Diesen Satz fand ich in „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker“ (von und mit Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen). Foerster fährt fort „Das heißt, wenn man sich weigert, in einem Kollektiv mitzuspielen und sich zu unterwerfen, dann hat jede Macht der Erde verloren“ (a.a.O. S.139)
Das ist mir jetzt etwas zu einfach, denn es suggeriert eine Freiheit, die es so nicht gibt. „Ein Mensch ist frei und nicht das Opfer eines Kollektivs oder irgendeiner äußerlichen Gewalt… Meiner Auffassung nach bleibt auch derjenige, der etwas nachbetet und sich unterwirft, ein Individuum, das sich entschieden hat, etwas nachzubeten und sich zu unterwerfen,“ meint von Foerster (ebda)
Schön wär’s, wenn das so einfach, so rational wäre. Kann sein, dass von Foerster es pointiert formuliert und differenzierter gemeint hat. Trotzdem.
Ganz klar: Die entgegengesetzte Behauptung, wir seien unfrei, ausgeliefert, könnten nichts machen, ist nicht minder simplifizierend. Ich hatte mal ein Plakat auf dem stand: „Hunderttausende sagen: einer allein kann ja doch nichts machen.“ Was dann als Rechtfertigung genommen wird, es gar nicht erst zu versuchen.
Was ist freiwillige Unterwerfung? Wo geschieht sie ohne Angst und Druck? Wird es nicht bereits da schwierig, wo man vor sich selbst tatsächliche oder eingebildete „gute Gründe“ für die Unterwerfung anführen kann? Sicher, wenn es dabei nur darum ginge, die „guten Gründe“ für die Unterwerfung und die „guten Gründe“ gegen Unterwerfung abzuwägen, dann ließe sich das auch noch als freie, „freiwillig“ Entscheidung verstehen.
In meinem Psychologiestudium las ich von einem damals schon recht betagten Experiment: Eine Versuchsperson kam in einen Kreis anderer Personen, von denen sie fälschlich annahm, dass diese genauso Versuchspersonen waren wie sie selbst. Tatsächlich aber waren diese Mitspieler bei folgendem Experiment: Auf dem Tisch lagen etliche Stäbe, die alle gleich lang waren. Die angebliche Aufgabe: Man sollte sich einigen, ob diese Stäbe von gleicher oder verschiedener Länge waren. Die vermeintlichen Versuchspersonen vertraten unisono die Meinung, es handle sich um unterschiedlich lange Stäbe. Die jeweils einzig echte Versuchsperson widersprach. Zunächst entschieden, dann verunsichert. Das Experiment wurde mehrfach wiederholt. Am Ende schlossen sich fast alle (echten) Versuchspersonen der Mehrheitsmeinung an.
Kein Druck war im Spiel, es drohte keine Repressalie. Entscheidend für die „Meinungsänderung“ war die an sich ja nicht verkehrte Einstellung ‚Wenn fünf Leute es anders sehen als ich, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich mich irre‘. Daneben war das Grundbedürfnis zum „Kollektiv“ zu gehören, nicht ausgeschlossen zu sein ein Motiv.
Es wäre interessant, ob diejenigen, die bei diesem Experiment ihrer abweichenden Meinung treu blieben, eine größere innere Unabhängigkeit, mehr Ichstärke besaßen oder zum Kreis derjenigen gehörten, die die Wahrheit gepachtet haben, belehrungsresistent und nicht sonderlich beziehungsfähig sind.
Will sagen: es gibt durchaus Vernunftgründe, sich „dem Kollektiv“ zu unterwerfen, nämlich die Einsicht, dass ich fehlbar bin. Auch den Wunsch nach der Zugehörigkeit zum „Kollektiv“, das einem den Preis des Verzichts auf eine eigene Überzeugung zahlen lässt, sollte man nicht a priori diffamieren: Dazugehören ist nicht nur etwas, was in uns sehr tief verankert, sondern – zunächst mal – auch gesund ist. Wie eben das Gegenteil nicht automatisch mit Autonomie gleichzusetzen ist, sondern ziemlich neurotisch sein kann.
… Ach ja, Jetzt sollte man halt wissen wann was der Fall ist. Aber es gibt kein Lehrbuch mit Entscheidungskriterien. Wobei es ja auch schon wieder eine „Unterwerfung“ wäre, dieses zum Maßstab zu nehmen, statt ‚selbst‘ zu entscheiden.
Aber es gibt noch mehr, was die ‚Freiheit der Unterwerfung‘ in Frage stellt: Was einem mit den Wölfen heulen lässt, mindestens aber nicht gegen sie, sind häufig Ängste, von denen wir im Voraus nie ganz sicher wissen, ob es realistische Einschätzung handelt oder um Kopfkino. Was jedoch ziemlich sicher ist, dass diese Ängste auf die eine oder andere Weise von den Machthabern nicht ungern gesehen werden, weil sie ihnen das Machthaben erleichtern. ‚Wenn ich zum Betriebsrat gehe, kann ich mir gleich die Kündigung abholen.‘ –‚Wenn ich mich über eine Lehrkraft beschwere, kriegt mein Kind erst recht keinen Fuß mehr auf den Boden.‘ Aber auch: ‚wenn ich der Freundin sage, dass mir ihre Besuche zu viel werde, wird sie mir die Freundschaft kündigen.‘ Oder: Wenn ich dem Nachbarn sage, er soll nicht immer das Radio so laut stellen, wird er mich nur dumm anmachen.‘ Es gibt unendlich viele Variationen zum Thema: Wenn ich mich wehre, wird alles nur schlimmer.
Das wird als unumstößliche Wahrheit vorgetragen. In diesen (alltäglichen) Therapiesituationen frage ich nach, aufgrund welcher Erfahrungen man diese Sicherheit gewonnen hat. In aller Regel kommt dann recht wenig. Vielmehr: Es finden sich kaum, oft gar keine Situationen, in denen man es durch Widerstand schlimmer gemacht hat Aber es finden sich viele Situationen, in denen man sich von vornherein geschlagen gegeben hat. Aus der Erfahrung der vorauseilenden Unterwerfung wird der Schluss gezogen, alles andere wäre enorm gefährlich.
Dieser Mechanismus dient sicher auch dem Schutz des eigenen Selbstbildes. Denn wie würde es sich anfühlen, wenn man sich eingestehen müsste: Eigentlich wäre es ein Klacks gewesen, sich zu wehren. Aber daneben gilt: Je weniger jemand die Erfahrung gemacht hat, dass es gar nicht so gefährlich ist, für das einzutreten, was man für richtig hält, umso größer wird die Angst davor. Das ist derselbe Mechanismus wie etwa die Angst selber Auto zu fahren. Je länger vermieden wird, sich ans Steuer zu setzen, umso geringer ist die Chance, dass es überhaupt noch geschieht. Die Fantasien über die Risiken steigen ins Unermessliche, weil es keine Korrekturmöglichkeit durch die reale Erfahrung gibt.
Selbst in Situationen, in denen ‚der gesunde Menschenverstand‘ davon ausgeht, es könnte gefährlich werden, sich nicht zu unterwerfen, kann die Realität ganz anders aussehen:
In einem Interview wurde Fritz Bauer, dem Initiator der Auschwitz-Prozesse entgegengehalten, SS-Leute, Beamte die zum Dienst bei der Gestapo, Wachleute, die zum Dienst im KZ abkommandiert wurden, hätten sich im „Befehlsnotstand“ befunden. Sie hätten aus Angst vor schweren Sanktionen gegen sich und gegen ihre Familie gehorcht.
Fritz Bauer antwortet emotional, fast wütend: Man habe Tausende einschlägiger Akten genau zu diesem Punkt durchgesehen. Und in keinem – er betont energisch: in keinem einzigen Fall hätte es Sanktionen gegeben, wenn jemand in einer derartigen Situation um seine Versetzung gebeten hätte. Das Einzige, was solche Menschen hätten in Kauf nehmen müssen, wäre gewesen, dass sie als „Schwächlinge“ beschimpft worden wären.
(Vgl. auch Bundeszentralstelle für politische Bildung)
Sicher, dass das so läuft, dafür gibt es keine Garantie.
Ich weiß auch nicht, wie ich mich auf den Philippinen, im Sudan, in Saudiarabien, in Brasilien, in Russland, Nordkorea, China verhalten würde. Wie es mit meinem Widerstand gegen Unterwerfung aussähe, wenn 60 Kameras auf 500 Meter Straße jeden meiner Schritte kontrollieren würden. Ganz bestimmt würde ich nicht wie der Spiegelreporter in dem Video diese 500 Meter entlangschlendern und mit dem Finger auf die Instrumente der Überwachung zeigen. Aber der ist auch in der komfortablen Lage, dass ihm nicht mehr passieren kann als der Verlust der Akkreditierung in China.
Nur, hier geht es nicht um den „Großen Widerstand“, sondern um den kleinen (um auf Heribert Prantls Buch anzuspielen), um jenen Widerstand und um jene Verweigerung der Unterwerfung, die hierzulande nun wirklich nicht den Kopf kosten.
Nein, ich spreche jetzt nicht davon, wie sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker, durch Kolegen und Vorgesetzte gedeckt, unter den Tisch gekehrt wurde. Sondern ich spreche von meiner eigenen Profession, etwa von jenem Leiter eines Heidelberger Instituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, dessen sexuelle Übergriffe so vielen dort bekannt waren – und nichts, nichts geschah. Man ist ja kein Kameradenschwein.
Ich spreche vom Massenmörder Niels Högel, dessen Taten nur durch das Schweigen der Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzten möglich war: „Wenn die Verantwortlichen am Klinikum Oldenburg sich korrekt verhalten hätten, wäre dieser und alle folgenden Morde zu verhindern gewesen. Denn schon in Oldenburg raunten die Kollegen über den ‚Sensenmann‘ Högel, nannten ihn ‚Niels und sein schwarzer Schatten‘. Ein Chefarzt wollte den Pfleger nicht mehr auf seiner Station haben und sagte, der bringe ihm die Patienten um. Der Leiter der Station führte sogar eine Liste, wie häufig Menschen starben, wenn ein Pfleger im Dienst war. Bei einigen waren es drei Tote, bei manchen fünf, bei Högel waren es 18. Aber statt die Polizei zu informieren, wurde Högel weggelobt… Und es gab die anderen. Birgit Stöver sei so eine, sagt der Richter. Sie wurde kleingemacht… Die Krankenschwester wollte mit ihrem Verdacht zur Polizei gehen und wurde von den Kollegen deswegen verspottet.“ („Über das Töten“ Süddeutsche Zeitung vom 7.6.2019, S. 3)
In Fällen wie diesen geht es nicht um Widerstand gegen eine mächtige Autorität. Sondern hier findet die Unterwerfung unter das „Kollektiv“ statt. Warum? Um ja nicht in Gefahr zu geraten, schief angeschaut zu werden, um nicht als Denunziant verurteilt zu werden, schlimmstenfalls exkommuniziert zu werden. Diesen Preis will man nicht zahlen. Wobei anscheinend die Frage gar nicht gestellt wird: Was sind das denn für Leute, die mich dann schief anschauen würden, was ist denn das für eine Gemeinschaft aus der ich ausgeschlossen würde? Ist das wirklich das Kollektiv, zu dem ich gehören will? Was macht das mit meiner Selbstachtung?
Aber… unsere Möglichkeiten des Sich-Schönredens, des Verleugnens sind exorbitant. Man kann auch mit dieser seelischen Verkrüppelung erstaunlich gut leben.
Nein, ich habe einen Punkt nicht vergessen: Die Verherrlichung der Unterwerfung, der Lobpreis des Gehorsams, die Diffamierung Widerstandsrechts.
In einem Erziehungsratgeber aus meiner Jugend stand der Satz „Der Wille des Kindes muss gebrochen werden“. Diese Überzeugung war ubiquitär, keineswegs nur in kirchlichen Kreisen. Dort war/ist Gehorsam Tugend und Ungehorsam Sünde, der Kadavergehorsam des heiligen Ignatius von Loyola wird/ wurde als vorbildlich gepriesen. Die hannoversche evangelisch-lutherische Landeskirche rechtfertigte 1946 mit Berufung auf die hl. Schrift und Luther, dass man nicht gegen den Nationalsozialismus rebelliert habe: Der nationalsozialistische Staat sei Obrigkeit im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre gewesen und somit von der Kirche zu respektieren. Zwar sei er unchristlich gewesen, aber „(t)rotzdem haben wir ihr in äußeren Dingen den schuldigen Gehorsam erwiesen… Wir… glauben uns darin mit der Heiligen Schrift und der Lehre Martin Luthers in Einklang zu befinden.“ (zitiert nach Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, , München, 52018, S. 145)
Am 10. Juli 1962 fand im Landtag von Rheinland-Pfalz eine Sitzung statt, in der es darum ging, zweitausend Exemplare eines Referats von Fritz Bauer zum Thema Rechtsradikalismus an Gymnasien und Berufsschulen zu verteilen.Der Kultusminister Dr. Eduard Orth (CDU) begründete die Ablehnung und zitiert aus dr Broschüre Fritz Bauers: „Für den Zug zum Autoritären in der deutschen Geschichte sind eine ganze Reihe von Erziehungsmächten verantwortlich… Die Losung war: Sei untertn der Obrigkeit, und die Praxis bestand aus einer Verbindung von Thron und Altar. Philosophie, Ethik und Rechtslehre sind gleichfalls im Kielwasser des Autoritären geschwommen….Ws war das Erziehungsprodukt in Deutschland? Ein unfreier, selbstunsicherer, geduckter Mensch… Unsicher geworden, suchte er nach einem autoritären Halt. Um überhaupt leben zu können, benötigte er wie jemand, der des Laufens entwöhnt ist, Stütze und Stab. Wegweiser mußten da sein , die Väter, die das schwächliche Kind an der Hand nahmen und ihm Entcheidungen ersparten.“ Eher Rhetorisch fragt der Kultusminister: „Wollen wir… die vorliegende Schrift und die darin enthaltenen Fehlurteile an junge Menschen herantragen?“ Aber nein, natürlich nicht! Dem von Fritrz Bauer skizzierten partnerschaftlichen Erziehungsstil setzt er entgegen: „Ich muß Ihnen… in der Tat versichern, daß dieses hier gezeichnete Erziehungsideal keineswegs den Vorstellungen entspricht, die ich vom Wert der Familie und von der Würde familiärer Bindungen und Beziehungen habe. So sehr ich ich der Meinung bin, daß das Verhältnis zwischen Kund und Vater von Liebe, Vertrauen, von freundlichem.. Verstehen getragen sein soll, so sehr bin ich aber der Ansicht, daß auf Grund der Stellung des Vaters innerhalb der Familie von Gleichberechtigung und vor allem von dem Recht, über den Vater zu lachen, nicht die Rede sein kann… Erziehung – auch wenn Sie darüber den Kopf schütteln, meine Damen, darüber muß ich mich besonders wundern – braucht Autorität… Bei aller Notwendigkeit eines verständnsvollen Erziehens… bleibt der Vater Oberhaupt dr Familie…“
Die Verteilung der Broschüre an Schulen wurde untersagt. (Fritz Bauer, die Wurzeln des faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, , Hamburg 2016, 87 -93)
Ja, es stimmt: Unterwerfung ist die Ursache, Macht ist die Konsequenz.
Und umgekehrt: Macht ist die Ursache und Unterwerfung die Konsequenz.
… Womit ich eigentlich dem von Heinz von Foerster vertretenen Prinzip der Zirkularität Rechnung getragen zu haben glaube.