Ganz was Neues: Es darf diskutiert werden! „Optimaler Schutz vor Ansteckung“ oder „Reichen vielleicht auch fünf Tage Quarantäne?“

Mal wieder was aus der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene in St Gallen, genauer vom inzwischen emeritierten Professor Dr. med. Pietro Vernazza, den ich für seine unaufgeregten, abwägenden Stellungnahmen sehr schätze.

So dumm sind die Viren nicht, dass sie ihr eigenes Grab schaufeln

Der Artikel von Pietro Vernazza  „Legen wir oder Omicron die Wirtschaft lahm“ ist jetzt zwar schon 11 Tage alt (vorher bin ich nicht dazu gekommen, hier darauf aufmerksam zu machen) aber das ist vielleicht ein Vorteil: Inzwischen nähern sich selbst deutsche Virologen nach der üblichen Aufgeregtheit seiner Sicht vom 20.12. an: Eine Omikron-Ansteckung könnte milder verlaufen – und das macht aus der Sicht des Virus ja auch Sinn. Ein Virus, das die Leute reihenweise ins Bett wirft oder gar tötet, schaufelt sich selbst ein Grab. Und – wenn ich es recht verstehe: So dumm sind die Viren nicht. Oder etwas weniger anthropomorph ausgedrückt: Diejenige Mutante ist beim survival of the fittest am besten gerüstet, die möglichst schnell möglichst viele ansteckt… aber auch überleben lässt. Die andern teilen das Schicksal der Dinosauriere.

 

Wie intelligent ist eine 14-Tage-Quarantäne?

Der andere Punkt, den Prof. Vernazza anspricht ist inzwischen auch in deutschen Regierungskreisen angekommen und wird doch tatsächlich diskutiert: Das RKI will eine 14-Tage-Quarantäne bei Omikron-Diagnose. Hmmmm. Was passiert, wenn bei dieser „hochansteckenden“ Variante Krankenschwestern, Altenpfleger, Omnibus- und Lastwagenfahrer oder gar der einzige Sachbearbeiter beim RKI, der gerade nicht im wohlverdienten Weihnachtsurlaub ist, zwei Wochen in Quarantäne müssen? Das könnte zu Problemen ganz eigener Art führen.

Und so hört man aus Politikerkreisen die schüchterne Frage an „die Experten“: Reichen nicht auch fünf Tage Quarantäne? Selbst Politiker, von denen man ganz andere Töne gewöhnt sind, äußern sich entsprechend (Tagesschau vom 28.12.21):
„Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande die Omikron-Variante dominiert. Umso lauter werden nun die Rufe nach einer Verkürzung der Corona-Quarantäne. Sonst drohe das Land lahmgelegt zu werden, betonte CSU-Chef Söder.“
Wir dürfen gespannt sein.

Jetzt plötzlich: Es darf über „Verhältnismäßigkeit“ gesprochen werden

Ganz nebenbei: Das ist so ein Beispiel zu meinem Lieblings-Thema „Abwägung“ und „Verhältnismäßigkeit“. Jetzt plötzlich darf anscheinend abgewogen werden: Was ist wichtiger optimaler Schutz vor Ansteckung oder dass durch die einseitige Fixierung auf dieses Ziel, anderes den Bach runtergeht, was nicht minder wichtig ist. Was haben vor ein paar Monaten Leute für einen derart abwegigen Gedanken Prügel bezogen!

Ich hätte mir gewünscht, dass beispielsweise bei den Lockdowns genauso die Frage der Verhältnismäßigkeit hätte gestellt werden dürfen. Zum Beispiel:  Wieviel häusliche Gewalt insbesondere gegen Kinder und Frauen lässt sich als Folge der Corona-Abwehrmaßnahmen rechtfertigen? Wieviel absehbares Schulversagen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien ist hinzunehmen?

Dass die Benachteiligung von ohnehin bereits benachteiligten Kindern aus sozial schwachen Familien durch das euphemistisch so genannte Homeschooling genauso zunahm wie häusliche Gewalt (und gesundheitsschädliches Rauchen und Gewichtszunahme ebenso), ist inzwischen nicht mehr nur eine Vermutung, die man nach Belieben abtun kann, sondern recht gut belegt.

Aber auch ohne diese Belege: wer über ein bisschen Lebenserfahrung verfügte, für den war das absehbar. Es war nicht weniger absehbar, als jetzt absehbar ist, dass wir bei einer massenhaften Omikron-Ansteckung und 14-tägiger Quarantäne Probleme in allen möglichen Bereichen bekommen werden.

