Gelenkte Aufmerksamkeit: Die konstruierte Realität.

Könnte einem ja egal sein, wie konstruiert die eigene Realität ist oder wer sie konstruiert. Aber nochmal:  Energy flows, wer attention goes. Es mag ja nicht so bedeutend sein, ob die eigene Realitätswahrnehmung sehr eingeschränkt ist (ich bin da anderer Meinung), aber es hat eben bedeutsame Auswirkungen: Unsere Energie fließt dahin, worauf unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird.

Als ich vor etlichen Tagen zum Baggersee fuhr, schaltete ich das Radio ein und landete mitten in einem Vortrag:  

„…29. August 2005. Der Hurrikan Katrina peitschte über die US-amerikanische Metropole New Orleans. Dann brachen die Deiche der Stadt und 80 Prozent der Häuser wurden überschwemmt. Es war die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA. Die Medien berichteten von Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Autodiebstählen und Plünderungen. Von Schüssen auf Rettungshubschrauber. Und nicht zuletzt von zahlreichen Morden. Die Gouverneurin des US-Bundesstaates Louisiana brachte auf den Punkt, was die Menschen weltweit schockierte:

„Am meisten erzürnt mich, dass solche Katastrophen oft die schlechtesten Seiten der Menschen offenbaren.“

Inbegriff des unmenschlichen Schreckens war der Superdome, in dem 30.000 Menschen Unterkunft gefunden hatten. Ein fassungsloser Bürgermeister schilderte, dass dort Hunderte von bewaffneten Gangmitgliedern vergewaltigten und mordeten. Die Bewohner seien in einem beinahe animalischen Zustand. Der Polizeichef der Stadt sprach sogar von vergewaltigten Babys. Berichte bezifferten die Zahl der dortigen Toten auf rund 200.

Um dem Grauen in der Stadt Herr zu werden, befahl der Bürgermeister 1.500 Polizisten, sofort ihre Hilfs- und Rettungsaktionen abzubrechen und gegen Plünderer, Vergewaltiger und Mörder vorzugehen. Die Ereignisse schienen das Menschenbild des britischen Philosophen Thomas Hobbes zu bestätigen. Ohne Kontrolle des Staates wären die Menschen nur noch wilde, brutale und mitleidlose Tiere….“

Wie furchtbar, dachte ich. Aber dann ging der Vortrag weiter:  

„Als die Journalisten verschwunden und das Hochwasser abgepumpt worden war, kam langsam die Wahrheit ans Licht. Der Polizeichef erklärte nun, die allgemeine Reaktion der Einwohner von New Orleans stimme überhaupt nicht mit dem von den Medien beschriebenen Bild von allgemeinem Chaos und Gewalt überein. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des US-Repräsentantenhauses bestätigte dies:

„Viele der Medienberichte, insbesondere über zügellose Gewalt im Superdome, scheinen vollkommen unbegründet gewesen zu sein.“

Tatsächlich waren im Superdome nicht 200, sondern nur sechs Tote zu beklagen. Vier starben an natürlichen Ursachen, einer an einer Überdosis und ein Mensch hatte Suizid begangen.

Ein Hauptgrund für die vollkommen verzerrte Darstellung dürfte das Vorurteil über das Wesen des Menschen sein. Zu eindeutig schienen Informationen und Bilder zu belegen, dass im Sündenpfuhl von New Orleans Sodom und Gomorrha herrschten und sich hier die wahre Natur des Menschen zeigte. Genauso wie es die Gouverneurin eloquent beklagt hatte.

Tragischerweise kostete dies viele Menschenleben, denn die Sicherheitskräfte waren ausdrücklich beauftragt worden, die Rettung von Menschen einzustellen, um sich auf die Beherrschung einer völlig aufgebauschten Kriminalität zu konzentrieren. Die einseitige mediale Präsentation führte aber auch dazu, dass in New Orleans etwas ganz Erstaunliches übersehen wurde. Tatsächlich waren ein Großteil der Menschen nicht mitleidlose Egoisten, die über Leichen gingen, sondern spontane Altruisten. So kamen Wissenschaftler der Katastrophenforschungsstelle der Universität Delaware später zu dem Schluss, dass das spontane Verhalten überwiegend prosozial geprägt war.“

Andreas von Westphalen, Altruismus Der Mensch in Zeiten der Katastrophe (https://www.deutschlandfunk.de/altruismus-der-mensch-in-zeiten-der-katastrophe.1184.de.html?dram:article_id=480449)  

Die Fehleinschätzung der „Natur des Menschen“ – sei es hinsichtlich seines sozialen Verhaltens, sei es hinsichtlich seiner Vernunft – interessiert mich in dem Zusammenhang weniger als die Wirkung dessen, was medial vermittelt wird.

Zwei Mini-Beispiele wie Realität medial konstruiert wird:

 Am 227.20 titelt der Spiegel:

Kinderarzt warnt vor zweiter Corona-Welle im Herbst

„Unser System wird zusammenbrechen“

Der Kinderarzt Klaus Rodens rechnet damit, dass die Covid-19-Fälle demnächst wieder stark ansteigen werden. Was schlägt er vor?

Ein Interview von Heike Le Ker • (https://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/kinderarzt-ueber-corona-tests-unter-muettern-und-vaetern-erleben-wir-viel-angst-mitunter-sogar-panik-a-0ad06234-c726-47ad-aff4-807db7335afa)

Was erwarten Sie, in einem solchen Interview zu lesen? Selbstverständlich: Der Fachmann sagt, dass Corona-Fälle im Herbst stark ansteigen und dies zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen wird.

Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass der Kinderarzt mit keinem – ich wiederhole: keinem einzigen Wort davon redet, dann werden Sie mir das vermutlich nicht glauben. Kann ich verstehen. Ist aber trotzdem so. Der Kinderarzt sagte vielmehr:

„SPIEGEL: Sie schreiben, die Abstrich-Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI) seien für Kinder realitätsfern. Warum?

Rodens: Seit Mai gelten laut RKI als Testkriterien unter anderem „akute respiratorische Symptome jeder Schwere“. Das fängt also beim Schnupfen an und geht über Husten und Fieber bis zur Lungenentzündung. Für Erwachsene sind die Kriterien sinnvoll, weil sie selten Atemwegsinfekte haben. Aber Klein- und Kindergartenkinder machen pro Winterhalbjahr im Schnitt acht bis zehn solcher Infektionen durch. Da ist die Schnupfnase quasi Normalzustand.

SPIEGEL: Demnach müssten Sie ab Herbst bei jedem Kind durchschnittlich acht bis zehnmal einen Nasen-Rachen-Abstrich machen?

Rodens: Richtig, in meiner Praxis wären es wohl etwa 50 bis 60 Kinder jeden Tag, die wir testen müssten. Der totale Wahnsinn. Neben all den Infekten, die wir ohnehin im Herbst und Winter behandeln, haben wir ja auch noch einen Versorgungsauftrag: Wir impfen und machen Vorsorgeuntersuchungen, wir betreuen Kinder mit Entwicklungsstörungen und sind auch für soziale Fragen wichtige Ansprechpartner und Koordinatoren. Diese zentralen und wichtigen Bestandteile unserer Aufgaben würden völlig verdrängt werden. Ich habe Sorge, dass Kinder mit schweren anderen Krankheiten in dem Chaos untergehen.“

Ich habe den ganzen Artikel gelesen. Deswegen kann ich auch mit Sicherheit sagen: Kein Wort von zweiter Corona-Welle!!!

Den vollständigen Artikel kann ich aber nur lesen, weil ich Spiegel-Abonnentin bin. Die ganz überwiegende Mehrzahl der LeserInnen bekommt nur ein bisschen mehr als die Überschrift mit – und denkt sich ihren Teil.

Das nenne ich Realitätskonstruktion durch Lüge. Eine wirksame Realitätskonstruktion.

Nur als Fußnote zitiere ich die Überschrift: „Hiobsbotschaft für Carl Gustav. Die Coronakrise macht dem schwedischen Königshaus zu schaffen“ wie vermeldet wurde, als ich auf gmx.de ging – „Gala“ titelt anscheinend ähnlich. Und um was geht’s? Nicht um Erkrankungen im Familienumfeld, vielmehr: Die Einnahmen aus Eintrittskarten für die königlichen Schlösser etc. sind auf Grund der Corona-Krise stark gesunken. Dass das irgendwie der hierzulande genussvoll (so mein Eindruck) verbreiteten These widerspricht, die Schweden hätten in den letzten Monaten grad so drauflos gelebt als gäbe es kein Corona und hätten die Quittung für ihren Übermut bekommen – das fällt nicht weiter auf. Spielt auch keine Rolle.

 

Fall zwei: Donnerstag und Freitag vergangener Woche stieg die Zahl der Neuinfizierten mit Corona um über 700 bzw. über 800 Fälle. Das finde ich – nach permanent zurückgehenden Zahlen der letzten Wochen – jetzt auch alles andere als eine Petitesse. Wobei: 800 neue Fälle auf  83 Millionen…. Das sind Zahlen im unteren Promille-Bereich.

Und was passiert: Alarmismus aller Orten.

Die ‚zweite Welle ist schon da‘, sagt Sachsens Ministerpräsident Kretschmer

– und die Herren Lauterbach &Co stimmen ein. Jeder Psychologiestudent im 3. Semester könnte den Herren erklären, dass zwei Ausreißer überhaupt nichts über die Signifikanz sagen. Man muss das im Auge behalten – aber nicht mehr. Und siehe da: Am Samstag, 25.7. wurden 305 neue Fälle gemeldet. Doch keine New Wave?

Das Schlimme: Die Aufmerksamkeit wird fokussiert, wird auf einen kleinen, einen sehr kleinen Ausschnitt der Realität gelenkt. Und dieser kleine Ausschnitt wird als „die Realität“ wahrgenommen und entsprechend wird gehandelt.   

Dies erklärt, dass so vieles andere, so viel anderes, was mindestens genauso wichtig ist, nicht wahrgenommen wird. Die beträchtliche Zahl von HerzinfarktpatientInnen, die zu spät ins Krankenhaus gekommen, die große Zahl von verschobenen Krebsoperationen, die Zunahme an häuslicher Gewalt, die wirtschaftlichen Probleme, die sich weniger auf den Dax als auf die Seele vieler Menschen auswirken. Darüber habe ich schon geschrieben und wer seine Aufmerksamkeit weniger einengen will, hat Gelegenheit genug, sich zu informieren.

Wie verrückt diese Wahrnehmungseinschränkung ist, möchte ich nur an einer Meldung explizieren:

Am 20.7. meldete die Tagesschau (https://www.tagesschau.de/inland/lebenserwartung-deutschland-103.html):

Lebenserwartung in Deutschland  Im Süden lebt Mann länger – Frau auch

Und führt aus:

Die Lebenserwartung der Männer in Deutschland unterscheidet sich je nach Region um mehr als fünf Jahre. Bei Frauen sind es knapp vier Jahre. Gute Chancen richtig alt zu werden, hat man im Süden Bayerns und Baden-Württembergs.

In Deutschland ist die Lebenserwartung je nach Region sehr unterschiedlich. Das ist das Ergebnis einer Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Untersucht wurden 402 Landkreise und kreisfreie Städte.

Salzlandkreis vs. Starnberg

Dabei zeigte sich, dass Männer im Süden und Südwesten bis zu 5,4 Jahre älter wurden als im Norden und Osten der Bundesrepublik. Bei den Frauen gab es einen Unterschied von knapp vier Jahren. So würden Frauen im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt im Schnitt 81,8 Jahre alt. Dagegen könnten sich Frauen im Landkreis Starnberg südwestlich von München darüber freuen, durchschnittlich 85,7 Jahre alt zu werden.

Bremerhaven vs. München

Auch bei den Männern fanden die Forscher ein Nord-Süd-Gefälle: In Bremerhaven beträgt die Lebenserwartung der Männer der Studie zufolge im Schnitt nur 75,8 Jahre, im Landkreis München ist sie mit 81,2 Jahren am höchsten.

Ost-West-Unterschiede

Unterschiede gibt es der Studie zufolge auch zwischen Ost und West. Im Osten liegen mehr Landkreise mit niedriger Lebenserwartung als im übrigen Bundesgebiet. Aber auch im Ruhrgebiete zeigten sich Regionen, in denen die Bewohner im Schnitt früher sterben.

 

Es erfolgte kein Aufschrei! Man nimmt das hin. Als gegeben hin. Dabei geht es um eine Lebensverkürzung von Millionen. So ungefähr 40, 50 Millionen hierzulande.

Welch ein Aufschrei, wenn es wer wagte, darauf zu verweisen, dass an Corona überwiegend Menschen über 70 Jahre sterben! („Der Altersmedian der Sterbefälle lag bei 82 Jahren“, meldete das RKI am 22.7.)  Warum wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Denn der frühe Tod der Nord- und Ostländer ist ja mitnichten Schicksal – da kann man halt nix machen. Sondern die von der Tagesschau zitierte Untersuchung des Max-Planck-Instituts stellt fest:    

„Armut als Hauptursache

Bei der Suche nach den Ursachen wurde deutlich, dass offenbar die Arbeitslosenquote, bzw. der Anteil der Hartz-IV-Empfänger in der Bevölkerung einen starken Einfluss auf die Lebenserwartung haben. Oft genannte Faktoren wie das Durchschnitteinkommen, die Anzahl der Ärzte oder die Bevölkerungsdichte spielten dagegen keine so große Rolle wie angenommen.

Es zeige sich, so die Forscher, dass vor allem die Lebensbedingungen der Ärmeren verbessert werden müssten, um die Unterschiede zu reduzieren.“

Wen interessiert’s?

 

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