen über Corona-Neuinfektionen und „Todesfälle mit und an Corona“.

Ich bin mal mit dem RKI einig: Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozioökonomischem Status

Zum guten Schluss ein längeres Zitat, wo ich mich mal wieder ganz einig mit dem RKI weiß. Der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der Gesundheits-, Krankheits- und Lebenserwartung.7

In dem fast 500 Seiten langen Bericht (er stammt zwar von 2015, als der Gesundheitsminister Gröhe hieß. Aber das ändert nichts an der Richtigkeit) „GESUNDHEITSBERICHTERSTATTUNG DES BUNDESGEMEINSAM GETRAGEN VON RKI UND DESTATIS Gesundheit in Deutschland) steht auf Seite 150:

Für eine Vielzahl chronischer Krankheiten gilt: Je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher ist das Erkrankungsrisiko. Zu diesen Krankheiten zählen Herzinfarkt und Schlaganfall, bestimmte Krebsarten wie Lungen- und Magenkrebs, Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus sowie degenerative Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems [17, 18]. Umgekehrt gibt es nur wenige Krankheiten, die bei Personen mit hohem sozioökonomischen Status häufiger auftreten. Dies gilt insbesondere für allergische Erkrankungen [19, 20]. Darüber hinaus deuten internationale Studien darauf hin, dass Frauen mit hohem Sozialstatus häufiger an Brustkrebs erkranken [21].Nicht nur die Mehrzahl körperlicher Erkrankun-gen, auch psychische Störungen sind bei Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status stärker verbrei-tet [22, 23]. Die Daten des Zusatzmoduls »Psychische Gesundheit« (DEGS1-MH), das im Rahmen der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) durchgeführt wurde, belegen, dass die 12-Monats-Prävalenz irgendeiner psychischen Störung bei Frauen und Männern aus der niedrigen Statusgruppe mit 43,3% bzw.32,3% deutlich höher liegt als bei jenen aus der hohen Statusgruppe mit 27,4% bzw. 17,7% [23]. Unterschiede zuungunsten der niedrigen Statusgruppe zeichnen sich auch mit Blick auf das Depressionsrisiko ab [22, 24]. 16,0% der Frauen mit einem niedrigen sozioöko-nomischen Status zeigen eine depressive Symptomatik. während die Frauen der mittleren und hohen Status-gruppe mit 9,9% bzw. 5,0% seltener Symptome einer Depression aufweisen. Von den Männern mit niedri-gem Sozialstatus sind 11,1% betroffen im Vergleich zu 5,3% der Männer mit mittlerem und 4,3% der Männer mit hohem Status. Die altersdifferenzierte Betrachtung zeigt, dass die statusspezifischen Unterschiede in der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen besonders deut-lich ausgeprägt sind (Abb. 3.1.2). Dies gilt auch für die Gruppe der 45- bis 64-jährigen Frauen. Das höhere Krankheitsrisiko und die häufigeren Gesundheitsprobleme spiegeln sich letztlich in einer erhöhten vorzeitigen Sterblichkeit sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen wider [25]. Auf Basis der Daten des SOEP wurden für den Zeitraum 1995 bis 2005 fünf Einkommensgruppen im Hinblick auf die Lebenserwartung miteinander verglichen: Es zeigt sich, dass die Unterschiede in der mittleren Lebenserwartung bei Geburt zwischen der höchsten und der niedrigsten Ein-kommensgruppe 8,4 Jahre bei Frauen und 10,8 Jahre bei Männern betragen [26]. Neuere Analysen auf Basis des SOEP und Ergebnisse der Deutschen Rentenversi-cherung machen deutlich, dass auch bei der ferneren Lebenserwartung ab einem Alter von 40 bzw. 65Jahren erhebliche Unterschiede zwischen den Einkommens-gruppen bestehen [27–30].“8

Und was folgt daraus?

Vermutlich nichts.  


1.https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/getoetete-alter.html;jsessionid=968D57FDAD987DFAFA30F9214119A6E5.internet8711

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/08/PD20_N049_46241.html

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Publikationen/Downloads-Verkehrsunfaelle/unfaelle-kinder-5462405197004.pdf?__blob=publicationFile

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/verletzte-alter.html;jsessionid=968D57FDAD987DFAFA30F9214119A6E5.internet8711

 

2. . https://www.aktionswoche-alkohol.de/presse/fakten-mythen/zahlen-und-fakten/ 

Quellen:
– Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Jahrbuch Sucht 2019
– BKA Bundeskriminalamt Wiesbaden 2018, www.bka.de
– Effertz 2015

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111284/Mehr-Drogentote-in-Deutschland-in-vergangenem-Jahr

    .https://de.statista.com/statistik/daten/studie/38415/umfrage/sexueller-missbrauch-von-kindern-seit-1999/ ; https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/missbrauchszahlen-1752038

4. https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/bewusst-leben/rauchen-zahlen-und-fakten.html; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/77328/Lungenkrebs-Weniger-Todesfaelle-durch-Passivrauchen

5,.https://www.tagesschau.de/inland/blutvergiftung-who-sepsis-101.html

6..https://www.tagesspiegel.de/wissen/luftverschmutzung-studie-mehr-todesfaelle-durch-feinstaub-als-bisher-angenommen/23878634.html; https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/studie-zu-luftverschmutzung-pro-jahr-sterben-13-000-deutsche-vorzeitig-durch-verkehrsabgase/24046760.html   

7. Deckt sich mit dem etwas umständlich zu öffnenden Artikel https://ursula-neumann.de/praevention-eigenverantwortung/; https://ursula-neumann.de/vorerkrankung-armut/; und schließlich im letzten Teil von https://ursula-neumann.de/gelenkte-aufmerksamkeit-die-konstruierte-realitaet/ über die höhere Lebenserwartung in Süddeutschland im Vergleich zu Norddeutschland.

8. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitszustand-Relevantes-Verhalten/Publikationen/Downloads-Gesundheitszustand/gesundheit-in-deutschland-publikation.pdf?__blob=publicationFile

 

 

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