Anlass zum Nachdenken über dieses Thema war die Rede Stefan Heyms vor dem Schriftstellerverband der DDR vor genau 40 Jahren. Auf Betreiben der „SED und deren führenden Politikbürokraten“ (Joachim Walther) sollte er und acht weitere Schriftsteller aus dem Verband ausgeschlossen werden. Nachdem ich einen Auszug aus der Rede gehört hatte, besorgte ich mir das 1991 erschienene „Protokoll eines Tribunals“ (Hg. Joachim Walther, Wolf Biermann, Erich Loest, Christa Wolf u.a.) mit den Tonbandabschriften der Sitzung, an deren Ende der Beschluss stand, den Antrag auf Ausschluss der neun kritischen Schriftsteller an die SED-Führung weiterzureichen. Wobei das trotz der (sehr euphemistisch ausgedrückt) straffen Regieführung der Veranstalter und deren Auftraggeber keineswegs glatt über die Bühne ging, wie das Protokoll belegt. Es gab wohl etwa sechzig Gegenstimmen, die aber nicht gezählt wurden:
„Wer dafür ist… (Zurufe, Unruhe im Saal) Was? (Zuruf aus dem Präsidium: Darauf mußt du antworten!) Also, da die eindeutige Mehrheit, das kann man bestätigen… (Unruhe im Saal) Hier geht es nicht, bei Mitgliederversammlungen haben wir keine Wahlversammlung! Hier gilt die einfache Mehrheit! (Weitere Zurufe und Proteste) Aber das ist doch so deutlich zu sehen… (Unruhe, Tumult) Ich erkläre noch einmal wir sind auf einer Mitgliederversammlung, nicht auf einer Wahlversammlung! Man hat’s gesehen! Ganz deutlich! (Weitere Einwände) Wir wollen jetzt die Gepflogenheiten der Demokratie…. (Zurufe: man muß die Gegenstimmen zählen und die Enthaltungen auch) Ich würde nicht so genau feststellen, wer dagegen stimmt oder sich der Stimme enthält, das sind die Gepflogenheiten einer Mitgliederversammlung, und ich bitte doch diese demokratischen Regeln… streng zu beachten! (Weitere Proteste) [Protokoll eines Tribunals, a.a.O. S. 91.f., Versammlungsleiter war Günter Görlich)
Der doch massive Widerstand unter den einschüchternden Umständen dieser Versammlung ist repektabel und relativiert die überwiegend dümmlichen, opportunistischen, anbiedernden Statements und jene, aus denen gläubige Linientreue spricht.
Nun zu Stefan Heyms Rede:
„…. Sie alle wissen, daß viele von ihnen vor dieser Versammlung zusammengerufen und unter Disziplin genommen wurden. Wir alle wissen, was für den einzelnen von seinem Votum abhängt: Westreisen und Stipendien, Auflagen und Aufführungen, Verfilmungen und Preie aller Art. Ich werde es keinem übelnehmen, wenn er, in Erwägung solcher Vorteile, für meinen und den anderer Kollegen Ausschluß stimmt…. (Zwischenrufe: Unglaublich!), aber ich gebe Ihnen auch zu bedenken: Außer denen, die dann das Abzählen besorgen werden, sieht noch einer zu, wie Sie heute abstimmen – die Öffentlichkeit. Man mag fragen: Was ist das schon, der Rausschmiß einiger Leute aus einer Organisation? Aber es gibt Momente in der Geschichte, wo auch etwas an sich Geringfügiges wichtig sein kann. Und es wäre ja möglich, daß eines Tages Ihre Söhne und Töchter sich bei Ihnen erkundigen werden, und nicht nur Ihre Söhne und Töchter, auch die Bürger der Republik: Wie habt ihr euch damals verhalten, Meister des Wortes, als es darauf ankam, sich zählen zu lassen?“
Auch auf Gewissensfragen gibt es keine eindeutigen Antworten
Eine Gewissensfrage – und die Antwort darauf ist keineswegs so eindeutig, wie man es sich wünschen würde. Zunächst ist die Abwägung legitim zwischen Fürsorge für sich selbst und Parteinahme für die, die am Pranger stehen, denen Unrecht geschieht. Das ist noch recht einfach, wenn ich nur für mich allein einzustehen habe und ich allein die Folgen meiner Entscheidung tragen muss. Was aber, wenn meine Entscheidung auch Folgen für andere, zum Beispiel für meine Familie, meine Kinder hat? Dass ich Nachteile habe, ich gemieden werde – das ist das eine. Aber was kann, darf ich „meinen Leuten“ zumuten? Man muss da nicht an Extreme denken, nicht an das „Siebte Kreuz“ von Anna Seghers, nicht an die „Sippenhaft“ aller Diktaturen, die nur zu gut wissen, dass Blut dicker ist als Wasser. Sondern: wieviel wiegt, wenn meine Kinder schief angeschaut werden, wenn ich vom Mainstream abweiche? Was hat es für Folgen für meine Abteilung, wenn klar ist: Da sitzt irgendwo ein Whistleblower oder auch nur ein Bedenkenträger!?
Die alte Geschichte des „Elchtests“ von 1997 bei dem im Test einer Zeitschrift das Modell der A-Klasse von Mercedes kippte, ist ein historisches Beispiel: Auf die Frage, wie es sein könnte, das zwei hergelaufene Journalisten den Konstruktionsfehler ratzfatz entdeckten während die Herde von hochqualifizierten Daimler-Benz-Ingenieuren ahnungslos war, stellte sich heraus: Der Schwachpunkt war durchaus bekannt. Aber der Druck von der Geschäftsleitung, schnell zur Produktionsreife zu kommen, war so groß, dass alle die Klappe hielten, sei es aus persönlichen Gründen, sei es um die eigene Abteilung nicht als Bremse dastehen zu lassen. Ja sicher, im Nachhinein betrachtet: ein „Bedenkenträger“ hätte dem Unternehmen beträchtliche finanzielle und Image-Kosten erspart. Aber ob am Ende eine Bonus-Zahlung steht oder folgenreiche Verachtung – wer weiß es im Voraus?
Die Firmenphilosophie und/oder die Philosophie der Mitarbeiter*innen haben sich seither nicht geändert. Denn beim Diesel-Skandal ist es noch wahrscheinlicher als beim Elchtest, dass einer Menge Leute klar war: irgendwann kommt das raus.
Vor der feigen oder mutigen Entscheidung steht anderes
Beim Nachdenken merkte ich, ich muss tiefer graben. Es geht nicht einfach nur um Feigheit oder Mut:
Eine junge Frau erzählte mir, wie sie im Studienbetrieb eine kritische Anmerkung zum Vortrag eines Kollegen machte. Eines gleichrangigen Kollegen, wohlgemerkt. Nicht eines Vorgesetzten, einer Autorität. Dessen Antwort war ein energisches „Da haben Sie etwas nicht richtig verstanden.“ Die junge Frau berichtete, wie sie verstummte. Objektiv betrachtet drohte keinerlei Gefahr. Sie hätte locker fragen können: „Wie kommen Sie denn darauf?“ Aber unwillkürlich bekam die Position des anderen ein größeres Gewicht, es erschien plausibler, dass er recht hat.
Mich erinnerte das an eine Situation vor zwei, drei Jahren, an die ich noch heute voller Scham denke:
Ein älterer Verwandter, der allein lebte, lag wegen eines Oberschenkelhalsbruchs im Krankenhaus. Als ich ihn besuchte, wurde ich ins Arztzimmer gerufen. Die Ärztin – halb so alt wie ich – eröffnete mir: Der Patient würde heute nachhause entlassen. Außer einem diffusen Gefühl „Hm. Das wird aber schwierig“, stellte sich bei mir nichts ein. Ich äußerte keine Einwände. Kurz danach kam eine andere Verwandte, ich berichtete ihr gottergeben vom Ratschluss des Krankenhauses. Sie – man würde sie „eine einfache Frau aus dem Volke“ nennen – fackelte nicht lange, zitierte die Ärztin herbei und sagte: „Wie stellen Sie sich denn das vor? Der lebt alleine, der kann ja jetzt noch nicht mal allein auf die Toilette!“ Ende vom Lied: Mein Verwandter blieb zunächst im Krankenhaus und ging anschließend in Reha – und ich schämte mich in Grund und Boden.
Unser beider Reaktionen haben zunächst nichts mit Feigheit oder Mut zu tun. Sondern da geht es um etwas im Vorfeld, etwas, was den Boden für mutige oder feige Entscheidungen bereitet. Angesichts meines die Autorität des Krankenhauses verkörpernden Gegenübers vergaß ich, was ich durchaus wusste: das geht so nicht., Dagegen blieb die andere Verwandte unbeeindruckt, sie blieb bei bewahrte ihre Fähigkeit zur Realitätsprüfung.
Das geht in Richtung dessen, was man in der Psychoanalyse „Identifikation mit dem Aggressor“ nennt. Aber das trifft es nicht ganz, denn weit und breit ist kein Aggressor im eigentlichen Sinn zu sehen. Aber bei vielen Menschen löst das entsprechende Auftreten einer Person oder die unwillkürlich getroffene Einschätzung, diese sei ranghöher, ein Reflex aus, der reicht von „ich will, dass mein Gegenüber mich mag“ oder, wie eine Patientin formulierte „ich will es richtig machen“. Wobei die Definitionsmacht, was „richtig“ ist beim Gegenüber liegt. Es gilt die Vermutung: „wahrscheinlich ist der andere gescheiter als ich“.
Solche Mechanismen sind tief verankert. Dass sie beim einen so und beim andern anders sind – dafür kann man nichts. Aber nicht über sie zu reflektieren, sich keine Rechenschaft darüber abzulegen – dafür kann man was. Keine Frage: Man kann das auch bleiben lassen. Einfach sagen: So bin ich eben. Aber all das hat Folgen für den Umgang mit Situationen, in denen man feige oder mutig sein kann. Ich kann nur korrigieren, was mir bewusst ist.
Fürsorge für sich selbst – etwas weiter gedacht
Die „Fürsorge für sich selbst“ endet nicht bei den Fragen „was passiert mir, wenn ich mich gegen Mehrheiten, gegen Mächtige stelle, wenn ich mich gegen Brutalität und Ungerechtigkeit zur Wehr setze, womit muss ich rechnen, wenn ich mich mit Unterdrückten solidarisiere?“ Sondern Fürsorge für sich selbst beinhaltet auch eine Antwort auf die Frage: Wie möchte ich vor mir selbst dastehen? Es sind eben nicht nur „die Söhne und Töchter“ die fragen könnten „wie habt ihr euch damals verhalten?“ Sondern die Frage könnte ja auch aus dem eigenen Inneren kommen. Könnte. Aber damit wird man fertig. „‘Das habe ich getan‘ sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das Gedächtnis nach“, wusste schon Nietzsche. Das ist nur eine von vielen Varianten, wie die Selbstachtung mithilfe einer gezielten Wahrnehmungsstörung aufrechterhalten werden kann.
Montaigne nennt Feigheit „die Mutter der Grausamkeit“. Das stimmt in vielfacher Hinsicht: Die Ingenieure, die die mangelnde Stabilität der neu entwickelten A-Klasse übergingen, nahmen in Kauf, dass Menschen bei dadurch verursachten Unfällen zu Schaden kommen. Diejenigen, die Betrügereien beim Dieselskandal verschwiegen, trugen zur Zerstörung unserer Welt bei. Hat der einzelne dann nur eine zu vernachlässigende 1-Promille-Verantwortung?
Solche Überlegungen lassen sich leicht wegschieben, weil die Geschädigten kein Gesicht haben. Noch mehr: weil es nur potentiell Geschädigte gibt. Aber wie grausam ist die Feigheit, bei der ich dem Gemobbten, der Diskriminierten, den Verhöhnten Aug in Aug gegenüberstehe?
„…Sah ihn und ging vorüber.“ Die Güterabwägung
„… sah ihn und ging vorüber.“ Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter taucht zweimal dieser Satz auf. Der Priester und der Levit lassen das halbtote Opfer eines Raubüberfalls liegen. Sie hatten womöglich gute Argumente: Die Gefahr durch Berührung mit einem Toten gegen kultische Reinheitsgebote zu verstoßen und dadurch kultunfähig zu werden, war gegeben. Unterlassene Hilfeleistung aufgrund von Güterabwägung? Der Samariter – für den diese Bestimmungen genauso galt, wägt anders: „er sah ihn und hatte Mitleid und ging zu ihm hin…“
Ob das Opfer Jude, Samariter, Römer, Grieche war – das wird überhaupt nicht erwähnt. Weil das keine Rolle spielt. Sondern nur: Da ist einer unter die Räuber gefallen.
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ (Martin Niemöller)
Tja, so ist das eben. Ich erinnere mich an einen Mann in gehobener Position, der in der ersten Dekade der 2000er Jahre den Job hatte, Leute zu entlassen, outzusourcen. Lean production und so. Es war ein anständiger Mann und er machte seinen Job anständig. Es schwante ihm zwar: wenn er seine Aufgabe zur Zufriedenheit der Geschäftsleitung erledigt haben würde, wäre er selbst dran. So kam es auch.
Ich finde keineswegs, dass „Güterabwägung“ nicht legitim wäre. Es war wohl eine „Güterabwägung“ die der Priester und der Levit treffen mussten (falls sie nicht einfach herzlos waren). Aber – der Begriff „Güterabwägung“ enthält es ja implizit: jede Wahl, die ich treffe, hat ihren Preis. Wenn Solidarität mit einem ungerecht behandelten Kollegen, das Aufdecken einer Schweinerei auf der einen Seite steht und auf der anderen das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren (und die Kinder sind im Studium und die Hypothek fürs Haus ist noch nicht abbezahlt), dann kann, muss vielleicht sogar die Entscheidung gegen „den Nächsten“ fallen.
Allerdings: wie oft wird das Risiko aufgeplustert, um eine Rechtfertigung für die eigene Bequemlichkeit zu haben? Ich glaube: ziemlich oft. Wer gesteht sich ein: Ich war feige!? Der Preis der Scham über die eigene Feigheit, den man für diese Entscheidung gegen „das Opfer“, oder gegen „das, was recht ist“ zahlen müsste, lässt sich wunderbar minimieren: „Was hätte ich denn tun sollen?“ reden die sich raus und selbst ein, und malen die Gefahr als Riese und sich selbst als Zwerg. Aber der Preis dieser Lösung: Ich werde tatsächlich zum Zwerg. Und weil ich mich selbst belüge, verkümmert etwas, was „eigentlich“ meinen Wert als Mensch ausmacht. Ich bestreite nicht, dass man auch in der „Kümmerform“ ausgesprochen komfortabel leben kann. Wir sehen es täglich.
Feigheit und Mut und die Konstruktion der Wirklichkeit
Die Konstruktion der Wirklichkeit – sie liegt auch bei mir. Nicht nur, gewiss nicht. Aber wie ich mich selbst definiere, hat Auswirkungen. Nicht nur einmal, nicht nur zehn Mal, sondern immer. Solange, bis ich die Selbstdefinition ändere.
In der Wendezeit gab es eine Karikatur mit der Unterschrift: „Das Kaninchen vor der Schlange“. Abgebildet war ein riesiges Kaninchen vor dem sich eine Regenwurmschlange ängstlich kringelte. Die Verhältnisse zwischen dem Volk (das damals noch „wir ind das Volk“ und nicht „wir sind ein Volk“ skandierte, un d den Machthabern hatte sich umgekehrt.
Damals gab es tausendfach, hunderttausendfach eine neue „Selbstdefinition“ mit entsprechenden Folgen:
„Das Schlimmste war nicht an unsern Tyrannen
Die rotgetünchte Tyrannei
Das Schlimmste waren dabei wir selber
All unsre Feigheit und Kriecherei.
Und dass wir auch selber das Übel waren
Grad das ist die Chance und unser Glück
Ihr seht: Es geht! wir hoI‘n uns nun auch selber
Die ewigen Menschenrechte zurück.
(Wolf Biermann)
Und jetzt? Und hier? Und heute?