Juni 2017
Seit eineinhalb Jahren machen wir zu dritt einen Sprachkurs für Flüchtlingsfrauen. Im Moment dümpelt er mit wenigen Teilnehmerinnen vor sich hin. Ziemlich viele Ehrenamtliche haben schon vor Monaten frustriert das Handtuch geworfen: Ärger, Enttäuschung über Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, auch das Gefühl, ausgenützt zu werden… Gutmensch trifft Flüchtling. Ich erinnere mich an die Zeit der Flüchtlingswelle im Jugoslawienkrieg. Jemand aus unserer damaligen Gruppe meinte, die Arbeit mit den Asylsuchenden bringe einem manchmal in Gefahr, ausländerfeindlich zu werden. Was hilft? Zunächst mal eine Entidealisierung der Flüchtlinge: Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre Nachbarn müssten wegen Bürgerkrieg, Hunger, Terror fliehen. Da wäre die hilfsbereite Familie Meier, die allerdings entsetzlich fromm ist. Dann der rechthaberische Herr Müller, mit dem man aber schon auskommen kann, die intrigante Tratsche Krause, die zwanghaften Hubers, bei denen kein Gräschen am falschen Ort wachsen darf. Schließlich wären noch die Hansmanns aus der Villa, Ellenbogenmenschen, die sich für was Besseres halten und die dubiosen Frankes, bei denen man nicht so genau weiß, wovon sie leben. Glauben Sie, dass Sie und Ihre Nachbarn am Ende der Flucht geläutert und mit Heiligenschein versehen wären? Nein! Sie alle wären genauso hilfsbereit, rechthaberisch, intrigant, rücksichtslos, faul wie zuvor. Opfer sein ist kein charakterliches Qualitätsmerkmal. Aber angesichts der Bilder des entsetzlichen Leids liegt die Psycho-Logik nahe: Opfer sind gut. Wer nur den leidenden, traumatisierten Menschen sieht, idealisiert. Damit ist Enttäuschung vorprogrammiert. Noch mal angenommen, Sie müssten aus Deutschland fliehen: Meinen Sie, das gelänge Ihnen unter Beachtung der Straßenverkehrsordnung? Was glauben Sie, wie weit Sie kämen ohne sich vorzudrängeln, zu tricksen und zu bestechen, ohne zu lügen und zu klauen? Nicht bis an die Schweizer Grenze! Der Flüchtling, der zuhause ein ehrliches Leben lebte, hat die Lektion lernen müssen: bloße Anständigkeit führt ins Verderben, Misstrauen ist überlebensnotwendig. Was ist daran erstaunlich, wenn er uns zu instrumentalisieren, ein bisschen zu behumsen sucht? „Frau Neumann, bitte schreib Amt, Mann kann nicht kommen. Soooolche Schmerzen.“ – „Anwalt sagen: Du zahlen 1000 Euro, ich helfen. Bitte, Frau Neumann. Biiiitttte!“ Sowas tut man nicht? In der Situation, in der die Flüchtlinge sind, täte ich es. Was hilft? Freundlicher Argwohn! Ein verständnisvolles, fast augenzwinkerndes „Ich kenne meine Pappenheimer“. Flüchtlingsarbeit ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Aber nicht in dem Sinn: Ich gebe meinen gesammelten Idealismus und dafür erwarte ich, dass meine bürgerlich-mitteleuropäischen Erwartungen hinsichtlich Dankbarkeit und Wohlverhalten erfüllt werden, sonst bin ich beleidigt. Sondern: Ich gebe ein begrenztes Engagement, begrenzte Zeit und erwarte, dass die andere Seite sich an Absprachen hält und ihren Teil beiträgt. Ja, ich weiß um die unterschiedliche kulturelle Mentalität – allein was das klitzekleine Thema Pünktlichkeit betrifft. Von anderem ganz zu schweigen: Eine Frau, die in Afghanistan maximal zwei Jahre zur Schule ging, deren Funktion aufs Kinderkriegen reduziert war, wie sollte die umgehend kapieren, dass sie lesen lernen, Vokabeln pauken muss? Ist mir egal! Nein, ist mir natürlich nicht egal. Aber wer hier in Deutschland ist, hat sich an deutsche Regeln zu halten. So, wie ich in Afghanistan ein Kopftuch trage. Keine Erwartungen an Flüchtlinge zu haben, alles zu verstehen, alles zu akzeptieren, führt zu nichts außer zu Frust bei den Helfern. Auf Selbstüberforderung und Selbstüberschätzung folgt Zynismus. Wenn man dann auf dem harten Boden der Realität landet, wird das zu Unrecht den unwilligen, unfähigen Flüchtlingen angelastet. Keine Gegenleistung zu fordern, schadet nicht minder den Flüchtlingen. Statt der Erfahrung „ich kann was“, „ich kann selbst was ändern“, macht es sie klein, hält sie im Baby-Status. Und wir ärgern uns dann über diese depressive Anspruchshaltung, den Aberglauben an ein Grundrecht auf bedingungsloses Gefüttertwerden. Ein Aberglaube, der gut vorbereitet wurde von grotesken Gerüchten über das deutsche Schlaraffenland. Zurück zum Anfang: Sie und Ihre Nachbarn sind nach langer Flucht in einem wenig komfortablen aber sicheren Flüchtlingsheim angekommen. Zwar wissen Sie nicht, wie es weitergeht, haben keine Ahnung, ob Ihre Eltern noch leben, sind unsicher, ob Sie einen Aufenthaltsstatus bekommen. Aber immerhin: Die permanente Lebensgefahr besteht nicht mehr. Sie werden nicht mehr vergewaltigt, neben Ihnen sterben keine Menschen, es gibt keine Polizisten, Soldaten, die bestochen werden müssen. … Und dann erklärt Ihnen Frau Neumann die Uhr. Oder die Wochentage. Oder wo das Rathaus ist… Und Sie sind voll von entsetzlichen Bildern, die sich eingebrannt haben. Ihr Schädel ist am Zerplatzen. Frau Neumann sagt: „Singen Sie ein Lied aus Ihrer Heimat!“ Ihnen fällt keins ein. Sie wollen nicht, dass Ihnen eins einfällt. Frau Neumann besteht darauf und singt spürbar falsch ein Lied von irgendwelchen Entchen. Dann fällt Ihnen doch ein Lied von damals ein. Sie singen. Tränen laufen über ihre Wangen. Es sieht so aus, als würde Frau Neumann auch weinen. Als Sie aufgehört haben, klatschen die Frauen aus Nigeria, aus dem Irak, aus Syrien, aus Somalia… Aber Sie sind noch lange nicht angekommen!