Nach meiner Ansprache folgte „der Schwan“ aus dem „Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saens, gespielt von Anne Schmidt-Heinrich am Cello und Thomas Strauß am Flügel. Auch zu diesem Stück lässt sich eine Verbindung zu meiner Mutter herstellen. Als meine Schwester und ich klein waren hat meine Mutter uns eine Kassette mit diesem Stück geschenkt. Die dahinter stehende Geschichte wurde von einem freundlichen Herrn vorgestellt. Dieser Herr, das habe ich erst vor kurzem realisiert, war Karlheinz Böhm. Der Text, den er rezitierte, stammte von Loriot. Dass meine Mutter Loriot großartig fand, muss ich sicher nicht erwähnen und es ist auch kein Alleinstellungsmerkmal: Wir alle verehren ihn doch.
„‚Da capo!“, applaudiert ein gespränkeltes Kaninchen [nachdem der Schwan seine Darbietung beendet hatte,] – aber das Fest ist zu Ende (…). Hüpfend und tirilierend entschwinden die Tiere hinter Bäumen und Bergen – woher sie gekommen waren…“
Gunnar Schedel:
Humanismus ist immer konkret –
Erinnerungen an Ursula Neumann
Ich bin Johannes und Ursula Neumann seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder begegnet, als ihr Verleger und als langjähriger Redakteur einer Zeitschrift, in der beide von Zeit zu Zeit publiziert haben, vor allem aber als Aktivist der säkularen Szene, in der beide wie ich aktiv waren.
Ich habe inzwischen erfahren, dass Ursula Neumann mich als Redner auf ihrer Abschiedsfeier ausgewählt hat aufgrund eines Artikels, den ich im August über das selbstbestimmte Sterben verfasst habe. Ich möchte aber nicht ihren Tod an den Anfang stellen, sondern meine Erinnerung an Ursula Neumann als engagierte Humanistin mit einer anderen Situation beginnen, einem Moment der Anerkennung, einem Hinweis auf ein erfolgreiches Leben, wenn Sie so wollen.
Ich bin wie gesagt seit über 30 Jahren in der säkularen Szene aktiv. Und als Verleger dieses politisch-weltanschaulichen Spektrums habe ich in dieser Zeit viele Reden gehört, politische Ansprachen, Laudationes, Dankesreden. Oft habe ich für die MIZ oder für den Humanistischen Pressedienst darüber berichtet und deshalb habe ich in der Regel konzentriert zugehört. An viele Reden kann ich mich noch grob erinnern, könnte die Grundaussage oder zumindest das Thema wiedergeben. Aber nur ganz selten erinnere ich mich an einzelne Aussagen oder Formulierungen. Um ehrlich zu sein, trifft das eigentlich nur auf zwei Reden zu. Und eine davon hat Ursula Neumann gehalten.
Ich habe, als ich meine kleine Ansprache vorbereitet habe, die Stelle nochmal nachgeschlagen, um mich zu vergewissern, aber ich hatte die Formulierung tatsächlich noch wörtlich im Gedächtnis:
„Absolute Priorität hat die Versorgung der Opfer…“
Damit Sie verstehen können, warum ich diesen Satz im humanistischen Sinne für so bedeutsam halte, muss ich etwas über den Anlass dieser Rede sagen.
Ursula Neumann hielt sie als Dankesrede für die Verleihung des Erwin-Fischer-Preises, den sie zusammen mit ihrem Mann Johannes vom IBKA, dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten, erhalten hatte. Das war im Oktober 2000.
Etwa anderthalb Jahre zuvor war ein Prozess zu Ende gegangen, den das Ehepaar Neumann und ihr Sohn Joachim gegen die Pflicht konfessionsloser Kinder, den Ethikunterricht zu besuchen, geführt hatten. Obwohl viele der vorgebrachten Argumente von den Gerichten in ihrem sachlichen Gehalt anerkannt wurden, ging das Verfahren durch alle Instanzen verloren.
Dabei war es nicht so, dass die Anstrengungen wirkungslos verpufft wären. Die Ausbildung von Lehrkräften für das Fach Ethik wurde grundlegend verändert, und dass heute, ein knappes Vierteljahrhundert nach der gerichtlichen Auseinandersetzung, der Ethikunterricht sich nur noch wenig von den anderen Schulfächern unterscheidet, nicht mehr vergleichbar ist mit dem „Nachsitzen für Konfessionslose“ der 1980er Jahre, ist nicht zuletzt auf die Neumanns zurückzuführen. Aber als das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde gegen die bisherigen Urteile als „unzulässig“ zurückwies und damit der Prozess endgültig verloren war, fühlte sich das erstmal wie eine schlimme – Ursula Neumann schreibt: „recht bedrohliche“ – Niederlage an.
In Deutschland zeichnen sich Humanisten durch kluge Analysen aus. Mehr als einmal habe ich es erlebt, dass unmittelbar nach einer juristischen Niederlage (und davon gab es für die säkulare Szene in den letzten 30 Jahren einige) überlegt wurde, was genau falsch gelaufen war und wie ein neuer Anlauf unternommen werden könnte.
Ursula Neumann wählt in dem Moment, als eine jahrelange kräftezehrende Anstrengung einen erfolglosen Abschluss findet, eine andere Perspektive. Sie sieht nicht den Kampf für Gerechtigkeit, für ein besseres Leben, den Kampf für die Menschen (der natürlich weitergehen muss). Sie sieht die Menschen, die diesen Kampf führen.
Wer nun meint, darin zeige sich halt die sorgende Rolle der Frau, sagt damit mehr über sein Frauenbild aus als über Ursula Neumann. Nach meiner Einschätzung zeigt sich darin ihr Verständnis von Humanismus. Denn „Humanismus“ ist immer konkret. Humanismus muss seine Wirkung entfalten in konkreten Lebenssituationen. Der Humanismus stellt „den Menschen“ in den Mittelpunkt aller Überlegungen. Ursula Neumann hat die säkulare Szene immer wieder daran erinnert, dass es im Alltag nicht „der Mensch“ ist, der Humanismus Realität werden lässt. Es sind konkrete Menschen mit ihren jeweils eigenen Möglichkeiten, die aus ihren jeweils eigenen Lebensverhältnissen heraus handeln.
Was es für die politische Praxis heißt, sich selbst in dieser Weise zu reflektieren, sich selbst nicht als idealtypischen Humanisten (oder idealtypische Humanistin) zu sehen, lässt Ursula Neumanns Text „Frust in der Flüchtlingsarbeit“ erkennen, der in ihrem Buch Tätiger Humanismus abgedruckt ist.
Dieser Blick, der den großen gesellschaftlichen Entwurf, der die Veränderung von Verhältnissen, die Menschen erniedrigen, rückbindet an die konkreten Menschen, die diese Veränderungen erkämpfen müssen, ist in der säkularen Szene selten. Diese Perspektive machte Ursula Neumann zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit im Feld des weltlichen Humanismus.
Dass jemand, der so selbstreflektiert ist wie Ursula Neumann, für Selbstbestimmung eintritt, sollte niemanden wundern. Davon zeugt beispielsweise ihr „Brief an den Herrn Bundesverfassungsgericht“ aus dem Jahr 1993. Damals hatte das höchste deutsche Gericht die Fristenlösung gekippt. Und Ursula Neumann warf dem „Herrn Bundesverfassungsgericht“ daraufhin in einem zornigen Text vor, dass er es liebe zu kontrollieren und Angst davor habe, Kontrolle aufzugeben. In arroganter Weise habe er auf Bevormundung und Überwachung gesetzt.
Ich weiß nicht, ob „Herr Bundesverfassungsgericht“ von Ursula Neumanns Brief beeindruckt war und ihre Argumente überzeugend fand. In Sachen Schwangerschaftsabbruch und Selbstbestimmung hat sich ja in Deutschland immer noch nichts substantiell verändert.
In einem anderen Lebensbereich hingegen könnte der Eindruck entstehen, dass der Appell, Kontrolle aufzugeben, Früchte getragen hat.
Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht nämlich festgestellt, dass die aus kirchennahen Kreisen angestoßene Änderung des Strafgesetzbuchparagraphen 217 nichtig ist, weil sie gegen Grundrechte verstößt. Das weitestgehende Verbot von Suizidhilfe (das die Neufassung des § 217 StGB de facto bedeutete) bewertete Karlsruhe als nicht hinzunehmende Einschränkung. Dem einzelnen Menschen bleibe kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit über sein Lebensende selbst zu entscheiden.
In den Leitsätzen des Urteils findet sich eine Passage, die Ursula Neumanns Vorstellung von Selbstbestimmung möglicherweise ziemlich nahe gekommen ist:
„Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Die Freiheit, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen, umfasse auch die Freiheit, sich dabei von Dritten helfen zu lassen.
Anfang September ist Ursula Neumann diesen Weg gegangen. Selbstbestimmt. Und es ist zumindest eine schöne Vorstellung von Gerechtigkeit und vom Erfolg politischen Engagements, dass sie selbst dazu beigetragen hat, dass diese Möglichkeit heute besteht. Mit einem zornigen Brief, den sie knapp 30 Jahre zuvor nach Karlsruhe geschleudert hat.
Und so gesehen – liebe Verwandte und Freunde, geehrte Gäste – zeigt sich dann auch in ihrem Sterben ein erfolgreiches Leben.