Prof. Dr. med. Vernazza: „Legen wir oder legt Omikron die Wirtschaft lahm?“

Zum Appetitmachen: Ein paar Zitate aus Prof. Dr. med. Vernazzas Artikel :

„Selektionsvorteil

Wenn ein neues Virus auf die Menschheit trifft, ist die Mensch-zu-Mensch Übertragung noch nicht optimiert. Wenn nun durch den Zufall der Mutation Viren entstehen, die besser übertragen werden, dann werden diese ihren Vorteil ausspielen. Wir sprechen dann von Selektionsvorteil. Diese neuen Mutanten erreichen vielleicht höhere Viruskonzentrationen oder binden besser an die Zielzelle. Genau das ist im Verlaufe der Evolution von Sars-CoV-2 geschehen. Die Beta- und Delta Varianten zeichnen sich dadurch aus, dass sie besser an der Zielzelle binden (ACE-2-Rezeptor) und dass sie bei der infizierten Person zu höheren Viruskonzentrationen in den Atemwegssekreten führen. Immer wieder hört man, dass man nicht wisse, ob die neuen Viren auch aggressiver verlaufen würden. Das ist natürlich richtig. Aber man könnte die Aussage auch noch ergänzen: Ein Virus, welches die infizierte Person im Nu ins Bett wirft, hat dadurch noch keinen Selektionsvorteil. Und ohne Selektionsvorteil müssen wir eigentlich auch nicht eine Mutation befürchten, welche den Menschen kränker macht. Im Gegenteil: Es gibt viele Arbeiten zur Influenza die zeigen, dass sich ein neues Virus eher in Richtung „milder“ verändert, als umgekehrt. Dies ist durchaus plausibel, denn am meisten wird das Virus an andere weiter gegeben, wenn der Träger fit ist. Denn krank im Bett bleibt man meist isoliert und kontaktarm.

Virus wird immer ansteckender

Somit ist nun erklärt, weshalb sich über die Monate neue Virusstämme (alpha, beta, gamma, delta…) entwickelt haben. Diese haben immer bessere Übertragungseigenschaften entwickelt, ohne schwerere Krankheitsbilder auszulösen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Fallzahlen sind in jeder Virus-„Welle“ (Alpha, Beta, Delta) immer höher, doch die Sterberate (Case fatality rate) aber immer geringer ausgefallen. Auch dieses Phänomen ist gut bekannt in der Evolution von Viren, die einen Speziessprung schaffen. Ein Virus wird somit immer ansteckender über die Zeit. Man könnte sogar vermuten, dass „social distancing“ Massnahmen letztendlich auch eine Selektion von Viren fördern, welche besser übertragbar sind. Doch dies bleibt eine Vermutung, eine noch zu prüfende Hypothese.

[…]

Weshalb machen wir 10 Tage Isolation?

Seit Beginn der Pandemie verschreiben wir allen infizierten Personen mit Covid-Diagnose eine mindestens 10-tägige Isolation, länger wenn die Symptome länger dauern. Die Idee dahinter war zu Beginn der Versuch, durch ein sogenanntes Containment die Ausbreitung der Infektion im Lande zu verhindern. Die wissenschaftliche Grundlage für diese 10-tägige Isolationsdauer ist dünn. Sehr dünn. […] Doch der wichtigste Grund, den die Fachpersonen vom BAG [Bundesamt für Gesundheit] als Einwand brachten war, dass man im angrenzenden Ausland auch eine 10-tägige Isolation mache.

Und wie machen wir das, wenn Omicron kommt?

[…] Heute erhält das Problem eine neue Dimension: Nach allem was wir von Südafrika und England hören, müssen wir mit sehr hohen Omikron Erkrankungszahlen innert weniger Wochen rechnen. Da die meisten hier geimpft oder genesen sind, werden diese Personen mit grösster Wahrscheinlichkeit eine sehr kurze und milde Erkrankung haben (Aussage noch nicht im Faktencheck geprüft). Aber meine grösste Sorge gilt nun der Arbeitswelt: Wenn nun das BAG an der 10-tägigen Isolationspflicht für Geimpfte und Genesene festhält, selbst dann, wenn die Symptome nach einem Tag abklingen, was nicht ungewöhnlich ist, dann könnte unsere Wirtschaft mehr unter der Omicron Welle leiden als unsere Spitäler. Wenn innert kurzer Zeit ganze Belegschaften für 10 Tage ausfallen, dann haben wir ein echtes Problem. Ein Problem, das wir selbst verursacht haben, nicht das Virus.“

  Ergänzung eines Lesers von infekt.ch [mit vielen Tabellen]:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen